Ro­man Ehr­lich: Das kal­te Jahr

Roman Ehrlich: Das kalte Jahr

Ro­man Ehr­lich: Das kal­te Jahr

Wenn man den Sound der Le­sung zum Bach­mann­preis Mit­te Ju­ni noch im Ohr und Kopf hat, dann gibt es jetzt bei der Lek­tü­re von Ro­mans Ehr­lichs Ro­man »Das kal­te Jahr« lau­ter klei­ne ein Dé­jà-vu-Er­leb­nis­se. Tat­säch­lich be­steht der Text, den Ehr­lich in Kla­gen­furt vor­ge­le­sen hat­te, aus sechs ver­schie­de­nen Stel­len im Buch (die Sei­ten 91–94, 100f, 24f, 112–114, 97, 127ff), die ge­schickt mon­tiert wur­den. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler lebt im Haus sei­ner El­tern in ei­nem nicht nä­her be­zeich­ne­ten Kü­sten­ort. Dort wohnt über­ra­schen­der­wei­se wie selbst­ver­ständ­lich ein ihm un­be­kann­tes (et­wa 12jähriges) Kind mit dem Na­men Ri­chard. Die ent­schei­den­den Fra­gen (Wo sind die El­tern? Was macht er in dem Haus?) blei­ben aus ei­ner Art Rück­sichtnahme ge­gen­über dem Kind un­be­ant­wor­tet; Ri­chard wird be­reits bei An­deu­tun­gen ner­vös. Der Ort zeich­net sich durch ei­ne durch­drin­gen­de, dau­er­haf­te Käl­te mit zu­meist ex­zes­si­vem Schnee­fall aus. Das Ta­ges­licht ist nur ei­ne et­was hel­le­re Däm­me­rung. Le­bens­mit­tel­punkt im Haus ist ein Ofen, der mit Holt ge­heizt wird. Um Geld zu ver­die­nen, be­gibt sich der Er­zäh­ler in die Elektro­werkstatt des Or­tes. Pro­blem­los wird er ein­ge­stellt und da­mit be­auf­tragt, aus den aus dem Äther ge­fisch­ten Fern­seh­si­gna­len (schlech­tes Bild; kaum Ton) ein Pro­gramm aufzuzeich­nen und zu­sam­men­zu­stel­len, das sich die Be­woh­ner am näch­sten Tag ge­gen ei­ne ge­rin­ge Ge­bühr auf Kas­set­te an­se­hen kön­nen. Abends trägt der Er­zäh­ler Ri­chard Ge­schich­ten vor. Es sind Ge­schich­ten von Na­tur­ka­ta­stro­phen, Ver­bre­chen, Hin­rich­tun­gen oder ein­fach nur Schick­sa­len, ins­be­son­de­re aus dem 19. oder 20. Jahr­hun­dert aus den USA.

