Pa­trick Mo­dia­no: Die Tän­ze­rin

Patrick Modiano: Die Tänzerin
Pa­trick Mo­dia­no:
Die Tän­ze­rin

Un­längst fei­er­te der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Pa­trick Mo­dia­no sei­nen 80. Ge­burts­tag. Seit Mit­te der 1970er Jah­ren wer­den sei­ne Bü­cher in Deutsch­land pu­bli­ziert – in meh­re­ren Ver­la­gen und von ei­ni­gen Über­set­zern, un­ter an­de­rem auch Pe­ter Hand­ke, der zeit­wei­se die Mo­dia­no-Bü­cher nach Suhr­kamp brach­te, be­vor sie bei Han­ser und Über­set­ze­rin Eli­sa­beth Edl ei­ne Heim­statt be­kom­men ha­ben. Mit den Jahr­zehn­ten sind sei­ne Ro­ma­ne zu klei­nen, luf­tig-duf­ti­gen Er­zäh­lun­gen ge­wor­den, die um Er­in­ne­rung, Zä­su­ren und ge­schei­ter­te (oder ge­lun­ge­ne) Le­bens­ent­wür­fe krei­sen. Auch im neu­en Ro­man Die Tän­ze­rin (wie ge­habt über­setzt von Eli­sa­beth Edl) spielt die Er­in­ne­rung und de­ren Un­zu­ver­läs­sig­keit ei­ne wich­ti­ge, ei­gent­lich die ent­schei­den­de Rol­le. Zeit und Bil­der ver­wi­schen, aber ge­ra­de hier­in scheint der Reiz zu lie­gen, der we­ni­ger dar­in be­steht, sich prä­zi­se zu er­in­nern, son­dern trotz oder ge­ra­de mit den bruch­stück­haf­ten Bil­dern so et­was wie ei­ne »ewi­ge Ge­gen­wart« zu er­zeu­gen, wie es fast eu­pho­risch am En­de des Bu­ches heißt.

Es be­ginnt mit ei­nem Mann, den der Ich-Er­zäh­ler zwi­schen all den Touristen-»Horden« in Pa­ris zu ent­decken glaubt: sei­nen ehe­ma­li­gen Ver­mie­ter von vor 50 (oder mehr) Jah­ren. Lei­der kann sich der der­art an­ge­spro­che­ne Mann we­der an ihn noch an die vor­ge­brach­ten Er­eig­nis­se er­in­nern, gibt ihm aber ei­nen Zet­tel mit Te­le­fon­num­mern und Adres­se.

Ab jetzt läuft die Bil­der­ma­schi­ne. An­fang der 1970er Jah­re, der Er­zäh­ler war Chan­son­tex­ter, mach­te er die Be­kannt­schaft ei­ner Frau, die stets die Tän­ze­rin ge­nannt wird. Sie nahm Bal­lett­un­ter­richt im Stu­dio Wacker, ei­gent­lich ein »ver­lot­ter­tes« Ge­bäu­de, aber die Schu­le hat­te ei­nen gro­ßen Klang. Leh­rer war der Exil-Rus­se Bo­ris Kni­as­eff, des­sen Me­tho­den und Mo­ti­va­tio­nen be­rühmt wa­ren. Die Tän­ze­rin hat­te ei­nen da­mals sieben‑, acht­jäh­ri­gen Sohn Pierre und da ist der Flash, als Pierre aus Biar­ritz mit dem Zug an­kam und von sei­ner Mut­ter, dem Er­zäh­ler und Ho­vi­ne, mit dem die Tän­ze­rin zu­sam­men­leb­te, be­grüßt wur­de. Da war die Scheu zwi­schen Mut­ter und Sohn, sei­ne Schüch­tern­heit, die ver­mut­lich er­sten Ein­drücke Pier­res von Pa­ris. Die Tren­nung von der Mut­ter »muss­te lang ge­we­sen sein«, denn, so heißt es in ty­pi­scher Mo­dia­no-La­ko­nik, »sie wuss­te nicht, was sie ihm sa­gen soll­te.«

