Das Netz und alle damit verbundenen Phänomene lassen sich nicht nur unaufgeregter, sondern auch besser verstehen, wenn man zwei (ansonsten eigentlich übliche) Annahmen trifft: Erstens: Das Netz gibt es nicht, allenfalls als Vereinfachung und Abstraktion, es ist ein Medium über das Individuen miteinander interagieren und kommunizieren, und damit vielfältig, wie die Welt selbst, auch wenn es nur einen Teil derselben darstellt oder repräsentiert. Zweitens: Alle die daran teilhaben, es gestalten oder konsumieren, sind Menschen und bringen grundsätzlich jene Motive, Handlungen oder Verhaltensweisen mit, die sie aus ihrem Alltag gewohnt sind; deshalb sollten alle Phänomene des Netzes zunächst einmal dahingehend betrachtet werden, ob sie auch in der Welt außerhalb des Netzes beobachtbar sind. Das schließt nicht aus, dass dieses Medium spezifische Probleme oder Phänomene hervorbringt, fördert oder filtert: Genügen die bekannten Erklärungen nicht mehr, dann müssen neue gefunden und begründet werden, die dann mit dem Medium selbst zusammenhängen, es kennzeichnen und als typisch anzusehen wären.
Eine solche Vorgangsweise verhindert Vorurteile und unzulässig verallgemeinerte Ansichten über das Netz wie jeden anderen Gegenstand einer Betrachtung und stellt letztlich auch sicher, dass die eigenen Thesen gewendet, geprüft und befragt werden (in diesem Fall auf die Welt jenseits des Netzes hin). Was passiert, wenn dies nicht getan wird, konnte man unlängst in der SZ lesen. Alexandra Borchardt, Autorin des Artikels »Demokratie im Netz. So ein Schwarm kann ziemlich dumm sein«, begab sich auf eine beinahe faszinierende Einbahnfahrt, während der sie alle möglichen, vermeintlichen und negativen Charakteristika des Netzes aufzählt und kurz »abhandelt«; dabei entsteht ein Zerrbild, weil nicht weiter gefragt oder differenziert wird, ob die genannten Phänomene, nicht auf alle (oder wenigstens zahlreiche) menschliche Tätigkeiten oder den Menschen selbst, zutreffen; es wird gerne und häufig (etwa zehnmal) »das Netz« geschrieben.
Es beginnt dramatisch: In Bezugnahme auf einen, angeblich durch Cybermobbying verursachten Selbstmord, wird die Bedrohung durch Anonymität und Atomisierung artikuliert: [Sie lassen] in der digitalen Welt nicht nur die Menschenwürde, sondern [...] die Verantwortung eines jeden Einzelnen dafür, die Würde seiner Mitmenschen zu respektieren, unter neuen Voraussetzungen erscheinen. Dann folgt auf ein seltsam verzerrtes Einerseits – die Möglichkeiten des Netzes um zu Prominenz zu kommen, Daten zu verbreiten oder seine Meinung als »shitstorm« zu vervielfachen, werden erwähnt –, das wohlweislich auf die oben beschriebene Frage (Gegenüberstellung von Welt und Netz) verzichtet, man könnte als Gegenbeispiel das berühmt-berüchtigte Diktum des Stammtisches anführen, ein schwer wiegendes Andererseits:
Denn das Internet befreit die darin Handelnden von den Konsequenzen ihres eigenen Tuns, wenn sie in der Masse untergehen oder Ursache und Wirkung wegen Tausender dazwischen liegender Klicks nicht mehr zusammenhängen. [...] Und wer zahlt für die Folgen versehentlich einberufener Facebook-Partys? Wer erstattet den Schaden, wenn Unternehmen Opfer einer unberechtigten (vielleicht vom Konkurrenten lancierten?) Kampagne werden? Wer therapiert den Menschen, der – wie in Emden geschehen – in falschen Mordverdacht gerät? Eigentlich hätte die Autorin bemerken müssen wie sie hier »argumentiert«: Der Mensch kann freilich auch außerhalb des Netzes in der Masse untergehen, das kann jeder erkennen, er muss nur in eine voll besetze U‑Bahn steigen oder ein Fußballstadion besuchen. — Auf die plakativen Beispiele aus der Geschichte verzichte ich, sie sind hinlänglich bekannt. Zu klären wäre, welchen speziellen Einfluss das Netz hat oder was es an den bekannten Phänomenen verändert, was unterbleibt. So ist es nur logisch, dass tatsächlich neue Bedrohungen, wie die Angriffe von anonymen Hackern, erst gar nicht angesprochen werden.
Ob Phänomene im Netz unser Rechtssystem oder unsere Bürgerrechte in Frage stellen, wie anschließend behauptet, müsste man genauer erörtern: Welche Rechte sind eigentlich gemeint? Werden sie anders als bei ähnlichen Phänomenen jenseits des Netzes in Frage gestellt? Passiert das nicht zwangsläufig bei allen Phänomenen die mit Massen zu tun haben? Ist bei einer Massenpanik, einer Massenschlägerei, einer Demonstration, einer Eskalation immer eine Ursache oder ein Schuldiger auszumachen? Um auf das Beispiel mit den Klicks zurückzukommen: Demagogen und Populisten, fehlerhafte Berichterstattung, suggestive Formulierungen, all das gibt es jenseits des Netzes und lässt sich hier der Schuldige immer genau benennen? Es wäre wiederum zu analysieren inwieweit das Netz eine Sonderrolle spielt und tatsächlich neuartige Phänomene hervorbringt (oder verstärkt), ansonsten müsste man damit umgehen, wie man es bislang tat.
Das Beispiel des »shitsorms« (etwa eine Twitter-Botschaft) muss gleich für zweierlei herhalten: Einerseits unterstreicht er die (angebliche) Ich-Mentalität des Netzes, andererseits ist er ein Beispiel für eine eventuell ungerechtfertigte Kampagne, die durch Verlinkungen, Multiplikatoren und »dazwischen liegende Klicks« gar keine benennbare Ursache hat. Zugegebenermaßen offenbart das Netz an etlichen Stellen einen Ich-Charakter, aber dieser hängt in erster Linie mit der Verfassung des Menschen und der Betonung seiner Individualität zusammen (ausgehend von den „westlichen“ Gesellschaften). Daneben gibt es aber zahlreiche Beispiele für gemeinschaftliche Projekte (woran das Wort Schwarm erinnert) oder Entwicklungen die der Allgemeinheit zur Veränderung zur Verfügung gestellt werden, z.B. Open culture, freie Software wie TeX, Linux, Apache OpenOffice und, anscheinend ist auch dieses notwendig: Wikipedia. Von newsgroups, Foren und vielen anderen Dingen, ist da noch gar nicht die Rede. Und auch das Auslösen eines »shitstorms« hat seine Bedingungen: Auf die notwendige Verstärkung muss man hoffen, man kann sie nicht erzwingen.
Natürlich darf die Urheberrechtsdiskussion nicht fehlen, auch die Krise des Subjekts nicht, selbst wenn beide gerade erwähnt werden; dann klingt erneut das Thema Demokratie an: Riskant für die Demokratie ist ferner, dass bei Beteiligungsprozessen über das Netz das Grundprinzip »one person, one vote« seine Geltung verliert. Was nach den Stimmen der Vielen aussieht, kann sich als ein lauter Chor der Wenigen erweisen. Politiker überrascht es immer wieder, dass bei Bürgerentscheiden oder Wahlen, in denen jede Stimme das gleiche Gewicht hat, die wirkliche Mehrheit weit weg von der gefühlten Mehrheit liegt.
Nun weiß man nicht, ob man noch lachen oder schon weinen soll: Als ob das nicht in den klassischen Medien oder durch Lobbying, durch Werbe- oder Nachrichtenagenturen nicht immer schon so war, und ob das Netz hier, im Gegenteil, nicht auch ein wichtiges Korrektiv darstellt. Ansonsten zählt, im Zweifelsfall, nein: immer, das Argument, dazu muss man nicht wissen wie viele hinter einer Meinung stehen, man prüft einfach, was sie wert ist. Natürlich, wer immer nur den Massen folgt, sich nach der bloßen Anzahl an Klicks richtet, aber, das ist es ja: Er tut das nicht nur im Netz. Abgesehen davon: Ist nicht gerade dieses Verhalten im Netz immer wieder thematisiert worden? Auch bewussten Manipulationen durch »halböffentliche« Äußerungen, angeblich im Zunehmen begriffen, kommt man auf dieselbe Weise bei: Man prüft die Argumentation (und wenn es sich bloß um Twitterbotschaften handelt relativiert sich das ohnehin). Und nebenbei bemerkt, finden sich nicht, gerade im Segment des qualitativen Journalismus, sehr ähnliche Phänomene?
Wie die Bevölkerung im Netz repräsentiert ist und ob privilegierte Schichten besondern Nutzen und wenige großen Einfluss haben, ist interessant und diskutierenswert, allerdings war auch das immer so, nicht zuletzt in den klassischen Medien (was, selbstverständlich keine Rechtfertigung für irgendwelche Zustände sein soll). Am Ende stößt man dann auf die üblichen Klagen: Neben den Prinzipien Verantwortung und Repräsentation hebelt die digitale Welt auch Kontrollinstanzen aus. [...] Der Händler selektiert und kontrolliert die Qualität. Und sind Sender und Empfänger stets einander direkt ausgeliefert, wird der Empfänger von der Flut der Informationen erdrückt. Händler meint hier auch den Journalisten, auf welche das, man mag es kaum glauben, nicht zutreffen soll (der Eindruck ist oft ein anderer). Trotzdem: Auch das ist wieder ein interessanter Punkt, wie die Themen Entpolitisierung und weitestgehende Transparenz, aber auch sie werden nur in den allgemeinen Duktus eingereiht und nicht ernsthaft erörtert. Über Dezentralisierung, Globalisierung und autoritäre Regime gelangt die Autorin zu der Schlussfolgerung, dass die demokratischen Institutionen den digitalen Raum zurückerobern müssen. — Als ob sie ihn verloren und demokratische Institutionen irgendetwas zu erobern hätten.
Das Fatale des vorliegenden Artikels ist, dass er eine Vielzahl von (interessanten und auch teilweise berechtigten) Themen und Problemen anreißt, aber keine Diskussion wagt, sondern daraus in Summe eine Gefährdung der Demokratie konstruiert, ohne die Probleme in den ihnen gebührenden Rahmen zu setzen und die Anteile und Spezifika des Netzes zu konkretisieren, und ohne zu fragen wie weit das Netz die Realität immer auch abbildet; damit suggeriert er ein einseitig negatives und damit verzerrtes Bild des Netzes. Warum das so ist? Viellicht gibt Martin Walsers Diktum Aufschluss: Man lässt ja nur das drinnen, was man befördern will. Möglicherweise verhält es sich auch anders und sehr wahrscheinlich werden wir es nie erfahren.
* * *
Alle kursiv gesetzten Stellen entstammen dem Artikel Demokratie im Netz. So ein Schwarm kann ziemlich dumm sein.
Der SZ-Artikel ist – wie so vieles, was über das Phänomen der neuen Kommunikationen geschrieben wird – per se schon ein Lobbyartikel. Die Konstruktion der Demokratiegefährdung ist dabei ein gängiges und gerne verwendetes rhetorisches Mittel. Mit der Beschwörung des Rückfalls in eine finstere Zeit spielt zum Teil ja auch Schirrmacher in der FAS.
