Transversale Reisen durch die Welt der Romane
In der poetologischen Korrespondenz Aus der Zukunft des Romans zwischen Olga Martynova und mir, zu der sich dann andere Autoren gesellten und die sich über fast zwei Jahre erstreckte, fragt Kurt Neumann, das ganze Konvolut überblickend, ob die Zukunft des Romans nicht eine minimalistische sei. In der Tat neigte vor allem Olga immer wieder zur Kürze; auch Anna Weidenholzer teilte am Ende mit, sie wolle künftig Erzählungen in der Art von Raymond Carver schreiben, und zitierte Hemingways berühmte Eisberg-Theorie: »Alles, was man eliminiert, macht den Eisberg nur noch stärker. Es liegt alles an dem Teil, der unsichtbar bleibt.« Sich aufs Wesentliche konzentrieren – sofern man weiß, was das Wesentliche ist. Bei mir selbst entspricht diese Tendenz meiner späten Entdeckung der kleinen Romane à la Modiano. Ich denke mir auch, daß wir auf schweres Gepäck künftig verzichten sollten, und in der Wirklichkeit reise ich genau so, nicht mal einen Reiseführer brauche ich, keinen Computer, nur ein Handy, für Hotelreservierungen. Und dann sollten wir vielleicht aufs Reisen überhaupt verzichten… Zu anstrengend, bringt die natürlichen Lebensabläufe durcheinander.
Andererseits schreiben bei weitem nicht alle Romanautoren minimalistisch. Hin und wieder gibt es gegengerichtete Strömungen, oder soll man sagen: Moden? »Achtung, die dicken Romane kommen!«, kündete – oder warnte? – Paul Jandl im Sommer 2018 in der neuen Zürcher Zeitung. Offensichtlich ein Artikel auf der Grundlage von Verlagskatalogen, die in vielen Fällen wohl die Lektüre der Bücher ersetzen. Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, von Philip Weiss, ist dabei, gut 1000 Seiten, eigentlich aber fünf Romane, und auch Schattenfroh, von Michael Lentz, ein Buch, das ich inzwischen – Sommer 2021 – gelesen habe, quergelesen, um ehrlich zu sein, der Roman spielt keineswegs, wie der irregeleitete Jandl meint, in China, sondern im Kopf des Autors, und der ist ziemlich weitläufig, weitläufiger als China.
Hinzu kommt, und das ist jetzt wirklich peinlich, daß ich als Autor trotz neuer Vorlieben als Leser immer noch so schreibe, wie ich es vor einem Vierteljahrhundert zu rechtfertigen suchte, indem ich einen manifestartigen Text verfaßte: Für eine barocke Literatur! Unter »barock« faßte ich Eigenschaften wie ausufernd, schweifend, wuchernd, verschnörkelt, vieldimensional, lang-weilig (im Adalbert Stifterschen Sinn) zusammen – alles, was die stramme deutsche Literaturkritik seit dem Ende des letzten Weltkriegs verpönt. So schreibe ich veraltet in die Zukunft hinein… Peter Handke hat ja auch solche Bücher gemacht, nur hatte er nichts mit dem Barock am Hut, hat vielmehr seine Epen an fast schon prähistorische Zeiten anschließen wollen: Gottfried von Straßburg wurde zum Schutzheiligen ernannt. Bei manchen Autoren ist das Neobarock eine Alterserscheinung, die Konzentrationskraft scheint ihnen abhandengekommen, ein biologischer Vorgang. Junger Autor = Gedichte, rasante Erzählungen; alter Autor = behäbig ausufernde Romane.