Si­mon Strauß: In der Nä­he

Simon Strauß: In der Nähe
Si­mon Strauß: In der Nä­he

Es be­ginnt mit ei­ner me­lan­cho­li­schen Er­in­ne­rung an ei­ne Auf­füh­rung sei­ner Thea­ter AG von Thorn­ton Wil­ders Un­se­re klei­ne Stadt. Ein »sanf­tes Dra­ma« über Lie­be und Leid statt Gier und Angst nennt Si­mon Strauß die­ses Stück von 1938, ein »Gleich­nis über das Glück der Dau­er«. An­de­re wür­den es ei­ne Hom­mage an die Pro­vinz nen­nen. Strauß nimmt es als Vor­la­ge zu Über­le­gun­gen über das po­li­ti­sche Mit­ein­an­der in ei­ner glo­ba­li­sier­ten, un­über­sicht­li­chen Welt jen­seits fest ze­men­tier­ter Mei­nungs­kor­ri­do­re. In der Nä­he heißt das Buch des Ro­man­ciers und FAZ-Re­dak­teurs und es ist ei­ne Mi­schung aus Re­por­ta­ge, Streit­schrift, Ma­ni­fest und bis­wei­len so­gar Uto­pie.

Grover’s Ryle, die klei­ne Stadt bei Wil­der, ist ein Ort der Ge­mein­schaft, ei­ne klei­ne »Po­lis«. In der An­ti­ke be­stan­den Städ­te aus rund 20.000 Men­schen, ähn­lich dem Ort im Stück. Die Stadt ist ein ur-po­li­ti­sches Phä­no­men; sie be­steht aus Bür­gern (dar­in ist das Wort Burg ent­hal­ten). Die­se ken­nen sich, küm­mern sich, ar­ran­gie­ren sich. Strauß ist 1988 ge­bo­ren, wuchs in der Ucker­mark auf. Die Di­cho­to­mie zu Ost ge­gen West be­kam er über­lie­fert. In­ter­es­sant, wenn er er­zählt, wie un­be­darft man einst ei­ne LPG-Fah­ne als Zelt­decke be­nutzt ha­be. Erst wäh­rend ei­nes In­ter­nats­auf­ent­halts in Neu­see­land, im Spott der »Far­ming Boys«, die ihn mit Hit­ler-Gruß und Fra­gen nach der Mau­er kon­fron­tier­ten, än­der­te sich das.

Das »Ban­den-Ge­fühl«, das sich wäh­rend der Thea­ter AG ent­wickel­te, war rasch vor­bei. Nach dem Ab­itur kam das schnel­le »Aus-den-Au­gen-ver­lie­ren«. Auch Strauß jet­te­te für Bil­dung und Be­ruf um­her. Aber die Idee der Ge­mein­schaft, wie sie sich in Wil­ders Stück zeigt, lässt ihn nicht los. Strauß wohnt in Ber­lin und in der Ucker­mark; in der Nä­he liegt Prenz­lau, nicht zu ver­wech­seln mit dem Ber­li­ner Stadt­teil Prenz­lau­er Berg, je­ner »Mo­de­kiez, des­sen gut­si­tu­ier­te Dop­pel­mo­ral ger­ne mit La­sten­rad und Pri­vat­schul­be­such cha­rak­te­ri­siert wird«. Prenz­lau hat Po­lis-Grö­ße, wur­de erst­mals 1138 er­wähnt, hat­te in ih­rer Blü­te­zeit sie­ben Kir­chen und drei Klö­ster und galt im 15. Jahr­hun­dert als »Haupt­stadt der Ucker­mark«. Zwei Jah­re wird Si­mon Strauß die­sen Ort im­mer wie­der be­su­chen, als »Bür­ger in der Nach­bar­schaft, der sich für ei­ne Fra­ge be­son­ders in­ter­es­siert: Wie ist im Zei­chen wach­sen­der Selbst­ge­rech­tig­keit und di­gi­tal be­feu­er­ter Schmählust noch Ge­mein­schaft mög­lich?«

