Mut­ter­lie­be, Cha­rak­ter­um­kehr und kur­ze Pa­nik

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN MÄRZ 1989

Pa­ris, 6. März, Mon­tag: Strah­len­der Tag, herr­li­che Wär­me, un­glaub­lich schön. Mut­ter klingt schreck­lich schlecht, am Te­le­fon, in Ber­lin ist sie, al­lein­ge­las­sen von Bob1, ent-liebt, de­pri­miert. Ma­che ihr den Vor­schlag, nach Pa­ris zu kom­men. Aus Mit­leid? Ja, in er­ster Li­nie.

Be­glei­te L.2 zu ih­rem En­ga­ge­ment in den »Vogue«-Studios: sie soll Li­mo­nov3 nackt pho­to­gra­phie­ren, für die Con­dé-Nast-Zeit­schrift »Gla­mour«. (...) Durch die un­fass­ba­re Wär­me Rich­tung Thé­at­re de l’Odéon, heu­te ge­lingt mir der er­ste Kon­takt zu den Män­nern.4 Ein Jun­ge spricht mich an, Pas­cal, stellt mich all sei­nen Ha­be­rern5 vor, Ha­kim vor al­lem, ei­nem Was­ser­fall der Re­de- und Er­zähl­lust. La­de sie zu Ca­fé und Men­the-Tee ein, wir spre­chen über mein An­lie­gen, sie zei­gen sich in­ter­es­siert, be­gei­stert, neu­gie­rig. Ha­kim meint, ich müs­se viel über die Tech­nik des Büh­nen­bilds, der Büh­nen­ar­beit nach­le­sen, die zahl­lo­sen Fach­aus­drücke, die Kno­ten, die TABUS der »ma­chi­ni­stes« ken­nen­ler­nen, die vor 200 – 300 Jah­ren meist ehe­ma­li­ge See­leu­te wa­ren. Er zeigt mir den Be­reich ober­halb der Büh­ne, den Schnür­bo­den so­zu­sa­gen, CINTRE ge­nannt. Bin im Um­klei­de­raum der Män­ner, wo die blau-me­tal­le­nen Schrän­ke ste­hen – wie bei Fuß­bal­lern oder Mi­li­tärs. End­lich der er­hoff­te Kon­takt! Wer­de si­cher viel von die­sen Ker­len ler­nen...

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  1. Gemeint sind Jungks Eltern, Ruth und Robert (Bob) Jungk. 

  2. Lillian Birnbaum, Fotografin und Filmproduzentin, seine spätere Frau. 

  3. Ed Limonov, russischer Schriftsteller, später nationalistischer Politiker. Vgl. 'Horror-Wohnungen' 

  4. Im Rahmen seiner Recherchen für den Roman 'Tigor', 1991 im Verlag S. Fischer erschienen, verbrachte Jungk mehrere Monate im Théatre de l’Odéon, um das Leben der Bühenarbeiter, vor allem der am Schnürboden Beschäftigten, näher kennenzulernen. 

  5. Österreichisch/Wienerisch für Freunde. 

Hor­ror-Woh­nun­gen

TAGEBUCHAUFZEICHNUNG JANUAR 1989

3. Ja­nu­ar, Diens­tag: (...) Ich er­le­di­ge Ein­käu­fe, le­se Li­mo­nov1, ho­le ihn dann um ½ 12h von zu­hau­se ab. Wie grau­sig er wohnt, in der Rue de Tu­ren­ne! Die­se win­zi­gen zwei Zim­mer­chen! Die Ur­alt-Schreib­ma­schi­ne. Die re­vo­lu­tio­nä­ren Pla­ka­te an den Wän­den. Ei­ne Zeich­nung, co­mix-ar­tig, von ei­ner Asia­tin, Se­kun­den be­vor sie wo­mög­lich er­schos­sen wer­den wird. Sie bet­telt um Gna­de. AHHH, OHHH!

Wir spre­chen ein we­nig ad sei­nen Bü­chern, sei­nem Le­ben. Sein Ge­sicht halb Ba­by-Face, halb al­ter Mann. Er schreibt auch auf Eng­lisch, aber nor­ma­ler­wei­se Rus­sisch. Sein Nicht-Zu­sam­mens­ein­wol­len mit an­de­ren Exil­rus­sen. Der Va­ter of­fen­bar KGB-Po­li­zist. Sei­ne Lie­be zu ei­ner Ro­ten-Ar­mee-Jacke, so tauch­te er ja da­mals auch in Wien auf2...Sein Plan, vor 5 Jah­ren, ein Buch über Gad­da­fi zu schrei­ben – sein In­ter­es­se für den li­by­schen Re­vo­lu­ti­ons­füh­rer. (...) Der Weih­nachts­baum in sei­ner Hor­ror-Woh­nung über­rascht mich. Sein We­sen viel locke­rer, freund­li­cher, of­fe­ner als zu­letzt. Ein sy­pa­thi­scher, in­ter­es­san­ter Zeit­ge­nos­se. Sei­ne Kurz­mo­no­lo­ge ei­gent­lich im­mer meaningful. Kein lang­wei­li­ger Mensch. Und sei­ne bi­zar­re Bio­gra­phie. Füh­re ihn in die Woh­nung, die L.3 und ihr As­si­stent in ein Stu­dio ver­wan­delt ha­ben – und von 12h – 17h wird Edu­ard ab­ge­lich­tet. Zwi­schen den Auf­nah­men un­se­re Ge­sprä­che – sehr gu­tes Ma­te­ri­al be­reits, z.B. ad 21. Au­gust 19684, sein Streit mit dem (ver­haß­ten?) Va­ter. Edu­ard Li­mo­nov strotzt von Le­ben und Kraft, mit sei­nem nack­ten, mus­ku­lö­sen Ober­kör­per. (...) Ich füh­le mich vergleichs­weise mus­kel­los, mü­de, ver­kühlt, die Schul­tern las­se ich hän­gen...

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  1. Eduard Limonov, russischer Schriftsteller, geboren 1944. Heute ultrarechter Politiker in Moskau, Gründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands. Siehe auch den 2012 erschienenen Roman "Limonov", von Emmanuel Carrère.  

  2. Gemeint ist eine Konferenz der Exilschriftsteller, 1988, während der ich Limonov kennengelernt hatte. 

  3. Lillian Birnbaum fotografierte Limonov für das Magazin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ich schrieb dazu den Text. Unser Artikel erschien am 24. Februar 1989. 

  4. Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei.