Wel­ten und Zei­ten IX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Das Prot­e­i­sche bei Yo­ko Ta­wa­da. Stän­di­ge Ver­wand­lung. Aber bei ihr er­ge­ben sich im­mer wie­der neue Ge­schich­ten, es ist kein Zer­fled­dern und Zer­hacken von vor­lie­gen­dem hi­sto­ri­schem oder bio­gra­phi­schem Ma­te­ri­al. »Das Bett ver­wan­delt sich in ei­nen Schlit­ten, der von schwar­zen Rat­ten durch ei­ne Wü­ste ge­zo­gen wur­de. Den Rat­ten wuch­sen Flü­gel. Sie wur­den zu Fle­der­mäu­sen.« (Das Bad) Das ist na­tür­lich ein biß­chen gar zu flott, aber so er­ge­ben sich bei ihr die Ge­schich­ten, ei­ne aus der an­de­ren.

Die Mul­ti­per­spek­ti­vik des Ge­sell­schafts­ro­mans. Im­mer wie­der führt ei­nen der Er­zäh­ler oder die Er­zäh­lung zu ei­ner an­de­ren Fi­gur, ei­ner an­de­ren Grup­pe, ei­nem an­de­ren Haus. Wie es Tol­stoi so groß­ar­tig vor­ge­macht hat. Be­äng­sti­gend groß­ar­tig, wenn man dar­an denkt, wie der Ro­man ge­macht ist. Frei­lich, als Le­ser soll­ten wir uns ein­fach der Lek­tü­re über­las­sen, die uns hier- und dort­hin führt. Wir sind an vie­len Or­ten gleich­zei­tig, das heißt na­tür­lich nach­ein­an­der, trotz­dem mit dem Ein­druck der Gleich­zei­tig­keit.

Es ist das Ge­gen­teil des Ich-Ro­mans und al­ler zen­trie­ren­den (ego­zen­tri­schen) Er­zäh­lun­gen, ob in er­ster oder drit­ter oder hun­dert­ster Per­son. Schat­ten­froh, ob­wohl so um­fang­reich, ist Ich-Ich-Ich, die Welt mit­samt ih­ren Pro­ble­men ein Ich-Ab­klatsch. Und ich, mein klei­nes be­schei­de­nes Ich, hat die­sel­be Ten­denz. Ei­nen Ro­man kann ich bis­her nur in die­ser, wie mir scheint, »na­tür­li­chen« (?) Ich-Form schrei­ben. Wenn wir le­ben – so­gar wenn wir schla­fen und träu­men und nach in­nen schau­en –, schau­en wir doch un­wei­ger­lich aus un­se­rem Ich-Fen­ster und kei­nem an­de­ren Fen­ster her­aus. Gut, wir kön­nen uns in an­de­re hin­ein­ver­set­zen, und in Er­zäh­lun­gen tue ich das gern und weid­lich, aber der Ro­man soll­te doch das Le­ben, wie es ist, ab- oder um- oder neu- oder sonst­wie bil­den. Das Le­ben im Ich-Haus mit Blick ins Of­fe­ne – aber un­wei­ger­lich durch das Ich-Fen­ster, mit den ent­spre­chen­den Per­spek­ti­ven und Tö­nun­gen und Ein­schrän­kun­gen.

Ein­wand: Li­te­ra­tur, ins­be­son­de­re ih­re Kö­nigs­dis­zi­plin, ist eben nicht Wie­der­ho­lung von Le­ben. Ist nicht »Ab­bil­dung« oder was im­mer hier an ver­al­te­ten Be­grif­fen her­an­drängt. Wer schreibt, muß sich erst ein­mal – und bis zu­letzt – von sich di­stan­zie­ren. Muß Ab­stand neh­men. Ein an­de­rer wer­den. Vie­le an­de­re. Muß sei­nen Näch­sten ver­ste­hen und auch sei­nen Fern­sten, sei­nen schlimm­sten Feind. Li­te­ra­tur ist per se Ver­wand­lung, al­so prot­e­isch. Nicht Iden­ti­täts­fi­xie­rung. Nicht ein­mal Iden­ti­täts­su­che. Wo­zu Iden­ti­tät su­chen? Man hat sie so­wie­so, sie bleibt dir ein­ge­brannt. Die Kunst be­steht eher dar­in, sie los­zu­wer­den.

Al­so Ich-Ro­man? Ge­sell­schafts­ro­man?

Wie­der­mal bei­des. Das ewi­ge Hin und Her. Auf die Span­nung kommt es an. Geh aus, mein Herz, und su­che Freud: Wo Er, Sie, Es und Wir war, soll Ich wer­den. Und um­ge­kehrt.

Wei­ter­le­sen ...