Et­li­ches bleibt dif­fus. So gibt es kei­ne Hin­wei­se auf die Zeit. Und war­um der Ich-Er­zäh­ler zu An­fang des Bu­ches zu Fuß zum Haus sei­ner El­tern auf­bricht, er­fährt man auch nicht. Der Le­ser bleibt hier dau­er­haft (und vom Au­tor durch­aus be­ab­sich­tigt) hin­ter dem Wis­sens­stand des Er­zäh­lers zu­rück. Die ex­tre­me Käl­te, die an Schil­de­run­gen von der Ant­ark­tis er­in­nert und mit Bil­dern ei­ner Smog-Stadt kom­bi­niert wer­den, ist eben­falls in Fak­tum, wel­ches oh­ne Er­läu­te­rung bleibt. Da­bei darf der Le­ser den zwei­sei­ti­gen Pro­log nicht ver­ges­sen, in dem von ei­ner auf­kom­men­den Wär­me­pe­ri­ode die Re­de ist; das Wet­ter hat sich al­so ir­gend­wann ge­än­dert. Die Stadt hat noch zu­sätz­lich ein to­po­gra­fi­sches Pro­blem: Sie war ein ehe­ma­li­ger Mi­li­tär­stand­ort war, der schein­bar nicht von al­len Waf­fen ge­räumt wur­de. Ei­ne elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on wie bei­spiels­wei­se das Te­le­fon gibt es nicht und wird auch nicht ver­misst; die Men­schen kom­mu­ni­zie­ren schein­bar nur in­ner­halb ih­rer Stadt und dies per­sön­lich. Nur der Elek­tro­händ­ler kann auf ei­ner Emp­fangs­an­la­ge Fern­seh­si­gna­le auf­fan­gen; er ver­wen­det da­für al­te Röh­ren­fern­se­her, die er be­hal­ten hat­te. Ge­heim­nis­voll blei­ben fast bis zum Schluss die Werk­stücke, die Ri­chard im ver­bor­ge­nen (und mit der Dis­kre­ti­on des Er­zäh­lers rech­nend) fer­tigt. Schein­bar in ei­ner Zu­kunft spie­lend, liest sich »Das kal­te Jahr« stel­len­wei­se wie ein auf­ge­fun­de­nes und sorg­sam edi­tier­tes Ta­ge­buch (frei­lich oh­ne ex­ak­te Da­tie­run­gen), was durch die (be­wusst un­scharfen) Bil­der und Fo­to­gra­fien, die so­wohl ei­ni­ge der Phä­no­me­ne, die die be­tei­lig­ten Per­so­nen er­le­ben als auch die Ge­schich­ten, die Ri­chard er­zählt wer­den, kon­ge­ni­al il­lu­strie­ren.

Ehr­lich ver­steht es zu­nächst, ei­ne schwe­len­de Span­nung trotz ei­nes eher gleich­mä­ßi­gen, be­schrei­ben­den Er­zähl­flus­ses zu er­hal­ten. Die Spra­che ist fast im­mer un­spek­ta­ku­lär, die Phä­no­me­ne wer­den oft wie in ei­ner Re­por­ta­ge be­rich­tet. Deut­lich merkt man die Plot-Kon­struk­ti­on, mit mög­lichst de­zen­ten, klei­nen Fähr­ten und Ef­fek­ten ei­ne ge­wis­se Auf­merksamkeit zu kon­ser­vie­ren. Auch er­schei­nen am Ho­ri­zont ei­ni­ge Vor­bil­der – ein biss­chen Poe und ei­ne Pri­se Kaf­ka, et­was vom jun­gen Hand­ke, viel­leicht auch Wer­ner Her­zog (der Marsch zu Be­ginn) bis Leif Randts Co­by-Coun­try-Dunst. Aber ir­gend­wann wird der Le­ser un­ge­dul­dig, stört sich ob der vie­len ver­meint­lich Be­deu­tungs­hu­be­rei und fragt sich, wann die­ses som­nam­bu­le, fast kam­mer­spiel­ar­ti­ge End­zeit­ge­plät­scher be­en­det wird und sich ent­we­der zum Thril­ler oder we­nig­stens zur Dys­to­pie ent­wickeln mag (es muss ja nicht gleich Po­li­tycki sein). Was als kur­ze Er­zäh­lung und Wett­be­werbs­bei­trag zum Bach­mann­preis auf­grund des la­ko­ni­schen Sounds noch glückt und ei­ne ge­wis­se Neu­gier er­zeugt, ist auf mehr als 200 Sei­ten nur noch ein ad­di­ti­ves Al­le­go­rie-Ra­te­spiel oh­ne Tie­fe und oh­ne Spra­che. Ein­mal sieht der Er­zäh­ler Ri­chard al­te Kreuz­wort­rät­sel aus­fül­len – in­dem er die Käst­chen aus­malt. Das ist ein biss­chen po­le­misch aus­ge­drückt das Prin­zip die­ses Bu­ches. Und oh­ne den Schluss auch nur an­satz­wei­se zu ver­ra­ten: Lei­der ist Ro­man Ehr­lichs »Das kal­te Jahr« ei­ne ziem­li­che Ent­täu­schung.