Es be­ginnt mit dem 27. Sep­tem­ber 2023, der 28. Sit­zung der 6. Wahl­pe­ri­ode des Ucker­mär­ker Kreis­tags. Der Raum ist über­füllt; zahl­rei­che Men­schen ver­fol­gen das Ge­sche­hen drau­ßen über Laut­spre­cher. (Spä­ter wird er­klärt, war­um es schon ein Po­li­ti­kum ist, die Sit­zung zu strea­men.) Es geht um ein zwei­tes Flücht­lings­heim in Prenz­lau. Vor der Sit­zung hat­te die AfD ein Bür­ger­be­geh­ren in­iti­iert; es lag über­all in der Stadt aus. Die Fra­ge war sug­ge­stiv ge­stellt, das Er­geb­nis ein­deu­tig. Von den rund 19.000 Ein­woh­nern sam­mel­te man mehr als 15.000 Stim­men, die da­ge­gen wa­ren. Nach ei­ner Prü­fung blie­ben 13.030 Un­ter­schrif­ten be­stehen. Die CDU und auch der par­tei­lo­se Bür­ger­mei­ster Hen­drik Som­mer (*1970) sind eben­falls da­ge­gen. Man ha­be, so das Ar­gu­ment, im Ver­gleich zu den an­de­ren Kom­mu­nen, das Soll über­erfüllt. Som­mer wird ge­schil­dert als Küm­me­rer, der zum Bei­spiel auch zu den Flücht­lin­gen geht, mit ih­nen re­det, Bro­schü­ren ver­teilt, die in »meh­re­ren Spra­chen und mit rüh­ren­den Bunt­vö­gel-Bil­dern il­lu­striert« auf »neur­al­gi­sche Pro­blem­punk­te des kul­tu­rel­len Mit­ein­an­ders« ver­wei­sen.

Rasch steht fest: Das Bür­ger­be­geh­ren ist nich­tig. Die CDU-Land­rä­tin Ka­ri­na Dörk er­klärt, war­um. Es geht um »die bran­den­bur­gi­sche Kom­mu­nal­ver­fas­sung, kon­kret auf die An­nah­me, dass es sich bei der Auf­nah­me von Ge­flüch­te­ten ‘gem. § 2 Abs. 1 LAufnG; § 15 Abs. 5 Nr. 1 BbgK­Verf um ei­ne Pflicht­auf­ga­be des Land­krei­ses zur Er­fül­lung nach Wei­sung des Lan­des han­de­le’ «. »Er­fül­lung nach Wei­sung des Lan­des«. Ei­ne heik­le Ar­gu­men­ta­ti­on auf »staats­dik­ta­to­risch er­fah­re­nem Bo­den«, fin­det auch Strauß und zi­tiert Gram­sci: »Wenn die herr­schen­de Klas­se den Kon­sens ver­lo­ren hat, das heißt nicht mehr füh­rend, son­dern ein­zig herr­schend ist, be­deu­tet das ge­ra­de, dass die gro­ßen Mas­sen (…) nicht mehr an das glau­ben, wor­an sie zu­vor glaub­ten.«

Ge­nüss­lich brei­ten die an­we­sen­den AfD-Leu­te ih­re Ar­gu­men­ta­ti­on da­ge­gen aus. Das Wort führt Fe­lix Teich­ner, 1991 ge­bo­ren, »Land­tags­ab­ge­ord­ne­ter der AfD, Vor­stands­vor­sit­zen­der des AfD-Kreis­ver­ban­des Ucker­mark und mitt­ler­wei­le auch im Vor­stand der bran­den­bur­gi­schen Lan­des-AfD«. Er ist im Ge­gen­satz zu sei­nen Zu­ar­bei­tern und dem über­ra­schend an­we­sen­den Jür­gen El­säs­ser, in Prenz­lau auf­ge­wach­sen. An­der­wei­tig sei­en sol­che Volks­be­geh­ren ak­zep­tiert wor­den, sagt Teich­ner und nennt lau­ter Bei­spie­le aus an­de­ren Bun­des­län­dern, die an­de­re Ver­fas­sun­gen ha­ben.

Die Land­rä­tin spricht von ei­ner »Pflicht­auf­ga­be«, die man zu er­fül­len ha­be, for­mu­lier­te al­ler­dings noch ei­nen Kom­pro­miss. Statt 300 »Asyl­su­chen­de« sol­len nur 180–200 un­ter­ge­bracht wer­den. Mit 27 ge­gen 11 Stim­men (bei 2 Ent­hal­tun­gen) wird das Bür­ger­be­geh­ren für nicht zu­läs­sig er­klärt. Die ent­spre­chen­den In­sti­tu­tio­nen wer­den an­ge­wie­sen, die neue Un­ter­kunft zu bau­en. Der Ge­dan­ke ei­ner Be­gren­zung auf drei Jah­re fin­det sich im Be­schluss dann nicht mehr. Am En­de wird die AfD wahr­ge­nom­men als die­je­ni­gen, die sich um die In­ter­es­sen der Be­völ­ke­rung küm­mern, wäh­rend an­de­re nur Be­schlüs­se aus­zu­füh­ren ha­ben, die aus dem in man­cher Hin­sicht fer­nen Ber­lin kom­men.

