Cle­mens J. Setz: Das Buch zum Film

Clemens J. Setz: Das Buch zum Film
Cle­mens J. Setz:
Das Buch zum Film

Ein Bild des fran­zö­si­schen Ma­lers Hen­ri Rous­se­au an der Schwel­le vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert; Fuß­ball­spie­ler sol­len es sein, mit künst­lich an­mu­ten­den Hand­ge­sten. Das ist das Co­ver von Cle­mens J. Setz’ neu­em Buch Das Buch zum Film. »Auf­zeich­nun­gen 2000–2010« lau­tet der Un­ter­ti­tel und man staunt ein we­nig, denn 2000 war Setz erst 18 Jah­re alt. Nor­ma­ler­wei­se be­gin­nen Schrift­stel­ler mit der Ver­öf­fent­li­chung ih­rer No­ti­zen spä­ter. Am En­de, als die Auf­zeich­nun­gen im Ja­nu­ar 2011 en­den, stan­den zwei Ro­ma­ne, ein paar Short­list-No­mi­nie­run­gen und schon Prei­se in sei­ner Vi­ta. Ei­ne stei­le Kar­rie­re.

Setz woll­te schon im­mer »un­be­dingt ge­le­sen wer­den«, schreibt er im kur­zen Vor­wort. In Ab­wand­lung des jü­di­schen Glau­bens, das ein Mensch erst tot sei, wenn nie­mand mehr an ihn den­ke wird der Im­pe­ra­tiv for­mu­liert, dass er nur exi­stie­re, wenn er ge­le­sen wer­de. Wer jetzt Schrift­stel­ler­be­schwö­rungs­pro­sa be­fürch­tet, wird glück­li­cher­wei­se ent­täuscht. Viel­leicht hat Setz die­se Stel­len al­le­samt ge­stri­chen. Recht so. Her­aus­ge­kom­men ist ein über­ra­schend schma­ler, chro­no­lo­gisch ge­führ­ter Band von noch nicht ein­mal 170 Sei­ten, in dem mit ei­nem träu­me­ri­schen Rea­lis­mus ver­sucht wird, sich und die Welt wahr­zu­neh­men und ei­nen Platz dar­in zu fin­den, oh­ne in sie zu ver­sin­ken.

Zu Be­ginn hat Setz sei­nen Schul­ab­schluss ge­schafft und be­kommt da­für von den El­tern ei­nen Welt­emp­fän­ger ge­schenkt, der ihm spä­ter in den Abend- und Nacht­stun­den Ent­span­nung von der ziem­lich an­stren­gen­den Zi­vil­dienst-Ar­beit im Odi­li­en-In­sti­tut in Graz ver­schafft. Er be­treut dort die so­ge­nann­te »S‑Klasse« – Men­schen mit schwer­sten Be­hin­de­run­gen. Die Schil­de­run­gen sind dra­stisch; mit den Me­tho­den, wie die­se Men­schen be­han­delt wer­den, stimmt er nicht im­mer über­ein. Ei­ne »Ein­schu­lung« gibt es erst nach ei­nem Mo­nat; vor­her ist Ver­such und Irr­tum an­ge­sagt. Setz be­schreibt sei­ne Er­leb­nis­se mit nüch­ter­ner Ver­wun­de­rung. »Die Kind­heit ist vor­bei«, es be­ginnt so et­was wie das Le­ben. Mit ei­ner Frau, ei­ne Pa­ti­en­tin, die er J. nennt, freun­det er sich an. Sie hat schwe­re Angst­zu­stän­de, hat sich ge­ritzt, wird zwi­schen­zeit­lich in die Psych­ia­trie über­führt. Je­de Si­mu­la­ti­on ei­nes »nor­ma­len« All­tags ist schwie­rig. J. ist bei­spiels­wei­se nicht in der La­ge, Ge­schich­ten mit auch nur an­näh­rend ne­ga­ti­vem Aus­gang aus­zu­hal­ten. Setz’ Ver­su­che, J. aus dem Par­al­lel­uni­ver­sum der Angst her­aus zu hel­fen, sind rüh­rend. Er wird sie ein­mal zu ih­rer Mut­ter nach Inns­bruck be­glei­ten, wo die bei­den in ei­nem »Kel­ler­ver­lies« über­nach­ten. Da­bei ist Setz’ Exi­stenz sel­ber nicht kon­flikt­frei; es gibt Rei­be­rei­en mit dem im­mer wie­der ver­schwun­de­nen Va­ter, der ir­gend­ei­nem »Scheiß Ge­heim­nis« hat.

Das Ar­beits­kli­ma zwi­schen ihm und der »Be­treu­er­ka­ste« ist, freund­lich aus­ge­drückt, ge­spannt. We­gen Faul­heit wird er zeit­wei­se von den Team­sit­zun­gen aus­ge­schlos­sen. »Ich ma­che an­dau­ernd al­les falsch« schreibt er in ei­ner Mi­schung aus Re­si­gna­ti­on und Trotz. Mal wird er zum Laub­fe­gen und Ki­sten zer­trüm­mern ein­ge­teilt, dann als Por­tier. Man kennt nur Be­loh­nung oder Stra­fe, im Um­gang mit den Be­woh­nern wie auch in­ner­halb des Per­so­nals. Flie­ßend schließ­lich der Über­gang von der Sta­ti­on zur Uni­ver­si­tät. Setz stu­diert Ma­the­ma­tik für das Lehr­amt. Kon­fron­ta­ti­on mit »Men­schen mit ech­ten Be­ru­fen«. Auch hier rasch Des­il­lu­sio­nie­rung, die sich in fei­nen Be­ob­ach­tun­gen zeigt, et­wa wie die Stu­den­ten so­fort nach Be­en­di­gung ei­ner Vor­le­sung ih­re Bü­cher zu­klap­pen, »so wie man ein lä­sti­ges In­sekt er­schlägt«.

