
Die Dämme sind gebrochen, die Überzeugungsarbeit von Generationen von Literaten, Kritikern, Literaturwissenschaftlern und Lesern ist Makulatur. Die Versicherung, ja: Erkenntnis, dass das namenlose Erzähl-Ich eines Romans oder einer Erzählung nicht identisch ist mit dem Autor, der Autorin wird zusehends pulverisiert. Ende der 1970er Jahre vom französischen Schriftsteller und Literaturprofessor Serge Doubrovsky entdeckt und geprägt, begann es mit dem Genre der Autofiktion. Mit ihm wurde das im autobiographischen Schreiben vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Autor und Erzähl-Ich verschoben zu Gunsten der Lesart, dass das »Ich« (nahezu) identisch mit dem Autor ist. Der literarische Akt lag in der Ausgestaltung des Ereigneten. Beispielhaft für autofiktionales Schreibens ist die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Annie Ernaux. Ihrem letzten Buch Ein junger Mann stellte sie ihr Schreibgesetz voran: »Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.«
Anfangs begrüßte das Feuilleton diesen biographistischen Ansatz, weil es ihm die lästige Suche nach der Literarizität von Prosatexten ersparte. Man brauchte nur die Lebensdaten des Verfassers mit dem Geschriebenen zu vergleichen. Nach dem (nie wirklich relevanten) »Tod des Autors« begann die Dominanz der Verschmelzung zwischen Verfasser und Erzähler, die Herrschaft der Authentizität und des Plots. Die aktuelle Debatte um Identitäten verstärkt den Trend der Autofiktion, obwohl inzwischen längst die meisten Kritiker davon erschöpft sind.
Michel Houellebecq war bisher kein Autor autofiktionalen Schreibens. Zwar gab es vereinzelt Parallelen zwischen ihm und seinen Figuren (Literaturvorlieben oder gesellschaftspolitische Sichtweisen), aber niemand wäre ernsthaft auf die Idee gekommen, beispielsweise den Literaturprofessor François aus Unterwerfung als Alter ego Houellebecqs zu sehen. Mit seinem neuesten Buch mit dem harmlos anmutenden Titel Einige Monate in meinem Leben (Übersetzung von Stephan Kleiner) sieht das alles ganz anders aus. Houellebecq zerstört mit diesem Buch jegliche Distanz zwischen sich und dem Erzähl-Ich, zwischen den tatsächlichen Ereignissen und den Schilderungen im Buch. Er schreibt eine ultimative Nichtfiktion. Dass das Buch keine Genrebezeichnung trägt, ist nur konsequent. Der Untertitel lautet Oktober 2022 – März 2023. Aber ein Tagebuch oder Journal ist es auch nicht. Gegen Ende spricht er selber von einem »Bericht«; aufgeschrieben zwischen dem 31. März und dem 16. April 2023.