Ru­dolf von Wal­den­fels: In die Nacht

Rudolf von Waldenfels: In die Nacht
Ru­dolf von Wal­den­fels:
In die Nacht

Ein Mann (Mit­te 40/Anfang 50) be­kommt die Dia­gno­se Bla­sen­krebs, und hat, so die Ärz­te, viel­leicht nur noch ein Jahr zu le­ben. Die Ver­zweif­lung ist groß, die Welt bricht zu­sam­men. Dann, nach ei­ner Ope­ra­ti­on, die über­ra­schen­de Ent­war­nung: Der Krebs »hat­te ein we­sent­li­ches Sta­di­um doch noch nicht er­reicht«, er kommt »aus der Sa­che« »mehr oder min­der un­be­scha­det« her­aus, oh­ne Che­mo­the­ra­pie oder Be­strah­lung. Ein neu­es Le­ben. Und nun?

Ro­bert von Wal­den­fels zeigt uns den der­art dem Tod ent­ron­ne­nen Ich-Er­zäh­ler in sei­nem Ro­man In die Nacht zu­nächst als de­pres­si­ven, lust­lo­sen Ta­ge­ver­plem­pe­rer. Va­ge ist von ei­ner Frau und Kin­dern die Re­de, aber die spie­len kaum ei­ne Rol­le, es geht um ihn. Wel­cher Tä­tig­keit er nach­geht, er­fährt man eben­falls nicht ge­nau; es könn­te ei­ne jour­na­li­sti­sche sein. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat­te er, wie man ne­ben­bei er­fährt, ei­ne gro­ße Schau­spie­ler-Kar­rie­re aus­ge­schla­gen und war für Jah­re aus Deutsch­land ver­schwun­den.

Das al­les er­fährt man im kas­ka­di­schen Ge­dan­ken­strom des Er­zäh­lers, der zu Be­ginn in ei­nem her­un­ter­ge­kom­me­nen Ge­bäu­de, das viel­leicht einst von Gren­zern be­nutzt wur­de, auf­ge­wacht ist. Hier ist sein »Re­fu­gi­um jen­seits von Raum und Zeit«, das »Haus der ver­ges­se­nen Träu­me«. Hier ver­bringt er im­mer wie­der sei­ne Näch­te, in ei­nem Raum, der leicht nach Kot riecht und auch sonst al­les an­de­re als ein­la­dend be­schrie­ben wird, aber er er­fährt ei­ne Art »Hei­lung«. Und jetzt ran­da­lie­ren auf dem Ge­län­de jun­ge Män­ner, wer­fen Fla­schen, ha­ben ihn zum Glück nicht ent­deckt und der Le­ser be­kommt die gan­ze Ge­schich­te, nein: die vie­len Ge­schich­ten er­zählt, die ihn nach sei­ner Apa­thie zu ei­nem fast ob­ses­si­ven Nacht­ge­her wer­den lie­ßen, der im­mer wie­der auf­brach, auch mit ho­hem Fie­ber de­li­rie­rend oder ver­stauch­tem Fuß her­um­hum­pelnd. Bis­wei­len un­ter­nimmt er stun­den­lan­ge Zug­fahr­ten, lässt sich trei­ben, fährt, geht, wan­dert in und durch die Nacht, kam­piert im Zelt im als Ka­the­dra­le emp­fun­de­nen Wald und lässt sein und das Le­ben an­de­rer Re­vue pas­sie­ren.

