Fré­dé­ric Schwil­den: Gu­te Men­schen

Frédéric Schwilden: Gute Menschen
Fré­dé­ric Schwil­den:
Gu­te Men­schen

Fré­dé­ric Schwil­den ist Re­por­ter und Ko­lum­nist bei der Welt. Auf X po­stet er un­ter @totalreporter. Manch­mal sieht man ihn dort, wenn er un­ter­wegs ist, im Zug, in atem­be­rau­bend bun­ten Sak­kos. Vor ei­ni­gen Wo­chen er­schien ei­ne groß­ar­ti­ge In­ter­ven­ti­on zu De­pres­sio­nen und dem Brief von Wolf­gang Grupp nach des­sen Sui­zid-Ver­such. Da­vor las ich sei­ne Be­suchs­be­rich­te bei Rai­ner Lang­hans und Uwe Tell­kamp. Schwil­den ist neu­gie­rig und über­lässt dem Le­ser das Ur­tei­len; ein Re­por­ter im alt­mo­di­schen Sinn. Jetzt legt er mit Gu­te Men­schen sei­nen zwei­ten Ro­man vor.

Er han­delt von Jan und Jen­ni­fer. Bei­de sind 1988 ge­bo­ren, ver­hei­ra­tet und le­ben in Mün­chen. Sie ist Part­ne­rin ei­ner Kar­tell­rechts­kanz­lei (da­her der Ehe­ver­trag), er Gym­na­si­al­leh­rer. Gu­te Men­schen be­ginnt mit dem Aus­zug von Jen­ni­fer aus der ge­mein­sa­men Woh­nung. Es ist der 18. De­zem­ber 2023. Jan ist bei der Groß­mutter in Kre­feld. Jen­ni­fers Ha­be füllt ein V‑Klas­se-Ta­xi zur Hälf­te. Sie hat ih­re Kanz­lei­an­tei­le ver­kauft, hin­zu kommt ein Er­be. 1,5 Mil­lio­nen Eu­ro hat sie auf dem Kon­to. Sie lässt sich zu ih­rer neu­en 144 m² gro­ßen Woh­nung fah­ren. Der La Chai­se von Ea­mes wird ge­lie­fert; mehr als 8.000 Eu­ro. Die an­de­ren Mö­bel kom­men in den näch­sten Ta­gen. Sie hat Jan ei­nen Brief ge­schrie­ben und in den Brief­ka­sten ge­wor­fen. Sie be­en­det die Ehe. Man stritt über Geld. Geld, das man hat­te. Man stritt dar­über, wie man es aus­gibt. »Ich will raus« schreibt sie. Will sei­ne Freun­din blei­ben. Die ehe­li­che Woh­nung über­lässt sie ihm.

Die Per­spek­ti­ven zwi­schen Jen­ni­fer und Jan wech­seln bis zum 31. De­zem­ber 2023 hin und her (mit ei­ner Aus­nah­me: die Er­zäh­lung ei­ner Rei­se nach Te­xas ei­ni­ge Jah­re zu­vor). Die Un­ver­ein­bar­keit der bei­den Le­bens­ent­wür­fe wird im­mer deut­li­cher. Jan ist Hein­rich-Böll-Adept, An­sich­ten ei­nes Clowns und Die ver­lo­re­ne Eh­re der Ka­tha­ri­na Blum sind für ihn nach wie vor die wich­tig­sten Bü­cher. Er hört Drei-Fra­ge­zei­chen-Hör­spie­le und glaubt, was in taz und Spie­gel steht. Jans Va­ter war in jun­gen Jah­ren an ei­nem Start-up be­tei­ligt, das spä­ter zu ei­nem der füh­ren­den IT-Un­ter­neh­men in Deutsch­land wur­de. Er stieg vor­her aus und wur­de Leh­rer. Idea­lis­mus statt Geld. Und dann, spä­ter: Neid und Scham; Jäh­zorn. Und dann star­ben Jans El­tern bei ei­nem Ver­kehrs­un­fall. Jan fühl­te wohl ei­ne Art Be­ru­fung in sich und wur­de wie sein Va­ter Leh­rer. Jen­ni­fer lieb­te ihn, ob­wohl er »an­stren­gend« war, glaub­te, dass Wi­der­sprü­che »ei­ne gu­te Mi­schung« er­gä­ben. Ir­gend­wann emp­fand sie nur noch ein Kor­sett aus Idea­lis­mus. Sie re­si­gniert, will le­ben, ist aber klug ge­nug, die Schicki-Micki-Cham­pa­gner-Ge­sell­schaft zu durch­schau­en. Sie braucht nichts da­von. Aber sie will es.

