Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Liest man Huysmans‘ rückblickendes Vorwort (1903) zu A rebours (1884), erkennt man sogleich die Frontstellungen, literarischen Schulen und Konstellationen, die die Autoren jeweils zu überwinden trachteten. Huysmans hebt diese Reliefs noch hervor. »Gegen den Strich«, das heißt auch: gegen die Literaturgeschichte, gegen bestimmte Strömungen. Aber da es heute keine solchen epochalen oder schulmäßigen Frontstellungen mehr gibt, erübrigen sich auch die Kämpfe dagegen. Von wem soll ich mich in meinem Werk denn abgrenzen? Von Elfriede Jelinek? Von … Ich wüßte wirklich nicht, von wem. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, keine hundert Jahre nach A rebours – wie nahe diese Daten jetzt beieinanderliegen, um 1980 kam mir Huysmans tief historisch vor – galt das noch: Experimentelle Literatur gegen (sozialistischen) Realismus, Neue Innerlichkeit gegen beide Fronten, dann noch einmal Rückkehr zur Sachlichkeit und zuletzt – Postmoderne, d. h. anything goes, Toleranz gegen alle und alles. Da stehen wir heute noch, in der Post-postmoderne. Das Präfix läßt sich beliebig oft wiederholen, wie ein Gestotter. Wenn alles geht, gibt es nichts zu erledigen.
A rebours, der Titel wurde – mit guten Gründen – auch mit »Wider die Natur« übersetzt (naheliegend: gegen den Naturalismus). Was mich an A rebours dann wieder abstößt – nein, zu scharf formuliert: was mich davon wieder wegzieht, ist das Thesenhafte. Denn A rebours ist ein Thesenroman. Der Autor illustriert erzählend-beschreibend seine These, daß Literatur und Kunst ihrer eigenen Künstlichkeit zu folgen haben und nicht – wie es Goethe seinerzeit forderte – der Natur. Kunst ist eine Art Anti-Natur, so Huysmans. Seltsam, aber ein ganz anderer Roman, den ich kürzlich gelesen habe, Soumission von Michel Houellebecq, ist ebenfalls ein Thesenroman. Gar nicht so seltsam, wenn man bedenkt, daß die Hauptfigur darin Literaturwissenschaftler ist und als solcher Huysmans-Spezialist. Stilistisch hat Houellebecq mit Huysmans wenig gemeinsam, und seine These ist keineswegs gegen die Literaturgeschichte gerichtet – in dieser Hinsicht ist Houellebecq mit seiner Balzac-Bewunderung ziemlich konservativ. Nein, die vom Roman zu illustrierende These betrifft die Gesellschaft und hat politischen Charakter: »Der Islam übernimmt die kulturelle Hegemonie«. Der gesamte Text ist auf diese These hin getrimmt. In meinem Verständnis – aber da bin ich Kafkaianer, nicht Thomas Mannianer, moi aussi j’ai choisi mon camp – in meinem Verständnis sollte man als Autor genau dieses Trimmen vermeiden, sich vielmehr ins Unbekannte treiben lassen. Der Schreibende sollte nicht zuviel wissen. Am besten: Gar nichts wissen; sein Wissen über Bord werfen.
Ich erinnere mich, wie Handke vor vielen Jahren einmal zu mir sagte: »Sie wissen zuviel.« Ich erschrak, fühlte mich plötzlich wie in einem Krimi. Einen Moment lang lautete die Botschaft an mich: Wir müssen Sie beseitigen. Das werden sie doch verstehen.