
Tagebuch vom Ende der Welt
Natalja Kljutscharjowa ist 41 Jahre alt, schreibt Gedichte, Theaterstücke, organisiert Performances und gibt Literaturworkshops. Sie hat zwei Kinder und lebt in Jaroslawl, einer mehr als tausend Jahre alten Stadt, 300 km von Moskau entfernt. Auf dem Bild im soeben von ihr erschienenen Tagebuch vom Ende der Welt sieht man eine nachdenklich schauende Frau mit Hoodie und Lederjacke. Nach der Lektüre dieses von Ganna-Maria Braungardt übersetzten Buches von noch nicht einmal zweihundert Seiten schwankt man zwischen Bewunderung vor und Angst um diese Autorin.
Denn diese nimmt in ihrem im Februar 2022 begonnenen und ein Jahr später abgeschlossenen tagebuchähnlichen Notizen, Beobachtungen, Erzählungen und selbstverfassten Gedichten keine Rücksichten, am wenigsten, wie es scheint, auf sich selber. Die erste, die ihr vom Überfall Russlands auf die Ukraine Mitteilung macht ist Lisa, die Deutschlehrerin. Kljutscharjowa kann das zunächst nicht glauben, ist schockiert. Und sofort sieht sie sich in eine Rechtfertigungssituation gedrängt: »Ich bin nicht schuld an dem, was geschieht. Ich habe diesen Präsidenten nicht gewählt. […] Ich bin nicht schuld daran, dass ich nicht im Gefängnis sitze. Ich bin nicht schuld daran, dass ich nicht ins Gefängnis will. Ich bin nicht schuld dran, dass ich zwei Kinder habe, die allein wären, sollte ich bei einer nicht genehmigten Kundgebung verhaftet werden…«
Dieses von Scham und Duldungsschuld getragene Bekenntnis wird sie über den gesamten Zeitraum immer wieder neu definieren. Aber sie will auch nicht schweigen, will vor sich selber bestehen, nicht Teil dieser russischen Politik und dieser lethargischen Gesellschaft sein. Monate später – man hat sich notdürftig eingerichtet mit der Situation – fragt sie, ob man mit sporadisch organisierten Auftritten oder Lesungen nicht in Wirklichkeit das System, »das Böse«, stütze, die Illusion der Normalität aufrecht erhalte. »Oder widersetzen wir uns im Gegenteil dem Bösen. Zum Beispiel, indem wir Menschen eine Atempause gewähren, sie für anderthalb Stunden aus der Depression holen […], sie daran erinnern, dass es im Leben noch etwas anderes gibt als diese schrecklichen Nachrichten, dass es größer und weiter ist als dieser endlose Albtraum, und dass es darum Hoffnung gibt, dass er doch nicht endlos wären wird?«
Die Überlegung ist nicht neu; sie ergab sich beispielsweise auch in Deutschland nach dem Krieg, als Schauspieler und Filmemacher der UFA-Zeit (zumeist vorsichtig) befragt wurden, wie sie guten Gewissens im »Dritten Reich« all diese Filme, darunter wenn nicht Propaganda- so doch Durchhaltefilme drehen konnten. Auch sie sprachen vom Ablenken, von Atempausen, von »Unterhaltung«. Aber der Vergleich hinkt, hier ist es anders, denn Kljutscharjowa und ihre Freunde wollen nicht eine Masse narkotisieren – die erreichen sie gar nicht und wenn dies so wäre, dann würden sie vorher verhaftet -, sie wollen der Barbarei die Kunst gegenüberstellen.