Unzweifelhaft ist richtig, dass die Geschwindigkeit mit der Gerüchte und Denunziationen weiterverbreitet, multipliziert werden können, gewachsen ist und zum Teil bedrohliche Ausmaße erreicht. Aber niemand würde beispielsweise bei den Gefahren, die von einem Buch oder einem Film ausgehen könnten, das Medium an sich infrage stellen. Aber genau dies geschieht hier: Statt die Hintergründe von »shitstorms« zu untersuchen (beispielsweise die soziale Verwahrlosung derjenigen, die in Windeseile solche Diffamierungswellen auslösen können), wird das Medium pauschal in die Haftung genommen. Und was ist eigentlich mit den »shitstorms« der Massenmedien, jener Kleinhaltungsstrategie jegliche abseitige Meinung, die dann und wann doch noch unter oder neben das Mäuerchen der Deutungshoheiten hervorlugt, in kollektivem Schreibrausch niederzukartätschen?
Frau Borchardt scheint dies zu leugnen oder nicht zu kennen; beides wäre fahrlässig. Stattdessen singt sie noch – vermutlich ohne sich zu schämen – das hehre Lied des »Händlers« der Qualität, des »Gatekeepers«, als würde nicht geradezu jedes Thema von diesen »Händlern« in unsäglicher Weise verkürzt, gerafft, reduziert, nach persönlichen Sympathien und Antipathien gewichtet – und damit am Ende bis zur Unkenntlichkeit herummanipuliert.
Manchmal wünschte ich mir ja direkt einen solchen »Gatekeeper«, einen Gewichter, der mir die überflüssigen »Informationen« (es sind ja meistens keine) vom Hals schafft. Da stimmt bei der US-Präsidentenwahl ein Zehn-Menschen-Kaff 5:5 ab und drei Stunden ist dies der Aufhänger auf einem deutschen Nachrichtenportal. Da gibt es Bus‑, Flugzeug- oder Zugunglücke in Indien, China oder Bangladesch und ich bekomme die Bilder zu sehen, die mich weder etwas angehen, noch mich interessieren sollten. Da gibt es Medien, die über die sexuelle Präferenz von Ministern spekulieren und sich dann darüber aufregen, wenn Blogs, sensationslüstern wie jene, die sich als seriös gebärden, noch intimere Fragen stellen. Wo ist da der »Händler« der Qualität? Nirgends.
Hinter jedem »shitstorm« stehen eben Arschlöcher. Insofern ist diese Bezeichnung auch decouvrierend. Aber der »shitstorm« (ich verwende dieses Wort hier ein letztes Mal) ist keine Erfindung der neuen Medien. Früher nannte man das Kampagne; man kennt es von diversen Presseorganen zur Genüge. (Es lief und läuft nur etwas professioneller, suggestiver; mit weniger Schaum vor dem Mund.)
Die Jammerei ist deshalb so laut, weil sich Journalisten in ihren Grundfesten erschüttert fühlen. Sie machen jetzt das durch, was viele Berufsgruppen in den letzten Jahrzehnten erfahren haben. Oder, genauer: Was Menschen erfahren mussten, die plötzlich bemerkten, einen »falschen« Beruf erlernt und ausgeübt zu haben. Darüber haben sie in netten Fotoartikeln berichtet; manche mehr, manche weniger. Und manche vielleicht mit ein bisschen mehr Engagement. Jetzt stellen sie fest: Sie müssen sich ändern. Sie müssen ihr Berufsbild, ihre Aufgaben, neu definieren, wenn sie nicht in die Nische verschwinden wollen, wie man heute in abseitigen Stadtteilen noch einen Uhrmacher oder einen richtigen Schuster findet (der dann nur noch dreimal die Woche geöffnet hat).
Ich bin weit davon entfernt, die Entwicklungen der neuen Kommunikationsmedien zu bejubeln. Aber ich kann dieses larmoyante Geschreibe von Leuten nicht mehr ertragen, die glauben, man brauche nur überreich die Untergangsrhetorik zu bedienen, um ihre kümmerlichen Jobs zu retten.