Setz ist fas­zi­niert von Ge­dich­ten und der Mög­lich­keit des Er­zäh­lens von Ge­schich­ten, ent­wickelt ei­ne Ro­mani­dee mit dem Ti­tel »Rei­se durch die Nacht«, schreibt ei­ne Kurz-Bio, wie man sie von Klap­pen­tex­ten kennt und in­ter­pre­tiert sei­ne Träu­me, die er bis­wei­len li­te­ra­risch so­fort ver­wan­delt. Sein Al­ter Ego Re­né Templ plant Ge­dicht­bän­de. Ne­ben sei­nen Ra­dio­stun­den am Welt­emp­fän­ger ent­spannt er sich auf lee­ren Su­per­markt­park­plät­zen an Sonn­ta­gen. Er liest Her­mann Broch, Ernst Jün­ger, Gott­fried Benn, phi­lo­so­phiert über Ge­or­ges Ba­tail­le, ist be­gei­stert von John Cla­re, Na­tha­ni­el Hawt­hor­ne und be­son­ders Den­ton Welch (den er als Vor­läu­fer von Jo­sef Wink­ler sieht), über­setzt Wil­fred Owens und kommt im­mer wie­der auf die Skur­ri­li­tä­ten von Oli­ver Sacks zu­rück. Mit größ­tem Ver­gnü­gen ent­deckt er skur­ri­le und/oder lu­sti­ge Wör­ter aus Grimms Wör­ter­buch, wie et­wa »Be­denk­lich­keits­krä­mer«.

Er­eig­nis­se wie der 11. Sep­tem­ber, das Co­lum­bia-Un­glück, der No­bel­preis für El­frie­de Je­li­nek, die Ent­deckung des Fritzl-Ver­stecks nach 24 Jah­ren (Setz schreibt von 18 Jah­ren; der Lek­tor hat es ste­hen­ge­las­sen) und die Prä­si­dent­schaft Oba­mas schwir­ren an ei­nem vor­über, sind nur gleich­be­rech­tigt mit Setz’ Wahr­neh­mun­gen, et­wa dem »Ham­ster­kä­fig­ge­ruch ur­alter Fo­to­gra­fien«, ei­nem star­ren Blick des Nach­rich­ten­spre­chers nach der Ab­mo­de­ra­ti­on, der Fest­stel­lung, das Ayn Rand in New York als Klas­si­ker gilt oder wie ein Mann nach Spat­zen schlägt, als wol­le er Flie­gen ver­scheu­chen. Er ent­deckt ir­gend­wie Se­xua­li­tät, stellt Über­le­gun­gen über sich als Va­ter an, ist er­leich­tert, als er es nicht ist und will »in­ner­lich Jung­frau blei­ben«. Wun­der­bar das Bild, »Nä­gel in den Ne­bel schla­gen« zu wol­len. Gut ver­steckt die fast schon pro­gram­ma­ti­sche Er­kennt­nis: »Man sieht im­mer so viel, wenn man nicht ge­nau weiß, was man sieht.«

Er be­ginnt das Rei­sen, meist kurz, u. a. nach Pa­ris, Ve­ne­dig, Kra­kau, Prag (hier wird war­um auch im­mer ein Sex­ma­schi­nen-Mu­se­um be­sucht), New York, Hay-on-Wye (Wales), Brüs­sel (»die Stadt, in der Eu­ro­pa her­ge­stellt wird«), Chi­ca­go. Be­ob­ach­tun­gen über sein Ver­hal­ten in Flug­zeu­gen. Glück­lich ist er im Un­ter­wegs­sein eher sel­ten; oft schläft er schlecht. 2008 er­scheint sein er­stes Buch, nun reist er auch noch zu Le­sun­gen und er­sten Preis­ver­ga­ben, nach Kla­gen­furt oder Bre­men et­wa. Er wahrt Di­stanz zum Be­triebs­klatsch, spricht mit Sa­scha Lo­bo, der ihm sein neu­es iPho­ne zeigt, ist si­cher, dass Ulf Erd­mann Zieg­ler ihn für »be­scheu­ert« hält, wun­dert sich über das Ge­tu­schel um Tho­mas Gla­vi­nic, be­wun­dert die Au­torin »C. T.« im Um­gang mit ih­ren Kin­dern und fühlt sich von den ho­mo­ero­ti­schen Avan­cen ei­nes ge­wis­sen P. C. ei­ner­seits ge­schmei­chelt, an­der­seits pi­kiert. 2010 ist er be­ses­sen von der Au­dio­auf­nah­me vom Jo­ne­stown-Mas­sa­ker. Ein Pre­di­ger lei­tet Müt­ter an, ih­re Kin­der zu ver­gif­ten; das To­des­rö­cheln ist hör­bar und Setz spe­ku­liert über das »spe­zi­fisch Weib­li­che (?) an die­ser Spiel­art des ab­grund­tief Bö­sen«. We­nig spä­ter ent­deckt er dann ei­ne ur­alte Pen­del­uhr, die bei der Haus­halts­auf­lö­sung ei­ner ver­stor­be­nen Nach­ba­rin »viel­leicht zum er­sten Mal« den »Wind auf der nack­ten Er­de« spürt.

Es sind die­se Kon­tra­ste, die Das Buch zum Film zu ei­ner er­fri­schen­den Lek­tü­re ma­chen. Der Ti­tel er­scheint am En­de we­ni­ger my­ste­ri­ös als vor­her. Man er­tappt sich da­bei, so­fort den näch­sten Band le­sen zu wol­len.

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