Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

»Der Ein­druck, die eta­blier­te Po­li­tik sei un­fä­hig oder un­wil­lig, die Pro­ble­me der Zeit zu lö­sen, ist ei­ne Ur­sa­che für den Er­folg po­pu­li­sti­scher Par­tei­en«, so schreibt Ro­bin Alex­an­der in sei­nem neu­en Buch Letz­te Chan­ce auf Sei­te 338. Wer bis da­hin ge­le­sen hat, wun­dert sich. Denn dass die »eta­blier­te Po­li­tik« – ge­meint sind vor al­lem die Prot­ago­ni­sten der »Am­pel«, aber auch die der letz­ten vier Jah­re der Mer­kel-Re­gie­rung – größ­ten­teils un­fä­hig re­spek­ti­ve un­wil­lig zu kon­struk­ti­ver Po­li­tik wa­ren, ist nicht nur ein »Ein­druck«, son­dern es ist (bzw. war) hand­fe­ste Rea­li­tät, wie auf na­he­zu al­len der bis da­hin zu­rück­lie­gen­den 337 Sei­ten in zum Teil er­mü­dend zu le­sen­der Akri­bie aus­ge­führt wur­de.

Robin Alexander: Letzte Chance
Ro­bin Alex­an­der: Letz­te Chan­ce

Über­all ste­hen ad­mi­ni­stra­ti­ve, for­ma­le wie in­for­mel­le Re­gu­la­ri­en und Re­geln, die aus di­ver­sen Er­wä­gun­gen her­aus nicht an­ge­ta­stet wer­den (kön­nen), sach­ge­rech­ten Lö­sun­gen im We­ge. Das po­li­ti­sche Sy­stem nä­hert sich mit all sei­nen Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen, Aus­nah­me­re­ge­lun­gen, ge­gen­sei­ti­gen Rück­sicht­nah­men be­dingt durch per­sön­li­che Be­find­lich­kei­ten von sich wich­tig neh­men­den po­li­ti­schen Ak­teu­ren wie Frak­ti­ons- oder Par­tei­vor­sit­zen­den, Mi­ni­stern, Staats­se­kre­tä­ren, Par­tei­flü­gel­ver­tre­tern und Lob­by­ver­tre­tern der Dys­funk­tio­na­li­tät. Wenn dann noch das ge­gen­sei­ti­ge, ko­ali­ti­ons­be­ding­te Ob­ser­vie­ren nach dem Mot­to »Wer-macht-den-näch­sten-Feh­ler?« auf den Plan tritt, wird viel­leicht noch ver­wal­tet, aber nicht mehr zu­kunfts­fä­hig re­giert.

Das Schei­tern der so­ge­nann­ten Am­pel-Re­gie­rung war vor­aus­zu­se­hen. Die welt­an­schau­li­chen Dif­fe­ren­zen der Par­tei­en stan­den ei­ner part­ner­schaft­li­chen Zu­sam­men­ar­beit von An­fang an im We­ge. So hät­te man dem po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten sei­ne Er­fol­ge gön­nen müs­sen, statt sich in krä­me­ri­schem Klein­klein zu ver­bei­ßen, wie in ei­nem wahr­lich schil­lern­den Bei­spiel ge­gen En­de der Am­pel her­aus­ge­ar­bei­tet wird. Die Grü­nen woll­ten den Steu­er­grund­frei­be­trag um 312 Euro/Jahr an­he­ben. Die FDP nun kam auf die Idee, »da die In­fla­ti­on et­was hö­her aus­fiel als pro­gno­sti­ziert […] den Be­trag nun auf 324 Eu­ro [zu] er­hö­hen.« Die­sen Mi­ni­mal­tri­umph gönn­ten die Grü­nen der FDP nicht. Und so »blockiert das FDP-Fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um das Vor­ha­ben des SPD-Ar­beits­mi­ni­ste­ri­ums, um Druck aus­zu­üben auf die ih­rer­seits blockie­ren­den Mi­ni­ste­ri­en der Grü­nen. Und das al­les für 12 Eu­ro Un­ter­schied im Jahr, die man nicht ver­steu­ern muss. Re­gie­rungs­cha­os we­gen ei­nem Eu­ro pro Mo­nat.« Aber Alex­an­der schießt über das Ziel hin­aus, wenn er als Ge­gen­bei­spiel Mer­kel an­führt, die einst Dob­rindt mit sei­ner »Ausländer-Maut«-Geschichte auf­lau­fen ließ. »Dass die­se Stra­ßen­ge­bühr für nicht­deut­sche Au­to­fah­rer am En­de vor eu­ro­päi­schen Ge­rich­ten schei­tern wür­de, war Mer­kel im­mer klar. Den Mil­li­ar­den­scha­den für Steu­er­zah­ler nahm sie in Kauf. Der Ko­ali­ti­ons­frie­den mit der CSU war ihr wich­ti­ger.« Mil­li­ar­den ver­schwen­de­te Steu­er­gel­der um des lie­ben Frie­dens wil­len? Das kann doch nicht ernst ge­meint sein, ein sol­ches Ver­hal­ten als Blau­pau­se für Ko­ali­ti­ons­frie­den zu emp­feh­len.

In ge­wohn­ter Alex­an­der-Ma­nier wer­den mit buch­hal­te­ri­scher Prä­zi­si­on sehr vie­le der ab­sur­den Wen­dun­gen der Am­pel her­aus­ge­ar­bei­tet. Und man mag da­nach ver­ste­hen (nicht zu ver­wech­seln mit: recht­fer­ti­gen), war­um ein­fa­che Lö­sun­gen im­mer mehr zu Sehn­suchts­ob­jek­ten des Wäh­lers wer­den. Letz­te Chan­ce zeigt über­deut­lich, dass ra­sche und nach­hal­ti­ge Lö­sun­gen in­zwi­schen fak­tisch un­mög­lich ge­wor­den sind. Und ge­zeigt, nein: vor­ge­führt wird, wie ab­ge­kop­pelt der po­li­ti­sche Be­trieb in­klu­si­ve Be­ob­ach­ter von den sich dis­rup­tiv ver­än­dern­den Rea­li­tä­ten ist.

Zu be­son­de­rer Hoch­form läuft der Au­tor auf, wenn er die zum Teil gym­na­sti­schen Übun­gen der Po­li­ti­ker der »Mit­te« schil­dert, um so­ge­nann­te Zu­falls­mehr­hei­ten mit der AfD zu ver­mei­den. Wenn es dann ei­ni­ge Ma­le auf Län­der­ebe­ne nicht wie ge­wünscht klappt (Ge­büh­ren­er­hö­hung öf­fent­lich-recht­li­cher Rund­funk Sach­sen-An­halt; Grund­er­werbs­steu­er Thü­rin­gen), ver­fällt man in das be­kann­te Mu­ster des Skan­da­lons. For­ma­le Aspek­te ste­hen wie ge­habt im­mer über den In­halt und wer­den zu de­mo­kra­tie­tech­ni­schen Grund­satz­fra­gen hoch­ge­jazzt.

Dass auf die­ser Ba­sis na­tür­lich Fried­rich Merz’ Vor­ge­hen im Ja­nu­ar zum so­ge­nann­ten Fünf-Punk­te-Plan und, we­ni­ge Ta­ge spä­ter, dem »Zu­strom­be­gren­zungs­ge­setz«, in dem er be­wusst die Zu­stim­mung der AfD nicht nur in Kauf ge­nom­men, son­dern ih­nen Ent­schei­dungs­ge­walt zu­ge­stan­den wur­de, ist na­tür­lich der größt­mög­li­che Sün­den­fall für je­man­dem, der über 70 Mal im Buch das Wort von der »Mit­te« ver­wen­det, frei­lich oh­ne auch nur ein­mal ei­ne halb­wegs kon­zi­se De­fi­ni­ti­on hier­für ab­zu­ge­ben. Si­cher, man ahnt, was da­mit ge­meint ist – ins­be­son­de­re wenn dann ein paar Mal fast pa­the­tisch von der »de­mo­kra­ti­schen Mit­te« die Re­de ist. Aber man möch­te schon fra­gen, ob die Ju­so-SPD und die Aud­retsch-Grü­nen tat­säch­lich ernst­haft als po­li­ti­sche Mit­te gel­ten.