Es ist die Form, die von Wal­den­fels für die­ses Er­zäh­len fin­det, die den Le­ser mit­reißt, aber auch ei­ne ge­sun­de An­stren­gung ver­langt. Ge­ra­de noch be­ob­ach­te­te er die Vor­gän­ge um sein Haus, dann die Er­in­ne­rung an sei­ne Auf­ent­hal­te in New York, als 20jähriger, Op­fer ei­nes Raub­über­falls und Jah­re spä­ter, in­zwi­schen Athe­ist aus »hoch­mü­ti­ger Ge­nug­tu­ung«, die Be­su­che in ei­ner afro­ame­ri­ka­ni­schen Kir­che eben da, die ek­sta­ti­sche Freu­de der Teil­neh­mer, die ihn mit ver­ein­nah­men, we­nig spä­ter ei­ne groß­ar­ti­ge Im­pres­si­on vom süd­li­chen Teil des Oden­walds. Zwi­schen­durch ei­ne Lek­tü­re, ein E‑Book über den Op­fer­kult der Az­te­ken, Schil­de­run­gen, vom ri­tu­el­len Tö­ten von 20.000 Men­schen in vier Ta­gen und Näch­ten, der­art gru­se­lig, dass er auf­hört zu le­sen. Plötz­lich ei­ne Sze­ne aus der Kind­heit, in der er von sei­ner Schwe­ster vor dem prü­geln­den Va­ter in Schutz ge­nom­men wird, hin­über nach In­di­en und in den Hi­ma­la­ya, schließ­lich wie­der zu­rück bei der Schwe­ster, die in ih­rem Zim­mer ei­ne Fels­ma­le­rei ei­nes »›Tan­zen­den Scha­ma­nen‹ aus der Trois-Frè­res-Höh­le in Süd­frank­reich« und ein Le­nin-Bild an der Wand hän­gen hat­te. Es ent­steht ein groß­ar­ti­ges, weh­mü­ti­ges, er­grei­fen­des Por­trait ei­ner Frau, die sich der Kunst un­ter­ord­ne­te und da­für be­reit war, bis zur Selbst­zer­stö­rung al­les, in­klu­si­ve prü­geln­de Män­ner, hin­zu­neh­men.

Kei­ne Zeit für Er­grif­fen­heit (die muss man sich als Le­ser neh­men), denn schon geht es wei­ter, man dann von dem Her­um­ge­hen im Spree­wald an ei­nem Ja­nu­ar­tag, die Welt war »leer ge­bla­sen von der ei­si­gen Käl­te«, gar nicht so sel­te­ne, ex­zes­siv er­leb­te Glücks­mo­men­te, in bis­wei­len wun­der­schö­nen nacht­im­pres­sio­ni­sti­schen Bil­dern und mit der Zeit geht der an­fangs ängst­li­che Er­zäh­ler im­mer ver­trau­ens­vol­ler in die Dun­kel­heit. Mal ist man in Ber­lin bei Ham­za, ei­nem Sy­rer, der seit 40 Jah­ren in Deutsch­land lebt, über 70 Jah­re alt ist, mit zahl­rei­chen Frau­en vi­deo­chat­tet, deut­sche Ge­dich­te aus­wen­dig re­zi­tiert und lei­der nicht be­son­ders er­gie­big ist, was sein Nah­tod­erleb­nis bei ei­nem Herz­in­farkt an­geht, denn au­ßer Schmer­zen war da nichts. Mal be­ginnt er ei­ne Prü­ge­lei mit LKW-Fah­rern auf ei­nem Park­platz, ent­deckt die Kunst des Über­ra­schungs­an­griffs, be­vor es durch Lehm­ge­län­de ir­gend­wo in Sach­sen-An­halt geht und un­ver­hofft die Er­in­ne­rung an Su­san­ne ein­bricht, ei­ne frü­he­re Mit­schü­le­rin, der er kurz vor sei­ner drit­ten Ope­ra­ti­on be­geg­net war. Sie war wie auch im­mer zu Wohl­stand, viel­leicht auch Reich­tum ge­kom­men, und er er­in­nert sich an die Su­san­nes Ver­wand­lung, die vom Mau­er­blüm­chen mit un­mög­li­chen Kla­mot­ten nach ei­nem Selbst­mord­ver­such plötz­lich durch­star­te­te und Schü­ler­spre­che­rin wur­de. Er wird mit ihr nach Be­sich­ti­gung des von ihr er­wor­be­nen Land­hau­ses schla­fen. Im­mer mehr Lehm sam­melt sich un­ter sei­nen Schu­hen, es ist der Drang nach vor­ne und dann fällt der ei­ne Satz, un­ver­hofft, un­pas­send, schnei­dend: »Ein Jahr nach un­se­rer Be­geg­nung nahm sich Su­san­ne das Le­ben.«

In­ein­an­der­grei­fen­des Er­zäh­len, über- und ne­ben­ein­an­der ge­sta­pelt wie Kar­tons, die zwar ge­öff­net wer­den, aber de­ren In­halt sich erst nach und nach er­schließt, manch­mal auch gar nicht. Die­ses Ver­fah­ren wird nur zwei Mal für drei bzw. sie­ben Sei­ten un­ter­bro­chen. Beim Auf­fä­chern der Ver­wand­ten ver­bleibt der Er­zäh­ler am En­de beim Groß­va­ter vä­ter­li­cher­seits und zi­tiert aus des­sen Auf­zeich­nun­gen. Zu­nächst ist es ei­ne Ta­ge­buch­ein­tra­gung von 1932 über den Be­such ei­ner Ver­samm­lung mit Adolf Hit­ler. Er, der Groß­va­ter (»A. v. W.«), sitzt wi­der­wil­lig dort, kann mit dem »vul­gä­ren Em­por­kömm­ling« nichts an­fan­gen. Er ist we­ni­ger als zwan­zig Me­ter von ihm ent­fernt und schockiert, dass die­ser häss­li­che, lin­ki­sche Mann wo­mög­lich dem­nächst die Ge­schicke des Rei­ches be­stim­men könn­te. Dann legt die­ser mit sei­ner Re­de los. Und al­les ver­än­dert sich. Er wird wie auch im­mer in den Bann ge­zo­gen und schließ­lich Par­tei­gän­ger der Na­zis, spä­ter, in be­reits hö­he­rem Al­ter, so­gar Pi­lot und voll­bringt ei­ni­ge »Hel­den­ta­ten«.

Fast noch skur­ri­ler ist die zwei­te Bin­nen­er­zäh­lung. Der Groß­va­ter plan­te für die Zeit nach dem Krieg, sei­ne Er­leb­nis­se als Buch zu pu­bli­zie­ren. Ab­ge­druckt wird ein Text von ihm, in dem aukt­ori­al über ei­nen Pi­lo­ten er­zählt wird, der am 15. Ju­li 1943 ab­ge­schos­sen wur­de und der mit sei­ner Ma­schi­ne »hin­ter den so­wje­ti­schen Li­ni­en« auf­kam. Haar­klein und in al­len De­tails wird ge­schil­dert, wie die­ser Pi­lot, ein Ma­jor, dem Tod un­um­kehr­bar nä­her kommt, die nach­las­sen­den Kör­per- und Or­gan­funk­tio­nen mit­er­lebt, oh­ne ein­schrei­ten zu kön­nen. Ver­stö­rend dar­an ist, dass vor­her be­haup­tet wur­de, der Groß­va­ter sei ex­akt am 15. Ju­li 1943 ab­ge­schos­sen wor­den. Die Ma­schi­ne soll al­ler­dings, so heißt es, noch der Luft ex­plo­diert sein. Die sich er­ge­ben­den Fra­gen blei­ben un­be­ant­wor­tet. Hat­te der Groß­va­ter sei­nen To­des­tag vor­weg­ge­nom­men? Oder ist der Er­zäh­ler un­zu­ver­läs­sig? Letz­te­res wird bis­wei­len sug­ge­riert, weil nicht im­mer klar ist, ob es sich um ei­ne Er­schei­nung, ei­nen Traum oder Rea­li­tät han­delt.

Ein rea­li­sti­scher Er­zäh­ler ist hier nicht am Werk; dies gilt es zu ak­zep­tie­ren. Dann fragt man auch nicht nach au­to­bio­gra­phi­schen Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen dem Ich und dem Au­tor, auch wenn sie, was die Er­kran­kung an­geht, zu­tref­fen mag. Es ist am En­de un­er­heb­lich, ob der Er­zäh­ler da und dort war, die­sen La­den be­sucht hat oder nicht. Dem Le­ser bleibt nur ei­ne Auf­ga­be: Sich dem Sog die­ser Ein­drücke von Nacht, Däm­me­rung, Blitz, Don­ner, Käl­te, Un­ge­wiss­heit und Mond­licht hin­zu­ge­ben. Dann kann das ge­sche­hen, was dem Er­zäh­ler im Ide­al­fall pas­siert: ein »rausch­ar­ti­ger Zu­stand«.

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