Strauß sieht das Er­geb­nis der Sit­zung als recht­mä­ßig an (was sie for­mal si­cher­lich auch ist) und po­si­tio­niert sich als Geg­ner ei­ner di­rek­ten De­mo­kra­tie, in der Ent­schei­dun­gen per Mehr­heits­ent­scheid um­ge­setzt wer­den. Er kri­ti­siert den ehe­ma­li­gen öster­rei­chi­schen In­nen­mi­ni­ster und FPÖ-Mann Kickl für die Aus­sa­ge »Das Recht hat der Po­li­tik zu fol­gen, und nicht die Po­li­tik dem Recht.« Ich hät­te lie­ber ge­habt, er hät­te sich mit Phil­ipp Ma­now be­schäf­tigt, der »die Sug­ge­sti­on, die Geg­ner der De­mo­kra­tie sei­en […] je­weils auf Sei­ten der Po­li­tik zu fin­den, die Ver­tei­di­ger der De­mo­kra­tie hin­ge­gen auf Sei­ten des Rechts« als »ein­sei­tig und da­mit ideo­lo­gisch« ver­wirft und die Ver­recht­li­chung der Po­li­tik kri­tisch sieht und mit Ar­gu­men­ten und Bei­spie­len be­fragt.

Als auf dem Prenz­lau­er Neu­jahrs­emp­fang 2024 die da­ma­li­ge Mi­ni­ste­rin für Fi­nan­zen und Eu­ro­pa Ka­rin Lan­ge (SPD) den Satz »Man kann nicht auf Dau­er ge­gen ei­ne Mehr­heit Po­li­tik ma­chen« un­ter to­sen­dem Ap­plaus spricht, wit­tert Strauß fast re­flex­haft ein »völ­ki­sches Ge­rech­tig­keits­ge­fühl«. Da­mit wer­de sug­ge­riert, »die Herr­schaft des Vol­kes kön­ne be­deu­ten, dass sei­ne In­ter­es­sen zu je­der Zeit durch­ge­setzt wer­den müss­ten.« Strauß hält ein Plä­doy­er für die re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie, die eben auch »po­li­ti­sche Herr­schaft, die durch­aus auch in­di­vi­du­ell ab­ge­lehn­te, nicht von Um­fra­gen ge­deck­te Aspek­te um­fasst« und »für ei­ne Mehr­heit im Gan­zen aus­halt­bar« ma­chen soll.

Spä­ter wird er kon­sta­tie­ren, dass sich ein ge­wis­ses »Grund­miss­trau­en in In­sti­tu­tio­nen« zei­ge. Und zwar nicht nur bei den Rech­ten, son­dern auch Links. Ei­ne Ab­ge­ord­ne­te der Lin­ken stimm­te für den AfD-An­trag, weil sie das Bür­ger­vo­tum ak­zep­tiert. Und spä­ter wird der »Vor­sit­zen­de der Prenz­lau­er LINKEN Jörg Ditt­ber­ner« zi­tiert, der ger­ne »ein paar Wer­te wie­der­ha­ben« möch­te, »die in Prenz­lau wäh­rend der DDR-Zeit gal­ten.« Es gibt sie im­mer noch oder wie­der, die »Er­fah­run­gen von Ohn­macht«. Die Flücht­lings­kri­se 2015 et­wa, aber auch Co­ro­na. Wo­zu, so stellt sich die Fra­ge, gibt es denn über­haupt so et­was wie Kom­mu­nal­po­li­tik, wenn dort nur Exe­ku­to­ren sit­zen, die »Wei­sun­gen« zu er­fül­len ha­ben? Die Fra­ge wird spä­ter, wenn Strauß sei­ne gran­dio­se Phil­ip­pi­ka für die Nä­he for­mu­liert, re­le­vant wer­den.

