Kürzlich erhielt ich eine Mail von einem leidlich bekannten österreichischen Publizisten und Kritiker, der mich für einen Wettbewerb des österreichischen Außenministeriums als »Widerpart« gewinnen wollte. Die Ausschreibung steht unter dem Motto: »Warum braucht Demokratie Literatur? Die Rolle der Kunst in Krisenzeiten.« Jeder teilnehmende Österreicher soll im Team mit einem Ausländer ihre jeweiligen »Projekte« über den Zusammenhang von Demokratie und Literatur vorstellen. Vermutlich sind Präsentationen, Workshops oder Seminare gemeint, die der Tendenz der (suggestiven) Frage des Wettbewerbs entsprechen.
Aus mehrfachen Gründen bin ich natürlich dafür der falsche. Zum einen habe ich überhaupt kein »Projekt«, Ich möchte kein Ziel erreichen, möchte niemanden überzeugen beispielsweise mehr zu lesen, oder, vermutlich wäre das noch besser, »das Richtige« zu lesen oder »das Falsche« zu meiden. Ich habe also keine Mission, bin, im wörtlichen Sinn, ein Idiot, ein Privatmann. Das ist der technische Einwand, der eigentlich jede weitere Diskussion beendet.
Ein zweite Einwand wäre grundsätzlicher Natur. Die Frage lautet nicht etwa »Warum braucht die Literatur Demokratie?« Das wäre auch töricht (siehe unten). Es geht um anderes. Genauer hingesehen ist »Warum braucht die Demokratie Literatur?« keine Frage, sondern impliziert bereits die Antwort. Es ist eine dogmatische Prämisse. Ein Zweifel ist nicht vorgesehen. Das löst bei mir Unbehagen aus.
Literatur wird damit heruntergebrochen zu einem politisch-gesellschaftlichen Zweck. Sie habe, so der Subtext, der Demokratie zu dienen. Dabei wird »Demokratie« gar nicht erst definiert. Welche ist gemeint? Die Demokratie wie etwa in der Schweiz, in der Volksentscheide das politische Handeln stetig mitbestimmen? In Deutschland lehnt man dies ab (außer man weiß das Ergebnis einer Umfrage auf seiner Seite zu haben). Oder ist eine repräsentative Demokratie gemeint mit ihren unterschiedlichen Wahlsystemen, die im Eifer, alle irgendwie zu berücksichtigen, verzerrende Ergebnisse liefern? Vielleicht aber auch jene seltsame Konstruktion wie die Europäische Union, in der viele Rechtswissenschaftler längst große Demokratiedefizite ausgemacht haben, was die Adepten der EU geflissentlich ignorieren. Stillschweigend wird davon ausgegangen, dass wir uns in einem gesellschaftlichen und politischen Idealzustand befinden. Literatur soll also die nicht näher definierte »Demokratie« affirmativ behandeln und die bedrohliche Empfindung, »dass immer weniger Menschen daran glauben, an politisch-gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen teilhaben zu können« (so im Ausschreibungstext), zerstreuen helfen. (Auf die Idee, die Gestaltungsprozesse zu erweitern, kommt man nicht, aber das wäre auch keine genuin literarische Ambition.)
Erinnerungen kommen auf an den Parolendschungel der DDR. In verschiedenen Schüben wurde dort einst in der bildenden Kunst, im Film aber auch in der Literatur der sogenannte »sozialistische Realismus« propagiert und gefördert. Die Bezeichnung war der reine Hohn, denn es wurde nie ein »Realismus« gezeigt, sondern die Losungen der Mächtigen antizipiert, wie etwa dieser gespielte Zukunftsoptimismus, der sich in einer Planwirtschaft niederschlug oder der futuristische Internationalismus, gespiegelt in der angeblichen unverbrüchlichen Freundschaft zur Sowjetunion. All das sollte den Bürgern mit Mitteln der Kunst als alternativlos nahegebracht werden. Es war nichts anderes als eine gigantische Kitschmaschine, die da angeworfen wurde. Heute werden Romane dieses sozialistischen Utopismus höchstens noch als abschreckende Modelle von Literaturwissenschaftlern behandelt.
Diese Besatzung der Literatur durch die Politik führte dazu, dass einige Autoren der DDR ihre Kritik mit Bildern, Metaphern und Allegorien tarnten. Sie verweigerten sich der Doktrin, allerdings nicht offensiv und aktivistisch. Stattdessen loteten sie die Grenzen aus, die ihnen die Zensur ließ. Dabei kamen bisweilen selbst jene, die die Ziele der DDR eigentlich bejahten, in Konflikte mit dem Staatsapparat. Die Leser lernten indes zwischen den Zeilen zu lesen.
