Lea Ypi: Frei

Lea Ypi: Frei
Lea Ypi: Frei

Als ich in den 1970er-Jah­ren die Welt des Kurz­wel­len­emp­fangs ken­nen- und lie­ben lern­te, stieß ich zu­erst auf die zahl­rei­chen aus­län­di­schen Sta­tio­nen, die in deut­scher Spra­che sen­de­ten. Sie reich­ten von (dem da­mals sehr be­lieb­ten) Ra­dio Ca­na­da In­ter­na­tio­nal über ei­ne Mis­si­ons­sta­ti­on in Ecua­dor, den bra­si­lia­ni­schen und ar­gen­ti­ni­schen Staats­sen­dern (letz­te­rer war nie zu emp­fan­gen), na­tür­lich der BBC und dem fran­zö­si­schen ORTF, spä­ter Ra­dio France In­ter­na­tio­nal, bis zum ja­pa­ni­schen NHK (auch hier im­mer un­glück­li­che Fre­quenz­wahl) und Ra­dio Pe­king, wo nur ein Emp­fangs­be­richt ge­nüg­te, um für län­ge­re Zeit re­gel­mä­ßig die »Pe­king-Rund­schau« zu er­hal­ten (nicht sel­ten in wie­der­ver­schlos­se­nem Um­schlag). Aber vor al­lem die ost­eu­ro­päi­schen Län­der be­müh­ten sich um deut­sche Zu­hö­rer­schaft; schließ­lich war Kal­ter Krieg, wenn auch Ent­span­nungs­zeit. Das Agi­ta­ti­ons­ni­veau war hier durch­aus un­ter­schied­lich. Wäh­rend Ra­dio Prag und Ra­dio War­schau noch ei­ni­ger­ma­ßen er­träg­lich wa­ren, sah es bei Ra­dio Mos­kau schon ein biss­chen an­ders aus. Gänz­lich un­ge­nieß­bar wa­ren je­doch die deutsch­spra­chi­gen Sen­dun­gen von Ra­dio Ti­ra­na aus Al­ba­ni­en, und zwar nicht, weil die Spre­cher die Spra­che nicht be­herrsch­ten (im Ge­gen­teil), son­dern weil es vor ‑Is­men der­art wim­mel­te, das ei­nem nach kur­zer Zeit der Kopf schwirr­te.

Al­ba­ni­en war un­ge­fähr ab Mit­te der 1970er Jah­re kom­plett iso­liert. En­ver Hox­ha, der kom­mu­ni­sti­sche Staats­füh­rer, hat­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg rasch mit Ju­go­sla­wi­en ge­bro­chen und ver­bün­de­te sich da­nach mit der sta­li­ni­sti­schen UdSSR. In den 1960er Jah­ren schwenk­te man um, trat aus dem War­schau­er Pakt aus und von nun an war Chi­na der Ver­bün­de­te. Schließ­lich brach man auch die­se Ko­ope­ra­ti­on ab; über­all wit­ter­te man Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re oder Ver­rä­ter. Im KSZE-Pro­zess, der 1975 in der Schluss­ak­te von Hel­sin­ki mün­de­te, war es ne­ben An­dor­ra das ein­zi­ge Land, wel­ches nicht teil­nahm. Die Iso­la­ti­on war ge­wollt; Al­ba­ni­en soll­te ein aut­ar­kes Land wer­den. Der An­spruch war, den rei­nen Kom­mu­nis­mus zu im­ple­men­tie­ren. Es war da­mals das, was heu­te Nord­ko­rea ist.

Aus die­sem glück­li­cher­wei­se längst ver­gan­ge­nen Al­ba­ni­en er­zählt nun die 1979 ge­bo­re­ne Lea Ypi in ih­rem Buch »Frei« mit dem pa­the­ti­schen, aber zu­tref­fen­den Un­ter­ti­tel »Er­wach­sen­wer­den am En­de der Ge­schich­te«. Es be­ginnt im De­zem­ber 1990, als die da­mals Elf­jäh­ri­ge, voll­kom­men ma­ni­pu­liert und kon­di­tio­niert durch die Schu­le im Sin­ne der Dok­trin des Par­tei­ap­pa­ra­tes, die über­le­bens­gro­ße Sta­lin-Sta­tue im Park ih­rer Hei­mat­stadt Dur­rës be­sucht und sich be­rauscht an der ihr über­mit­tel­ten Bot­schaft des gut­mü­ti­gen Vä­ter­chens Sta­lin. Merk­wür­dig nur, dass die Fi­gur der Kopf fehl­te. Die Ich-Er­zäh­le­rin Lea (Ähn­lich­kei­ten mit der Au­torin sind nicht nur ge­wünscht, son­dern ge­bo­ten) glaub­te, dass man die­sen zur Re­pa­ra­tur nach den Be­schä­di­gun­gen der letz­ten Ta­ge durch die »Hoo­li­gans« ge­bracht ha­be.

Wei­ter­le­sen ...