Zu­nächst re­fe­riert Strauß über die Ge­schich­te der Stadt und por­trai­tiert ei­ni­ge Prenz­lau­er Bür­ger. Er zeigt an­hand des im Jah­re 2000 in Sy­ri­en ge­bo­re­nen Flücht­lings Ham­za Alb­dei­wi, der seit 2020 in Deutsch­land lebt und sich un­be­dingt vom »Stig­ma des ali­men­tier­ten Flücht­lings, der dem deut­schen Staat auf der Ta­sche liegt« be­frei­en will, wie die­ser mit den Hür­den der Bü­ro­kra­tie zu kämp­fen hat. Er möch­te ei­ne Aus­bil­dung im Kran­ken­haus ma­chen. Im­mer wenn er ei­ne Be­din­gung er­füll­te, ei­ne Qua­li­fi­ka­ti­on von ihm er­wor­ben wur­de, kam die näch­ste Hür­de. Schließ­lich wa­ren al­le Aus­bil­dungs­plät­ze be­legt. Alb­dei­wi wird die Stadt ver­las­sen und nach Pa­se­walk oder Schwedt ge­hen. Dort nimmt man ihn.

Da ist die Pfar­re­rin, die lie­ber »Pfar­rer­per­son« ge­nannt wer­den möch­te und die Kir­che als »Schutz­raum für die be­ken­nen­de Mo­ral­ge­mein­de« sieht. Sie sieht sich als Mo­de­ra­to­rin, aber AfD-Leu­te müs­sen bei ihr drau­ßen blei­ben. Ob sie Lk 18, 9–14 kennt? Strauß trifft sich mit drei ehe­ma­li­gen Mit­ar­bei­tern des Ar­ma­tu­ren­werks Prenz­lau, lässt sich ih­re Ge­schich­te er­zäh­len, ih­re De­mü­ti­gun­gen durch die Treu­hand­an­stalt nach der Wen­de, die rasch die Fi­let­stücke an West­fir­men ver­kau­fen woll­te. Aber sie ha­ben es ge­schafft, trotz dro­hen­der In­sol­venz: Die AMP sind jetzt Teil der GEA-Grup­pe und mit ih­ren 112 Mit­ar­bei­tern pro­fi­ta­bel; Fach­kräf­te wer­den wei­ter­hin ge­sucht. Was sie 1990 ver­miss­ten? Schu­lun­gen sa­gen sie; Ba­sics, wie der Ka­pi­ta­lis­mus funk­tio­niert und wel­che Fal­len es gibt. So blieb nur Ver­such und Irr­tum. Er be­sucht Hen­drik Som­mer, den all­seits be­lieb­ten und prag­ma­ti­schen Bür­ger­mei­ster, der um Ver­trau­en wirbt, sich selbst als »Kerl« be­zeich­net und glaubt, dass es noch ein­mal ei­ne Re­vo­lu­ti­on aus Ost­deutsch­land ge­ben könn­te. Spä­ter über­rascht er mit der An­kün­di­gung, nicht noch ein­mal zur Bür­ger­mei­ster­wahl an­zu­tre­ten.

Be­son­ders in­ter­es­sant ist der re­por­ta­ge­haf­te Be­richt über die Be­geg­nung mit Fe­lix Teich­ner, dem AfD-Mann. Strauß ist ver­un­si­chert, über­legt so­gar, ob er ihm die Hand ge­ben soll. Teich­ner muss­te pro­zes­sie­ren, um von der Stadt ein al­tes Haus in Gü­stow, ei­nem Stadt­teil von Prenz­lau, er­wer­ben und sa­nie­ren zu kön­nen. Al­les, was der Re­por­ter sieht, wird ge­wich­tet, Pla­ka­te an den Wän­den oder das Mo­ped, im Osten im­mer noch ei­ne Art Frei­heits­sym­bol (Grü­ße vom ma­ro­den ÖPNV!). 2016 tritt Teich­ner der AfD bei. Zwei Jah­re spä­ter kehrt er vom We­sten nach Prenz­lau zu­rück. Er spricht sanft, setzt sich für ei­ne »po­li­ti­sche Neu­tra­li­tät der Be­hör­den« ein, »ist Mit­glied bei der Frei­wil­li­gen Feu­er­wehr, Vor­sit­zen­der ei­nes re­gio­na­len Na­tur­schutz­ver­ban­des und hat zur Er­neue­rung der Flut­licht­an­la­ge auf dem Sport­platz Bun­des­mit­tel ein­ge­wor­ben.« Er ist da; prä­sent. An­hand ei­ner ver­un­glück­ten Kurz­re­de von Teich­ner vor dem bran­den­bur­gi­schen Lan­des­par­la­ment kon­sta­tiert Strauß: »Es ist das Vor­zei­chen ei­nes nach der Macht grei­fen­den Non­kon­for­mis­mus. Ei­nes osten­ta­tiv her­aus­ge­stell­ten Au­ßen­sei­ter­tums, das po­li­ti­sche An­zie­hungs­kraft ent­wickelt.« Es ist, so möch­te man er­gän­zen, nicht nur das Selbst­bild ei­nes Au­ßen­sei­ters – die an­de­ren be­stär­ken es noch, spie­len ihm da­mit in die Hän­de.

