
Mit »Empathie und zugleich kritischer Distanz« habe sich der Biograph seinem Subjekt zu nähern, so Hans-Peter Schwarz im Epilog seiner politischen Biographie über Helmut Kohl. Der Leser hat dann bereits 940 eng gedruckte Seiten (zzgl. rd. 90 Seiten Annotationen) hinter sich gebracht. Schwarz’ Buch, das die Bereitschaft, sich auf das politische Leben Helmut Kohls en détail einzulassen, von seinem Leser mit einer konsequenten Radikalität abfordert, liegt einem zu diesem Zeitpunkt wie ein Kloß im Magen, obwohl es doch zunächst ein bekömmliches Gericht mit allenfalls gelegentlich überflüssiger Dekoration zu werden schien.
Dabei sind die Voraussetzungen ideal. Hans-Peter Schwarz, der als »der« Adenauer-Biograph gilt, basiert auf einer umfangreichen, komplexen Quellenlage. So konnten Sitzungsprotokolle eingesehen werden. Das Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad Adenauer-Stiftung und das Pendant der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU in München standen zur Verfügung. Aus dem Unternehmensarchiv der Axel Springer AG wird zitiert. Am wichtigsten: 250 Schlüsseldokumente zur Außen- und Europapolitik aus dem Archiv des Bundeskanzleramtes wurden für Schwarz freigegeben, was die Kanzlerschaft Kohls zwischen 1982 und 1998 beleuchtet und zum Teil überraschende Einblicke gewährt. Schwarz führte Gespräche mit rund vierzig politischen Wegbegleitern (um nur einige zu nennen: Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel, Volker Rühe, Bernhard Vogel, Walther Leisler Kiep), zitiert zum Teil aus deren Tagebüchern (oft unveröffentlichtes Material) und auch gelegentliche Mitteilungen Kohls an den Autor werden im Anmerkungsapparat vermerkt. Oft kombiniert Schwarz diese Informationen mit den zahlreich verfügbaren Memoiren und Erinnerungsbüchern der damaligen Protagonisten. All dies erzeugt bisweilen eine erstaunliche Echtzeitstimmung, die den Leser in den besten Momenten direkt an die Konferenztische führt. Man erfährt wie Kohl vorprescht, nachgibt, balanciert, antichambriert, taktiert aber auch tobt und lospoltert. So entsteht zuweilen ein multiperspektivisches Bild aus rund 50 Jahren bundesdeutscher und europäischer Politik.