Da­her ist es ziem­lich merk­wür­dig, dass der be­ken­nen­de Ukrai­ne-Un­ter­stüt­zer Ro­bin Alex­an­der bei sei­nem Aus­füh­run­gen zur fa­ta­len Gas­ab­hän­gig­keit von Russ­land, in die man sich seit Schrö­der wi­der bes­se­res Wis­sen be­ge­ben hat, die kri­mi­nell zu nen­nen­den Vor­komm­nis­se rund um die »Stif­tung Kli­ma- und Um­welt­schutz MV« und den Ge­nos­sen Ma­nue­la Schwe­sig und Er­win Sel­le­ring mit kei­nem ein­zi­gen Wort er­wähnt (auch ein CDU­ler war üb­ri­gens da­bei). Alex­an­der folgt hier stramm der Li­nie der öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en, die die­sen Skan­dal mit oh­ren­be­täu­ben­dem Schwei­gen be­han­deln, an­geb­lich, wie mir ein Jour­na­list ein­mal schrieb, aus Rück­sicht vor der schwe­ren Krank­heit von Schwe­sig aus dem Jahr 2019 (ich will das nicht glau­ben).

Den Ver­kauf et­li­cher Gas­spei­cher an Gaz­prom nennt Alex­an­der im­mer­hin noch na­iv, nach 2014 spricht er von »Lan­des­ver­rat«. Fol­gen für die Ver­ant­wort­li­chen sind üb­ri­gens auch hier nicht be­kannt; viel­leicht hat man der Ein­fach­heit hal­ber auch gar kei­ne Ver­ant­wort­li­chen ge­sucht. Auch über die dau­ern­den Stör­ma­nö­ver der »Zeitenwende«-Politik durch Leu­te wie Ralf Ste­g­ner ver­liert Alex­an­der kein Wort, son­dern in­sze­niert statt­des­sen Rolf Müt­zenich als ei­ne Mi­schung aus Frak­ti­ons-Pa­te und jo­via­lem Frie­den­s­on­kel, der in­tel­lek­tu­ell und geo­po­li­tisch im Jahr 1983 ste­hen­ge­blie­ben ist. Wie kann man ernst­haft ei­ne SPD, in der sol­che Leu­te wich­ti­ge Funk­tio­nen ein­neh­men, als »Mit­te« ein­ord­nen?

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Das schlech­te Wahl­er­geb­nis der Uni­on führt Alex­an­der auf Merz’ Schwenk im Wahl­kampf zu­rück, die Mi­gra­ti­ons­pro­ble­ma­tik nach dem Aschaf­fen­burg-An­schlag En­de Ja­nu­ar 2025 ins Zen­trum zu rücken. Bei Al­lens­bach hät­te man ihm nach den sehr gu­ten Wer­ten An­fang des Jah­res ge­ra­ten, ei­nen Wirt­schafts­wahl­kampf zu füh­ren. Nach Aschaf­fen­burg ha­be Merz den Schwer­punkt nicht zu­letzt aus emo­tio­na­len Grün­den ver­än­dert und von da an sei die Zu­stim­mung bei den Wäh­lern deut­lich un­ter das an­ge­streb­te Mi­ni­mal­ziel von 30% ge­sun­ken. Aber han­delt es sich wirk­lich um ei­ne Kau­sa­li­tät oder ist es nur ei­ne Kor­re­la­ti­on? Die Fra­ge muss am En­de un­be­ant­wort­bar blei­ben. Zu­mal das wirt­schafts­po­li­ti­sche Kon­zept der Uni­on – fi­nan­ziert haupt­säch­lich mit­tels ima­gi­nä­rem Wachs­tum – selbst wohl­mei­nen­den In­ter­pre­ten als ziem­lich su­spekt er­schie­nen war. Die Skan­da­li­sie­rung von Merz’ Kurs­wech­sel im Wahl­kampf hat al­ler­dings der AfD nicht ge­scha­det. Weil man der Uni­on nicht glaub­te? Im­mer­hin: Die or­che­strier­ten Über­grif­fe auf CDU-Par­tei­zen­tra­len durch von staat­li­cher Bei­hil­fe fi­nan­zier­ter NGOs be­wer­tet Alex­an­der als »Brei­te der Pro­test­be­we­gung«. Er­staun­lich, wie der Mob hier no­bi­li­tiert wird.