Teich­ner ist das Ge­gen­stück sei­nes Schul­freun­des, dem AfD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Han­nes Gnauck, der eher dem Kli­schee des AfD­lers ent­spricht und dem der Bun­des­tag ir­gend­wann sei­ne Ab­ge­ord­ne­ten-Im­mu­ni­tät ent­zo­gen hat (da­mit es der Le­ser be­hält, schreibt es Strauß drei Mal). Teich­ners Ant­wort auf die Fra­ge, was »Deutsch-Sein« sei, klingt ge­mä­ssigt und Strauß ist ir­ri­tiert, als er wei­ter Ent­la­sten­des wahr­nimmt, et­wa Teich­ners An­sich­ten zu ei­ner öko­lo­gi­schen Land­wirt­schaft oder der gleich­ge­schlecht­li­chen Ehe. Er wit­tert Ar­ran­ge­ments, et­wa wenn auf dem Kla­vier die No­ten von »Schrei nach Lie­be« von den »Ärz­ten« auf­ge­schla­gen liegt. Dann die Fra­ge zum Ukrai­ne-Krieg. Teich­ner ist auf AfD-Li­nie, rät der Ukrai­ne in­di­rekt zur Auf­ga­be. Dann die Über­ra­schung: Ge­fragt, was er tun wür­de, wenn Frank­reich Deutsch­land über­fal­len wür­de, sagt er: »Wenn die­ses Land an­ge­grif­fen wird, wo­her auch im­mer, dann wer­de ich mei­ne Kin­der schnap­pen und so weit weg­ge­hen wie mög­lich.« Strauß tran­skri­biert die­sen Aus­schnitt. Der AfD-Mann wür­de al­so nicht »sein Land« ver­tei­di­gen wol­len. Teich­ner wä­re dann ein Flücht­ling und wür­de in »ei­nem – hof­fent­lich ge­ra­de nicht von ei­nem Volks­ent­scheid ver­hin­der­ten – Flücht­lings­heim in der Frem­de woh­nen« wol­len, merkt Strauß süf­fi­sant an. Feig­heit oder Ehr­lich­keit? In je­dem Fall be­mer­kens­wert.

Nach den Kom­mu­nal­wah­len im Ju­ni 2024 wird die AfD 16 von 50 Sit­zen im Kreis­tag des Land­krei­ses Ucker­mark ein­neh­men, »in der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung ist sie mit 36,3 Pro­zent zur stärk­sten Kraft ge­wählt wor­den, die CDU liegt 13 Pro­zent­punk­te da­hin­ter.« Teich­ner über­legt, ob er als Land­rat kan­di­die­ren soll, spricht ge­gen­über Strauß von der »schwie­rig­sten Ent­schei­dung« sei­nes Le­bens. Thea­tra­lik.

Im Sep­tem­ber 2025 wird über­ra­schend be­schlos­sen, dass die neue Flücht­lings­un­ter­kunft nicht ge­baut wird. Sie sei, so die Be­grün­dung, auf­grund der sin­ken­den Asyl­zah­len nicht mehr not­wen­dig. Die Ent­schei­dung fiel un­mit­tel­bar vor dem Ur­teil des Ge­richts, ob das Bür­ger­be­geh­ren doch noch an­er­kannt wird.