Der Vergleich zur DDR mag zunächst schockieren – schließlich sind Deutschland und Österreich keine kommunistische Diktaturen. Man könnte auch die USA ins Feld führen, die mit Eintritt in den Zweiten Weltkrieg Kunst forderte und vor allem förderte, die sich an der Politik der Regierung orientierte. Die Wunsch nach Vereinnahmung der Künste durch die Politik ist unabhängig von der Gesellschaftsform.
Literatur existiert immer und überall. Sie für politische oder gesellschaftliche Zwecke zu verwenden, mag legitim und womöglich sogar ehrbar sein, aber die Vergangenheit zeigt, dass es dann im ästhetischen Sinne keine satisfaktionsfähige Literatur mehr ist. Von Albert Camus stammt der Satz »Mir sind Menschen, die sich engagieren, lieber als engagierte Literatur.« Ein Satz gegen Sartres Vertrauen in Stalin.
Der junge Peter Handke nahm sich ebenfalls Sartre als Beispiel und stellte grundlegend fest: »Der engagierte Schriftsteller sieht nicht die Dinge, wie sie sind, und er beschreibt nicht die Dinge, wie sie sind, sondern er beschreibt die Dinge wie sie sind und setzt sie zugleich in den Wertevergleich mit den Dingen, wie sie nach seiner Meinung sein sollten. Er beschreibt nicht Dinge, sondern Werte, er beschreibt nicht ein Sein, sondern ein Sollen«. Handke versucht zu erklären, warum Literatur, die sich »engagiert« in Wirklichkeit keine Literatur mehr ist oder, anders herum, warum das Engagement, wenn es literarisch umformt wird, durch eben diese literarische Bearbeitung zweitrangig wird, zum Verschwinden kommt. Engagement und Literatur wären demnach Gegensätze.
Autoren, die sich einer (meist linken) Politisierung verweigerten, waren in der Minderheit; sie sind es noch immer. Man unterstellte ihnen »Formalismus« (der schlimmste Vorwurf in der DDR), »Ästhetizismus« oder einfach »l’art pour l’art«, Kunst um der Kunst willen. Man selbst gab sich allwissend und schrieb gerne mit erhobenem Zeigefinger apodiktische Urteile. Der Zeitgeist nahm insbesondere ab Ende der 1960er Jahre in Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken und Romanen dezidiert Stellung und beschallte Rezipienten mit Meinungen. Erst später bekam man die Bigotterie einiger Protagonisten und ihre lange verheimlichten (und/oder verdrängten) Verstrickungen mit dem Nazi-Apparat mit. Das gilt im übrigen auch für all jene, die einst einmal mehr als nur Sympathien für sozialistische Experimente oder die maoistische Kulturrevolution hegten. Auch sie »wussten« immer genau, was richtig war.
Vielleicht resultiert das mit den Jahren kontinuierlich sinkende Interesse an der zeitgenössischen Literatur auch daraus, dass sie immer (wieder?) mit pädagogischem, missionarischen Impetus auftritt. Auf diese Weise haben »engagierte« Theater-Regisseure ihre Ambitionen auf die Klassiker projiziert. Sie woll(t)en das Theater zu einer »Besserungsanstalt« machen. Stattdessen haben sie es ruiniert. Ähnliches gilt für Genre-Literatur wie etwa der Kriminalroman und dessen großenr Bruder, den Fernseh-Krimi, aber auch für die »hohe Literatur« und hängt nicht zuletzt mit den Vergabekriterien zusammen, die für Stipendien, Ausschreibungen, Literaturwettbewerbe oder Preisen verbunden sind und ohne die ein dauerhaftes Auskommen im Literaturbetrieb schwierig ist, wenn man nicht gerade ein Bestsellerautor ist.
Und so wird es auch zu dieser Ausschreibung genügend »Projekte« geben, die sich für 2000 Euro mit der »Rolle der Kunst in Krisenzeiten« beschäftigen. Neues wird man da nicht erfahren, aber es bringt die frierenden Stacheltiere zusammen.
Und das Publikum?
Welches Publikum?
Ehrlich gesagt habe ich daran gedacht, bei diesem Wettbewerb mitzumachen. Als armer Schlucker und Schreiber fällt es mir schwer, auf 2000 Euro (in spe) zu verzichten. Der Betrag ist nicht so übel für 5 bis 10 Seiten Text.
Wie bei Gregor K. war mein erster Impuls der Zweifel hinsichtlich der ideologisch-braven Themenstellung. Ich glaub(t)e allerdings nicht, daß der Veranstalter Zweifel ausschließen will. Werden schon erlaubt sein, die Zweifel. Oder? Jedenfalls begänne ich, würde ich mich zu dem Thema äußern, mit dem Zweifel: Jede Gesellschaft »braucht« Literatur. Auch ich habe in meinen frühen Jahren Erfahrungen mit der DDR gemacht, und zwar vor Ort. Damals habe ich bemerkt, daß »die Leute« – jedenfalls die Gebildeten und die Unangepaßten – Literatur brauchen, und zwar mehr als in einer Demokratie, wie ich sie kannte. Sie brauchten sie deshalb, weil ihre intellektuellen Bedürfnisse durch die verordnete Ideologie nicht befriedigt werden konnten. Sie brauchten nicht nur geistige Anregung, sondern auch freie Äußerungen und andere Kommunikationsformen als die zugelassenen; Kommunikationsformen, die konkret oft in klandestinen oder semiklandestinen Freundschaftszirkeln stattfanden. Demokratie, damals, und heute noch mehr, ist der Kunst – ach, der Kunst! – gegenüber gleichgültig, auch und besonders dann, wenn sie diese subventioniert (ein vernachlässigbarer Anteil in den staatlichen Gesamtbudgets). Den Veranstaltern jenes Wettbewerbs, hinter denen ich Kulturpolitiker vermute, oder sogenannte Kuratoren, die inzwischen oft den Künstler ersetzen und überflüssig machen, sind Kunst und Literatur gleichgültig. Sie tun ja nur ihren Job, ihre Pflicht.
Mit solchen Zweifeln würde ich beginnen. Und meine Prognose (oder Prophetie) wäre auch nicht nett, denn es ist sehr wohl denkbar, daß eine zukünftige Gesellschaft, auch und gerade eine demokratische, nichts mehr von Literatur wissen will, sie also gar nicht mehr braucht. Natürlich wehre ich mich als Literat allein schon qua Selbsterhaltungstrieb dagegen. Und füge hinzu, daß eine Minorität in der Minorität der Lesenden innerhalb der Minorität der Alphabeten – Majorität sind die Bilderkonsumenten – vielleicht immer mit Sprache Kunst treiben werden, und daß das Geschaffene vielleicht sogar gelesen werden wird, denn was wir brauchen (ja, brauchen!), sind vor allem Leser, nicht Schreiber, von denen gibt es eh längst viel zu viele.
So käme ich vielleicht am Ende meines Beitrags sogar dazu, formulieren zu wollen, wieso eventuell Literatur sogar in einer Demokratie gebraucht wird. Aber hätte ich mit so einem Beitrag denn irgendeine Chance, in dem Wettbewerb zu gewinnen, also überhaupt sichtbar und lesbar zu sein? Nein, hätte ich nicht. Ich schließe mit dem Zweifel.
Gut ist auch die Frage, welche Demokratie überhaupt. Jeder weiß oder spürt, daß es mit dem, was wir als Demokratie wahrzunehmen und zu leben gewohnt sind, in der Schweiz oder in Deutschland oder in Österreich, bergab geht. In unseren Ländern, nicht irgendwo weit weg. Weit weg gibt es andere Länder ohne große oder überhaupt ohne demokratische Traditionen. Seit einigen Jahrzehnten sind die aber auch imstande, sich aus ihrem jeweiligen Schlamassel zu ziehen. Ohne Rekurs auf Demokratie, oder mit scheindemokratischem Theater, um einem mächtigen Verbündeten oder Beschützer zu gefallen. Ich habe die Erfahrung gemacht, wiederum vor Ort, daß »die Leute« dort auf westliche Demokratie gut und gern verzichten können. Sie führen auch so ein passables Leben. Vielleicht wird es ihnen in, sagen wir, dreißig Jahren sogar insgesamt besser gehen als uns bzw. unseren Kindern in den mit den Jahren so ramponierten westlichen Systemen.
Das zu schreiben, ist nach Keuschnigs Lesart der österreichischen Ausschreibung in den Augen der Ausschreibenden ungehörig. Ich würde sie gern fragen, ob das zutrifft. Bitte um Antwort!
Die Antwort würde dahingehend gegeben, dass Ihrem Beitrag keine Preiszugehörigkeit anerkannt würde. So zumindest meine Vermutung.
Ansonsten finde ich Ihren Text besser als meinen.