Da­vid Sza­lay: Was nicht ge­sagt wer­den kann

David Szalay: Was nicht gesagt werden kann
Da­vid Sza­lay: Was nicht ge­sagt wer­den kann

Ist­ván ist 15 und zieht ir­gend­wann Mit­te der 1990er Jah­re mit sei­ner Mut­ter in ei­ne neue Stadt, ver­mut­lich ein Bu­da­pe­ster Rand­be­zirk. In ei­ner Woh­nung ge­gen­über wohnt ei­ne Frau mit ih­rem herz­kran­ken Mann. Die Mut­ter möch­te, dass Ist­ván mit ihr in den Su­per­markt geht und die Ein­käu­fe hoch­trägt. Er fügt sich wi­der­wil­lig, nichts ah­nend, dass hier der Keim für ei­ne Ka­ta­stro­phe liegt.

Aus der An­ti­pa­thie, die Ist­ván für die als alt und häss­lich emp­fun­de­ne Frau zu Be­ginn ent­wickelt (sie soll, wie es ein­mal heißt, un­ge­fähr so alt sein wie sei­ne Mut­ter), wird ei­ne Ob­ses­si­on, denn sie führt den pu­ber­tie­ren­den Jun­gen, der un­längst bei ei­nem gleich­alt­ri­gen Mäd­chen ei­ne her­be Ab­fuhr er­hielt, Schritt für Schritt in die Welt der Se­xua­li­tät ein. Was sie nicht ahnt: Ist­ván ver­liebt sich in sie und als sie das Ver­hält­nis be­en­den möch­te, re­bel­liert er.

So be­ginnt Was nicht ge­sagt wer­den kann, der neue­ste Ro­man des 1974 in Ka­na­da ge­bo­re­nen, bri­tisch-un­ga­ri­schen Au­tors Da­vid Sza­lay, der auf der Short­list des Boo­ker-Pri­ze 2025 steht (Ori­gi­nal­ti­tel: Fle­sh). Es ist der drit­te Ro­man von Sza­lay, der ins Deut­sche über­setzt wur­de. Trotz des Ver­lags­wech­sels von Han­ser nach Cla­as­sen wur­de auch die­ses Buch von Hen­ning Ah­rens über­setzt.

Er­zählt wird chro­no­lo­gisch aus per­so­na­ler Sicht nicht we­ni­ger als das Le­ben ei­nes nach­na­men­los blei­ben­den, um 1980 her­um in Un­garn ge­bo­re­nen Ist­ván. Ei­ne be­son­de­re Dy­na­mik ent­steht da­durch, dass durch­ge­hend im Prä­sens er­zählt wird. Es ist schwie­rig, die­ses Buch zu­sam­men­zu­fas­sen, oh­ne die Brü­che, die Hoch und Tiefs, die Schick­sals­schlä­ge, die Ist­ván mit­un­ter mit Hil­fe von Al­ko­hol und/oder Ta­blet­ten mit Phleg­ma, Pas­si­vi­tät und Prag­ma­tis­mus er­lebt und er­trägt, vor­weg zu neh­men. Die Dia­lo­ge in die­sem Ro­man sind mi­ni­ma­li­stisch; Ist­ván ist kein Welt­erklä­rer, zu­dem gibt es kaum Kon­tak­te mit In­tel­lek­tu­el­len in sei­nem Le­ben. Mehr als ein­hun­dert Mal sagt er »Okay« und das ge­nügt dann. Ob­wohl Ist­ván kein Frau­en­held im klas­si­schen Sinn ist und den Bei­schlaf eher als ei­ne Art Kör­per­ver­gnü­gen zu be­trach­ten scheint, spie­len Frau­en bei ihm ei­ne re­le­van­te Rol­le.

Ein­zig der Schritt in die Ar­mee, die Ver­pflich­tung für fünf Jah­re, die ihn un­ter an­de­rem in den Irak führt, ge­schieht auf ei­ge­ne In­itia­ti­ve. An­son­sten nutzt Ist­ván An­ge­bo­te, hört auf sei­ne Mut­ter oder hat ein­fach nur Glück und fin­det im ent­schei­den­den Mo­ment Men­to­ren. Über Um­we­ge kommt er so zu ver­meint­lich gro­ßem Reich­tum in Lon­don. Auch hier spielt ei­ne Frau, die ihm ver­fällt und über de­ren op­ti­sche Un­zu­läng­lich­kei­ten er hin­weg­sieht, ei­ne ent­schei­den­de Rol­le.

Der Er­zäh­ler bleibt in zehn Ka­pi­teln den ent­schei­den­den Wen­dun­gen Ist­váns vom Ar­mee­hel­den über den Buch­hal­ter, den Se­cu­ri­ty-Bo­dy­guard bis zum Chauf­feur und Kauf­mann dicht auf den Fer­sen. Fi­gu­ren, die in frü­he­ren Le­bens­ab­schnit­ten Ist­váns Le­ben kreuz­ten, er­schei­nen nie mehr. Die Aus­nah­me ist die Mut­ter. Klei­ne Im­pres­sio­nen ab­seits der Haupt­fi­gur, bei­spiels­wei­se über Or­te oder sub­ti­le al­le­go­ri­sche An­spie­lun­gen wie et­wa »Skulp­tu­ren ver­har­ren in ih­rer Hal­tung«, muss man su­chen. Der la­ko­ni­sche Sound ver­mit­telt ei­nem das Ge­fühl, Ist­ván tra­ge ein noch zu ent­ber­gen­des Ge­heim­nis in sich. Ir­gend­wann ge­gen En­de scheint er Bi­lanz zu zie­hen: »Ihm kommt der Ge­dan­ke, dass er nicht der gu­te Mensch ist, für den er sich stets ge­hal­ten hat. Wahr­schein­lich ist er gar kein gu­ter Mensch.« Das sagt er auch ei­ner neu­en Lieb­schaft. Aber die Frau »ent­geg­net, das stim­me nicht.« Be­zeich­nend für die Fi­gur Ist­ván ist sei­ne Re­ak­ti­on dar­auf, die er für sich be­hält: »Und ih­re Art, das zu sa­gen, weckt in ihm den Wunsch, ihr noch mehr weh­zu­tun.«

Kurz dar­auf ent­wickelt sich je­ne Ge­schich­te, mit der Ist­ván ein Ver­ge­hen von vor vier­zig Jah­ren auf ei­ne be­son­de­re Art sühnt. Ist­ván weiß nicht, war­um er so han­delt, aber es über­kommt ihm da­bei das Ge­fühl ei­ner Zä­sur. Durch die­ses Ver­hal­ten wird der am­bi­va­len­te, nicht im­mer sym­pa­thi­sche Ist­ván plötz­lich zu ei­ner im wört­li­chen Sinn tra­gi­schen Fi­gur. Von Fer­ne ein li­te­ra­ri­scher En­kel von Franz Bi­ber­kopf.

Die Ka­thar­sis beim Le­ser en­det nicht mit der Lek­tü­re. Die­ser Le­bens­weg geht ei­nem so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Da­vid Sza­lay hat ei­nen er­grei­fen­den Ro­man ge­schrie­ben.

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