Ih­re be­ste Freun­din An­ne ist mit Ka­dir, ei­nem äl­te­ren, zu Wohl­stand ge­kom­me­nen Ge­schäfts­mann ver­hei­ra­tet. Sie wünscht sich ein Kind; die bei­den fast schon er­wach­se­nen Stief­kin­der ge­nü­gen ihr nicht. Am 22. De­zem­ber flie­gen die Freun­din­nen nach Pa­ris. Up­grade vom gün­sti­gen Ho­tel auf das Ritz. Hier sieht sie »die Trau­ri­gen« beim Le Grand Brunch. Die Freun­din­nen schlen­dern durch Pa­ris, re­den über Jo­ko Win­ter­scheidt und an­de­re pein­li­che Deut­sche, »aßen Pe­tit Fours in ei­nem Ca­fé, und am Abend gin­gen sie in die Bras­se­rie Lipp«, spra­chen über ih­re Dro­gen­er­fah­run­gen. Sie sind al­bern und frei.

Jan ist in­des am Bo­den zer­stört und sucht Trost im Iri­schen Ta­ge­buch. Die Idee, Jen­ni­fer zu kon­tak­tie­ren, ver­wirft er; mit Kon­flik­ten kann er nicht um­ge­hen. Lie­ber denkt er an sein bis­her nicht zu­stan­de ge­kom­me­nes Buch über den Flug­pio­nier Gu­stav Weiß­kopf, der in »vor­schul­di­ger« Zeit leb­te und den nie­mand kennt, ob­wohl er doch ein Flug­pio­nier war und vor den Ge­brü­dern Wright das er­ste Mo­tor­flug­zeug ge­baut hat­te. Jans Freund Ümit mel­det sich kon­spi­ra­tiv. Er wähnt sich ver­folgt, weil er bri­san­tes Ma­te­ri­al über den baye­ri­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten hat. Jan kennt Ümit, nimmt ihn nicht ernst. Aber er be­kommt Zwei­fel, wenn er die Nach­rich­ten hört. War­um wird je­mand straf­recht­lich ver­folgt, der ei­nen Po­li­ti­ker »Schwach­kopf« nennt? Wie­so ver­klagt ei­ne sich li­be­ral nen­nen­de Po­li­ti­ke­rin in Se­rie Men­schen, weil sie sich be­lei­digt fühlt? War­um wird es zu­ge­las­sen, dass in Deutsch­land wie­der ge­gen Ju­den de­mon­striert wird? Und ist er nicht zu ver­ständ­nis­voll, was die »frag­wür­di­gen An­sich­ten« sei­ner Schü­ler an­geht? Jan weiß al­les über die to­ten Ju­den. Aber nichts über die Le­ben­den.