Strauß trifft sich mit Ma­thi­as Platz­eck, dem ehe­ma­li­gen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten Bran­den­burgs, der, was vie­le ver­stört, wie ei­ni­ge an­de­re SPD-Leu­te wei­ter­hin Kon­tak­te mit Russ­land pflegt. Platz­eck sei, so Strauß, im­mer noch ein »zu­packend-nach­denk­li­cher« Po­li­ti­ker. Er ruft »in Er­in­ne­rung, wie nah die Ge­schich­te dem ost­deut­schen Be­wusst­sein noch ist: Dik­ta­tur­er­fah­rung, Fried­li­che Re­vo­lu­ti­on und Wie­der­ver­ei­ni­gung, drei un­ter­schied­li­che Wäh­run­gen, Ver­lust der Ar­beit, Ver­lust der so­zia­len Zu­sam­men­hän­ge, Ab­wan­de­rung, Zu­kunfts­angst – all das ha­be oft in we­ni­ger als der Hälf­te ei­nes Le­bens statt­ge­fun­den.« Im Osten (aber nicht nur dort) lei­de man am »Über­druss an ab­strak­ten Fort­schritts­vor­stel­lun­gen«. »Na­hes Kön­nen und nah­ba­re Kön­ner« stün­den »hö­her im Kurs […] als welt­be­mäch­ti­gen­de Uto­pien«. Was ver­misst wer­de, so der Te­nor, sei­en Pro­blem­lö­sun­gen im Hier und Jetzt, vor Ort.

Hier­für, so fol­gert Strauß, bräuch­te es Nä­he. Bei der Kreis­tags­sit­zung vom Sep­tem­ber 2023 und dem Neu­jahrs­emp­fang war nur ein MdB aus der Re­gi­on da­bei – der Mann von der AfD. Die an­de­ren hat­ten an­schei­nend wich­ti­ge­res zu tun. Ein­mal schaff­te es der SPD-MdB nach Prenz­lau – wäh­rend des Wahl­kampfs 2024 war er mit Olaf Scholz in der Kir­che. Strauß’ Ur­teil über die­ses Tref­fen ist ver­nich­tend.

Prenz­lau dient in die­sem Buch als Bei­spiel, als Mög­lich­keit. »Ich glau­be an den po­li­ti­schen Wert der Nä­he«, bi­lan­ziert Si­mon Strauß und baut auf das, was er ge­se­hen und ge­hört hat. Es brau­che An­we­sen­heit, Au­gen­kon­takt, Hand­schlag, Zeit. Man soll­te sich den »Zoo­b­lick« auf die Pro­vinz ab­ge­wöh­nen, so Strauß, der (den bis­her nicht ins Deut­sche über­setz­ten So­zio­lo­gen) Be­ne­dict An­der­son mit »com­ra­de­ship of be­lon­ging« ins Spiel bringt. »Nur, wenn der We­sten den Blick vom Ho­ri­zont löst und da­für sei­nem Ge­gen­über ein biss­chen län­ger in die Au­gen schaut, wenn er des­sen Wun­den nicht nur be­mit­lei­det, son­dern auch be­staunt, wenn er des­sen po­li­ti­schen Wil­len nicht nur als non­kon­for­me Ab­wei­chung, son­dern auch als erup­ti­ves Le­bens­zei­chen zu ver­ste­hen sucht, wird er dem Osten nä­her­kom­men.«

Kurz ist die­ser Op­ti­mis­mus an­steckend. Strauß’ Nä­he­ap­pell könn­te, wür­de er um­ge­setzt, das po­li­ti­sche und so­zi­al­ge­sell­schaft­li­che Kli­ma die­ses Lan­des hei­len. Aber das ist weit ent­fernt von der Rea­li­tät, denn ei­nen wich­ti­gen Spie­ler hat der Au­tor nur am Rand er­wähnt. Es sind die Me­di­en – nicht nur die rasch (und oft zu Recht) ver­teu­fel­ten so­ge­nann­ten so­zia­len Me­di­en mit ih­ren »Hy­per­re­ak­tio­nen« (An­ne­kath­rin Ko­hout). Ge­meint sind je­ne, de­nen man einst Ver­trau­en ent­ge­gen­brach­te, die al­ler­dings in vie­len der be­schrie­be­nen jün­ge­ren kri­sen­haf­ten Si­tua­tio­nen des Lan­des mehr oder we­ni­ger ver­sagt ha­ben. Und so bleibt am En­de Strauß’ Be­ob­ach­tung der Prot­ago­ni­sten bei je­ner Sit­zung aus dem Jahr 2023 und ih­rer »Be­reit­schaft zur ge­gen­sei­ti­gen Ver­ach­tung« haf­ten. Man muss sich dar­über fürch­ten.

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