Der Un­ter­richt, das Bal­lett, war für die Tän­ze­rin ein neu­es Le­ben, ei­ne Wie­der­ge­burt, oder, bes­ser: über­haupt ei­ne Ge­burt. Sie hat­te sich dem Bal­lett ver­schrie­ben. »Durch den Tanz hat­te sie al­les ver­ges­sen.« Aber die Zeit wur­de ge­trübt durch Nach­stel­lun­gen von zwei Brü­dern, die Fra­gen nach dem Vor­le­ben der Tän­ze­rin auf­kom­men lie­ßen. Sie öff­ne­te sich schließ­lich dem Ver­mie­ter, der die Ge­spen­ster der Be­lä­sti­gun­gen ir­gend­wie ab­schaff­te.

Ir­gend­wann zog der Er­zäh­ler in die Woh­nung, zur Tän­ze­rin und Pierre. Aber dass man sich an­ge­freun­det hat­te, wä­re über­trie­ben. Es war ein Mit­ein­an­der-Le­ben, sie struk­tu­rier­ten den All­tag. Fra­gen wa­ren »sinn­los«, wur­den nicht ge­stellt; man war­te­te dar­auf, dass man sich dem an­de­ren öff­ne­te. Mal ge­schah es, mal nicht. Wenn bei­spiels­wei­se von den Ki­no­gän­gen des Prot­ago­ni­sten mit Pierre die Re­de ist, wird vor al­lem das ge­mein­sa­me Schwei­gen her­vor­ge­ho­ben. Mo­dia­no er­zählt ge­nau das wun­der­bar.

Die Tän­ze­rin trat auch auf, be­gann ein Ver­hält­nis mit ei­nem Tän­zer, aber nur bis zur Pre­mie­re. Der Er­zäh­ler be­kam ei­nen Auf­trag ei­nes skur­ri­len Ver­le­gers. Er soll­te ein eng­li­sches Buch über­set­zen und ihm ei­ni­ge Ka­pi­tel hin­zu­fü­gen. Es war sein er­ster Kon­takt mit Li­te­ra­tur. Er ver­such­te, den Kunst­wil­len der Tän­ze­rin auf sei­nen Li­te­ra­tur­enthu­si­as­mus zu über­tra­gen.

So un­scharf die Er­in­ne­run­gen sind, so dif­fus das En­de. Der Er­zäh­ler wüss­te ger­ne, was aus Pierre ge­wor­den ist, aber er kennt sei­nen Nach­na­men nicht. Auch von den Tän­ze­rin er­fährt man nichts wei­ter; Kni­as­eff, der tat­säch­lich exi­stie­ren­de Bal­lett­leh­rer, ver­starb 1975. Aber das ist al­les nicht wich­tig, be­kennt der Er­zäh­ler am 8. Ja­nu­ar 2023, mehr als 50 Jah­re nach den Ge­scheh­nis­sen. Die ewi­ge Ge­gen­wart be­schert ihm die im­mer ab­ruf­ba­re Er­in­ne­rung an die Christ­nacht mit Pierre und der Tän­ze­rin.

Wie im­mer spielt auch die To­po­gra­phie von Pa­ris ei­ne Rol­le. Der Er­zäh­ler ha­dert mit der Ent­wick­lung der Stadt, sie ist ihm fremd ge­wor­den. For­mal han­delt der klei­ne, sze­nisch an­ge­leg­te Ro­man von Er­in­ne­rung, von Zei­ten, die nicht ma­te­ri­ell, aber mensch­lich be­rüh­rend wa­ren. Und es ist ei­ne Ge­schich­te ei­ner un­er­füll­ten, un­ein­ge­stan­de­nen Lie­be. Wie Mo­dia­no in die­sen we­ni­gen, skiz­zen­haf­ten Epi­so­den der­art wuch­ti­ge, an­rüh­ren­de Evo­ka­tio­nen her­bei­phan­ta­sie­ren kann, die für al­le Zei­ten Gel­tung be­an­spru­chen – das ist die gro­ße Kunst ei­nes gro­ßen Dich­ters.

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