Vie­les er­in­nert in die­sem Buch an den Aus­füh­run­gen in den Macht­wech­sel-Pod­casts, die Alex­an­der mit Dag­mar Ro­sen­feld fast wö­chent­lich pro­du­ziert. Hö­rer wie Le­ser wer­den suk­zes­si­ve zum Ge­schäfts­ord­nungs­pro­fi. Man lernt, was ein Ent­schlie­ßungs­an­trag ist, be­kommt die Be­deu­tung ei­nes »Spie­gel­ka­bi­netts« er­klärt, er­fährt war­um ein »Über­schrei­tungs­be­schluss« nichts mit dem »Son­der­ver­mö­gen« zu tun hat, er­kennt den Un­ter­schied zwi­schen »EKF« und »KTF«, wird in die Nu­an­cen in die re­le­van­ten De­tails von »EEG«, »BEG« und »GEG« ein­ge­führt und er­fährt fast ne­ben­bei, wie­viel Geld ei­gent­lich in di­ver­sen Schat­ten­haus­hal­ten an­ge­legt ist (es ist sehr viel!). Man be­kommt vor Au­gen ge­führt, war­um ein Strei­chen um­welt­schäd­li­cher Sub­ven­tio­nen an­schei­nend un­mög­lich ist und lernt noch, dass Haupt­stadt­jour­na­li­sten den Ge­brauch von Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz und Ver­trau­ens­fra­ge des Kanz­lers als Aus­wei­se von Schwä­che se­hen.

Na­he­zu je­de Nu­an­ce der di­ver­sen Sit­zun­gen zwi­schen Scholz, Ha­beck und Lind­ner und de­ren Ab­ge­sand­ten wer­den auf­ge­ar­bei­tet; so­gar, wenn nachts um vier Uhr mor­gens ir­gend­wo Ham­bur­ger ge­kauft wer­den, weil man nach hun­der­ten Sit­zungs­stun­den schlicht­weg im­mer noch un­eins war. Über­all lau­ern Fal­len, or­ga­ni­sa­to­ri­scher, ad­mi­ni­stra­ti­ver und nicht zu­letzt me­dia­ler Art; das sprich­wört­li­che Feil­schen auf ei­nem ori­en­ta­li­schen Markt ist se­ri­ös zu nen­nen im Ver­gleich zu die­sem Ge­scha­cher. Nur ei­nes ge­rät den Po­li­ti­kern und auch den Me­di­en­be­ob­ach­tern nach und nach da­bei aus dem Blick: Die Lö­sung der mehr oder we­ni­ger drin­gen­den Pro­ble­me des Lan­des.

Alex­an­ders Auf­ar­bei­tun­gen sind zu lo­ben. Aber ei­ni­ges er­staunt. Et­wa der Be­fund, die FDP ha­be sich in der Am­pel »nach rechts ent­wickelt«. Hat­te man nicht brav all den Un­sinn à la Selbst­be­stim­mungs­ge­setz mit­ge­tra­gen? In­ter­es­sant ist die Aus­sa­ge, dass der deut­sche Ver­wal­tungs­ap­pa­rat un­ter an­de­rem wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie ef­fek­tiv ge­ar­bei­tet ha­be. Wird da nicht Ef­fek­ti­vi­tät mit Ef­fi­zi­enz ver­wech­selt? Die Em­pö­rung zum Graichen-Ne­po­tis­mus hält Alex­an­der ins­ge­samt für über­zo­gen. Ha­beck kommt von den drei Am­pel-Chefs ins­ge­samt noch am be­sten weg, Lind­ner wird zwi­schen den Zei­len min­de­stens zwei Mal der Lü­ge be­zich­tigt. Fast ne­ben­bei er­fährt der Le­ser, dass das Scholz’ State­ment zum Bruch der Ko­ali­ti­on kei­nes­wegs spon­tan war. Da­her konn­te es auch vom Te­le­promp­ter ab­ge­le­sen wer­den, weil es zwei Ta­ge zu­vor schon ver­fasst war. Al­so auch Scholz log. Und ver­mut­lich nicht nur ein­mal. Er­staun­lich, dass die murks­haf­te Wahl­rechts­re­form nicht be­han­delt wird.

Man­ches ist schlicht falsch. Die Wehr­pflicht wur­de nicht ab­ge­schafft, son­dern nur aus­ge­setzt. Im Ko­so­vo hat­te man kei­ne bos­ni­schen Mus­li­me be­schüt­zen wol­len, son­dern al­ba­nisch spre­chen­de Ko­so­va­ren. Dass die Am­pel-Re­gie­rung die »Ab­hän­gig­keit Deutsch­lands von rus­si­schem Gas« nicht zu ver­ant­wor­ten hat­te, stimmt nur zum Teil: die SPD war hier fe­der­füh­rend (sie­he oben); die Ver­trä­ge zu Nord Stream 1 wur­den noch von Schrö­ders rot-grü­ner Re­gie­rung un­ter­zeich­net.