Sei­ner Groß­mutter ver­schweigt er Jen­ni­fers Aus­zug und kün­digt sei­nen Be­such zum zwei­ten Weih­nachts­fei­er­tag an. Aber dann be­kommt er nachts hef­ti­ge Brust­schmer­zen. Er denkt an ei­nen Herz­in­farkt. Den Ret­tungs­dienst nimmt er nicht in An­spruch, son­dern schleppt sich mit ei­nem Rol­ler zum Kran­ken­haus und denkt, als er in die El­säs­ser Stra­ße ein­biegt, an Jür­gen El­säs­ser und (war­um auch im­mer) Sahra Wa­gen­knecht. Dann macht er Be­kannt­schaft mit dem Ge­sund­heits­sy­stem und zy­ni­schen Ärz­ten, die ihn zu­nächst für ei­nen Si­mu­lan­ten hal­ten. Nach der Ope­ra­ti­on be­rich­tet man, mehr als ei­nen Li­ter ei­ner »dick­li­chen weiß­li­chen Flüs­sig­keit mit ein­zel­nen ro­ten Spren­keln« aus sei­ner Lun­ge ge­holt zu ha­ben. »Re­kord die­ses Jahr«, heißt es. Im Zim­mer liegt er zu­sam­men mit ei­nem mi­gran­tisch aus­se­hen­den Mann. Er grüßt ihn auf tür­kisch. Bis er dann mit Hel­mut Be­kannt­schaft macht, den Sohn des Pa­ti­en­ten. Der ist Grie­che und sein Va­ter nann­te ihn nach Hel­mut Schmidt, weil der Grie­chen­land in die EG ge­bracht hat­te. Hel­mut fragt Jan nach sei­nem Na­men. »Das tut mir leid«, sagt er dann, »dein Na­me ist so egal.«

Wäh­rend Jan über Weih­nach­ten im Kran­ken­haus liegt (und sich ein­mal mehr selbst­quä­le­risch als lust­voll zu ei­ner Ma­stur­ba­ti­on auf der Kran­ken­haus-Toi­let­te hin­rei­ßen lässt), fährt Jen­ni­fer zu An­ne und Ka­dir an den Te­gern­see. In ei­nem eu­pho­ri­schen Mo­ment wirft sie ihr Mo­bil­te­le­fon aus dem Fen­ster des Au­tos. Da ist es wie­der, die­ses Ge­fühl von Frei­heit. Sie lernt Ka­dirs Bru­der Ner­min und sei­ne Frau Sa­bi­ne ken­nen. Ner­min, der Ober­re­gie­rungs­rat, hat so­eben sei­ne an­dert­halb Jah­re El­tern­zeit für den drei­jäh­ri­gen Fried­rich be­en­det. Oh­ne Geld, wie Sa­bi­ne, die Chir­ur­gin, kla­gend fest­stellt; Geld, dass sie ver­misst. Die Schuld trägt Fried­rich. Der muss es nun aus­ba­den, wird stän­dig be­schimpft. Ka­dir scheint der ein­zig halb­wegs Ver­nünf­ti­ge zu sein, er gei­ßelt den deut­schen Selbst­hass und die all­ge­gen­wär­ti­ge »lee­re Mo­ral«, nimmt sei­nen Bru­der zur Sei­te, weil ihm Sa­bi­nes Ver­hal­ten dem Kind ge­gen­über miss­fällt. Als sich Sa­bi­ne über die »Müll­fee« Pe­ter amü­siert, der im No­bel­vier­tel auch bei Re­gen und Schnee die Müll­ton­nen der Be­woh­ner aus­räumt und fal­sche Sor­tie­run­gen rück­gän­gig macht, platzt Ka­dir der Kra­gen: »Pe­ter ist das so­zia­le Ge­wis­sen. Er ist der letz­te An­stän­di­ge.« (Und ich fra­ge mich, ob das nicht auch ein gu­ter Ti­tel ge­we­sen wä­re.)