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Der Ti­tel Letz­te Chan­ce ist die Sum­me der um­fas­sen­den Be­richt­erstat­tung über das Ver­gan­ge­ne als ei­ne Be­schwö­rung ei­ner un­ge­wis­sen Zu­kunft. Die neue Re­gie­rung aus SPD und Uni­on sei, so der Te­nor, zum Er­folg ver­ur­teilt, an­son­sten droh­ten rechts- wie links­po­pu­li­sti­sche Par­tei­en an der näch­sten Re­gie­rung be­tei­ligt zu wer­den. Alex­an­der lässt es sich nicht neh­men, der neu­en Re­gie­rung als Leh­ren aus dem De­sa­ster der Am­pel Rat­schlä­ge zu ge­ben: »Wer ei­ne brei­te po­li­ti­sche Mit­te und da­mit das über Jahr­zehn­te er­prob­te Er­folgs­mo­dell der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­hal­ten will, muss spür­ba­re Ver­än­de­run­gen er­rei­chen. Die neue Bun­des­re­gie­rung muss für mehr wirt­schaft­li­che Wett­be­werbs­fä­hig­keit sor­gen, für ei­ne Grund­si­che­rung, die nicht wie das Bür­ger­geld als un­ge­recht emp­fun­den wird, für ei­ne Mi­gra­ti­on, die das Land nicht über­for­dert, und für ei­nen Kli­ma­schutz, der funk­tio­niert und so­zi­al aus­ge­wo­gen ist.«

Was Alex­an­der über­sieht: Ge­ra­de die ge­bets­müh­len­haf­te Be­schwö­rung der (un­ge­nau de­fi­nier­ten) »Mit­te« stärkt pa­ra­do­xer­wei­se die Rän­der, weil die welt­an­schau­li­chen Dif­fe­ren­zen in­ner­halb der Mit­te-Par­tei­en für die in Ko­ali­tio­nen not­wen­di­gen Kom­pro­mis­se ver­schwim­men. Nicht um­sonst ist das Ad­jek­tiv, dass dem Kom­pro­miss im all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch an­haf­tet, pe­jo­ra­tiv. Es lau­tet »faul«. Wäh­ler der Rand­par­tei­en neh­men Kom­pro­mis­se gar nicht als sol­che wahr, son­dern se­hen sie als Pro­duk­te ei­ner in sich ge­schlos­se­nen, mo­no­li­thi­schen Macht­eli­te, die aus un­ter­ein­an­der aus­tausch­ba­ren Par­tei­en be­steht.

Im deut­schen Ver­hält­nis­wahl­recht sind nun Ko­ali­tio­nen un­ver­meid­bar. Alex­an­der weist dar­auf hin, dass Zer­split­te­run­gen des Par­tei­en­sy­stems (jüng­stes Bei­spiel: BSW) da­zu bei­tra­gen, dass Lö­sun­gen un­ter kon­kur­rie­ren­den Par­tei­en aus­zu­han­deln, im­mer kom­pli­zier­ter zu wird, weil je­de Par­tei zu­erst ih­re Kli­en­tel zu­frie­den stel­len muss. Volks­par­tei­en mit meh­re­ren Flü­geln wer­den hin­ge­gen rasch als zer­strit­ten wahr­ge­nom­men. Die Uni­on kann ein Lied da­von sin­gen. Und die SPD wur­de in den letz­ten Jahr­zehn­ten meh­re­re Ma­le aus­ein­an­der­di­vi­diert.

Ein Blick auf den Bun­des­rat und die dor­ti­gen Mehr­heits­ver­hält­nis­se sei er­laubt: Es gilt dort, Mehr­hei­ten un­ter in­zwi­schen acht Par­tei­en zu fin­den. Die­se Ge­menge­la­ge muss be­reits bei der For­mu­lie­rung von in der Län­der­ver­tre­tung zu­stim­mungs­pflich­ti­gen Ge­set­zen »ein­ge­preist« wer­den – an­dern­falls schei­tert das Ge­setz. Die Li­ste, wann sich bei Ein­brin­gung ei­nes Bun­des­ge­setz­tes zur Ab­stim­mung im Bun­des­rat ein Bun­des­land aus Ko­ali­ti­ons­rä­son ent­hal­ten muss, wird im­mer un­über­sicht­li­cher und er­mög­licht oft gar kei­ne Ei­ni­gungs­mög­lich­kei­ten im frü­her sehr wich­ti­gen und pro­duk­ti­ven Ver­mitt­lungs­aus­schuss.

Es be­steht kein Zwei­fel dar­an, dass die AfD von der neu­rech­ten Sze­ne ge­steu­ert wird. Den­noch steht sie zeit­wei­se bun­des­weit bei 25%, in ei­ni­gen ost­deut­schen Län­dern droht sie bei den näch­sten Wahl­er die (stra­te­gi­sche) Mehr­heit zu er­rei­chen und da­mit An­spruch auf das Amt des Mi­ni­ster­prä­si­den­ten zu er­he­ben. Die von Me­di­en und nicht zu­letzt von der po­li­ti­schen »Mit­te« prak­ti­zier­te Dä­mo­ni­sie­rung, die sich bis hin­ein in Pro­to­koll­k­in­ker­litz­chen er­streckt, ist ge­schei­tert. (Nein, ich möch­te nicht, das AfD-Leu­te im Par­la­men­ta­ri­schen Kon­troll­gre­mi­um sit­zen, aber es macht mir nichts aus, wenn es ei­nen Bun­des­tags-Vi­ze aus der Par­tei ge­ben wür­de.)

Die von der »Mit­te« im Ha­bi­tus der Her­ab­las­sung und Ar­ro­ganz vor­ge­tra­ge­nen Bes­ser­wis­se­rei­en, sei es bei Mi­gra­ti­on, in­ne­re Si­cher­heit oder »Zei­ten­wen­de«, ih­re Über­grif­fig­kei­ten wäh­rend der Pan­de­mie, ha­ben sich als kon­tra­pro­duk­tiv er­wie­sen. Statt zu er­klä­ren und lang­fri­sti­ge po­li­ti­sche Stra­te­gien zu ent­wickeln, wer­den An­ders­den­ken­de oder auch nur Fra­gen­de pau­schal zu De­mo­kra­tie­fein­den oder, in er­schrecken­der Ver­harm­lo­sung den hi­sto­ri­schen Ge­ge­ben­hei­ten ge­gen­über, zu »Na­zis« er­klärt. Dies ruft nicht nur wei­te­re Trotz­re­ak­tio­nen her­vor, son­dern ver­hin­dert längst kon­kre­te par­la­men­ta­ri­sche Ar­beit, et­wa wenn es dar­um geht, Un­ter­su­chungs­aus­schüs­se zu be­an­tra­gen, weil man be­fürch­tet, auch die AfD könn­te zu­stim­men. Auf die­se Wei­se re­giert die AfD längst in­di­rekt mit. (Ähn­li­che Be­rüh­rungs­äng­ste ge­gen­über der Lin­ken hat man nicht; die Par­tei steht, so scheint es, un­mit­tel­bar vor Ein­ge­mein­dung in die »Mit­te«.)

Die letz­te Hoff­nung ist jetzt ein AfD-Ver­bots­ver­fah­ren. Ba­sis hier­für soll wohl der Ver­fas­sungs­schutz­be­richt sein, der, wenn die Leaks stim­men, im We­sent­li­chen aus öf­fent­li­chen Zi­ta­ten von AfD-Prot­ago­ni­sten oder In­ter­pre­ta­tio­nen von Ge­richts­ur­tei­len zu ein­zel­nen Ver­fah­ren be­stehen. Die Fra­ge, wo­hin nach ei­nem er­folg­rei­chen Ver­bot die Wäh­ler ge­hen wer­den, scheint nie­mand zu in­ter­es­sie­ren. Je­der wür­de sie, die einst De­nun­zier­ten, na­tür­lich ger­ne neh­men, aber dass sie in Scha­ren »die Mit­te« wäh­len wer­den, ist aus­ge­schlos­sen. Im­mer­hin hät­te man für ei­ne kur­ze Zeit ei­nen po­li­ti­schen Kon­kur­ren­ten aus dem Weg ge­räumt und viel­leicht für ei­ne Le­gis­la­tur die Macht ge­si­chert. Wahr­schein­lich wird sich ein­fach ei­ne neue Par­tei grün­den – mehr oder we­ni­ger mit den glei­chen Dar­stel­lern und Pro­gramm­punk­ten. Der größ­te an­zu­neh­men­de Un­fall wä­re al­ler­dings das Schei­tern ei­nes sol­chen Ver­bots­ver­fah­rens. Dem vor­zu­grei­fen, droht ei­ne noch mas­si­ve­re In­ter­ven­ti­on der Po­li­tik bei der Be­set­zung neu­er Rich­ter­po­si­tio­nen im Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Phil­ip Ma­now hat ana­ly­siert, wo­hin sol­che Maß­nah­men wo­mög­lich füh­ren kön­nen.