Jan ent­lässt sich aus dem Kran­ken­haus, fährt auf ei­ge­ne Ver­ant­wor­tung zur 96jährigen, bett­lä­ge­ri­gen, le­bens­mü­den Groß­mutter. Man kommt sich nä­her, er muss sich über­win­den, sie aus­zu­zie­hen und zu du­schen. Er fragt sie, was sie hät­te wer­den wol­len. Und sie ver­steht nicht ein­mal die Fra­ge. Als ob es ei­ne Wahl ge­ge­ben hät­te. Men­schen sei­en nicht »ent­we­der oder« sagt sie zu Jan, der im­mer wie­der die Na­zi-Zeit ins Spiel bringt. Wäh­rend Jan in der Kre­fel­der In­nen­stadt ei­ni­ge De­li­ka­tes­sen für ein Sil­ve­ster-Me­nü ein­kauft und da­bei zu­sam­men­ge­schla­gen wird, ma­chen Jen­ni­fer, An­na und Ka­dir ei­nen Aus­flug zur Zug­spit­ze. Ner­mins Fa­mi­lie fehlt über­ra­schend. Spä­te­stens hier fragt man sich, wie der Au­tor aus die­sem Plot her­aus­kommt, oh­ne in Kitsch oder Kli­schees zu ver­fal­len. Und ist dann über­rascht. Er schafft es. Wie, das wird nicht ver­ra­ten.

Und ja, die­ser Jan ist mit sei­nem mo­ra­lin­sauren Im­pe­tus ein biss­chen über­zeich­net und Jen­ni­fers He­do­nis­mus wirkt bis­wei­len trot­zig-auf­ge­setzt. Den­noch ist Gu­te Men­schen ein ge­lun­ge­ner Ge­gen­ro­man zu all je­nen Pop-Ro­ma­nen, de­ren Prot­ago­ni­sten sich ei­ne At­mo­sphä­re aus auf­ge­setz­ter Cool­ness und ro­man­ti­zi­stisch par­fü­mier­tem Es­ka­pis­mus zu­sam­men­ge­ba­stelt ha­ben, um am En­de ent­we­der in Dau­er­schwer­mut oder wohl­fei­lem Zy­nis­mus auf die Welt zu blicken.

Der Ro­man ver­spot­tet den vom Shit­bür­ger­tum for­cier­ten Main­stream der form­voll­ende­ten Ba­na­li­sie­rung, et­wa je­ne »Pod­casts« ge­nann­ten »Bordell[e] die­ser neu­en Ge­gen­wart« und ih­re Prot­ago­ni­sten wie (ex­em­pla­risch) Jo­ko Win­ter­scheidt, So­phie Pass­mann, Oli­ver Po­cher, Tom­mi Schmitt, Mon­ta­na Black, Klaas-He­ufer Um­lauf oder ein­fach nur Ra­dio­mo­de­ra­to­ren, die sich über das Kacken und Mis­soirs aus­las­sen. Jan und Jen­ni­fer sind zwar An­ti­po­den, ha­ben aber ei­ne Ge­mein­sam­keit: Sie su­chen auf ih­re un­ter­schied­li­che Wei­se Di­stanz vor der all­um­fas­sen­den Ver­blö­dung, der man sich auch noch mehr oder we­ni­ger frei­wil­lig aus­setzt und de­ren Fol­gen man am Per­so­nal in Po­li­tik, Me­di­en und Wirt­schaft er­ken­nen kann. Es ist kein de­zi­dier­ter Ro­man über die Ge­ne­ra­ti­on Y, eher ein Sit­ten­bild ei­ner Zeit, in der Ge­wiss­hei­ten ero­die­ren und Ver­lu­ste sicht­bar wer­den. Das al­les wird oh­ne Zei­ge­fin­ger, oh­ne Ap­pell, oh­ne Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit, oh­ne De­kla­ra­ti­on, was rich­tig oder falsch ist er­zählt. Schwil­den er­hebt sich nicht über sei­ne Prot­ago­ni­sten; sie sind und blei­ben völ­lig un­iro­nisch »gu­te Men­schen« (kei­ne »Gut­men­schen«). Das Wei­te­re ist Schick­sal. Man wird die­ses Buch ver­mut­lich im­mer wie­der, im Ab­stand von zwei, drei Jah­ren, zur Hand neh­men. Nicht aus­zu­schlie­ßen, dass man dann in Nost­al­gie ver­fällt.

Schreibe einen Kommentar