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Christian Schüle: In der Kampfzone
Chri­sti­an Schü­le: In der Kampf­zo­ne

Ein an­de­res Buch kommt mir in den Sinn, er­schie­nen be­reits 2019, vor der Pan­de­mie. Ge­schrie­ben wur­de es von dem Pu­bli­zi­sten Chri­sti­an Schü­le. Es trägt den leicht mar­tia­li­schen Ti­tel In der Kampf­zo­ne und ist ge­nau so ge­meint. »Die Kampf­zo­ne«, so Schü­le, »ist be­stimmt von ei­nem ho­ri­zon­ta­len Kampf (links ge­gen rechts), ei­nem ver­ti­ka­len Kampf (un­ten ge­gen oben) und ei­nem me­ta­phy­si­schen Kampf (li­be­ral ge­gen ideo­lo­gisch).« Und wei­ter: »Das Be­triebs­sy­stem die­ser Kampf­zo­ne ist die Er­re­go­kra­tie: ei­ne nerv­lich über­spann­te, ner­vö­se, manch­mal hy­per­ven­ti­lie­ren­de, von Me­di­en al­ler Art sti­mu­lier­te Dau­er­er­re­gung, die zum ge­ra­de­zu to­ta­len Spek­ta­kel ei­ner Emo­tio­na­li­sie­rung um ih­rer selbst wil­len ge­führt hat.«

Man möch­te oh­ne Un­ter­lass aus die­sem sechs Jah­re al­ten Buch zi­tie­ren, weil es ei­nen im­mer noch gül­ti­gen Be­fund über die po­li­ti­sche und auch ge­sell­schaft­li­che Zer­ris­sen­heit der Bun­des­re­pu­blik lie­fert. Es ist ei­ne Zer­ris­sen­heit, die auch nicht vor der Per­son des Au­tors Halt macht und ihn im­mer wie­der über­mannt. Pro­gram­ma­tisch heißt es: »Ich wen­de mich im Fol­gen­den auf manch­mal scham­los zu­ge­spitz­te, manch­mal arg­los über­trie­be­ne, im­mer aber un­be­stech­li­che Wei­se ge­gen Hy­per- und Dop­pel­mo­ral, Hy­ste­rie und Hy­bris, Pa­nik und Pa­nik­ma­che und die Wi­der­sprü­che ei­nes re­ak­tio­nä­ren Wi­der­stands von al­len Sei­ten auf al­len Sei­ten.« Und er kon­sta­tiert: »Von den mei­sten nicht be­merkt, schlug ir­gend­wann bei mehr Mit­bür­gern als ver­mu­tet Wut in Hass um. Bei­des lässt sich als Re­sul­tat er­lit­te­ner Ohn­macht und ge­kränk­ter Selbst­wirk­sam­keit in­ter­pre­tie­ren, und ent­schei­dend ist […] dass der Vor­rang des Lo­gos, die po­li­tisch ver­han­del­te Ver­nunft, durch den Thy­mos, die vi­ta­li­sie­ren­de wie auch zer­stö­re­ri­sche Le­bens­kraft, in­fra­ge ge­stellt wird (und wo­mög­lich schon ist).«

Es ist ein biss­chen un­fair, ein in wei­ten Tei­len be­schrei­ben­des Buch wie das von Ro­bin Alex­an­der ei­nem ana­ly­ti­schen Es­say ge­gen­über zu stel­len. Es geht mir dar­um fest­zu­stel­len, dass Ap­pel­le oder gar Ver­bo­te die »Kampf­zo­ne« der po­li­ti­schen Wil­lens­bil­dung nicht be­frie­den wer­den. Hier­für be­darf es kon­kre­ter po­li­ti­scher Maß­nah­men. Und ei­nes Jour­na­lis­mus, der sich jen­seits der Er­re­gungs­mo­di be­wegt und we­ni­ger Mei­nun­gen oder Hal­tung ver­brei­tet, son­dern sach­be­zo­gen be­rich­tet und das Ur­tei­len dem Pu­bli­kum über­lässt.

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