Mar­tin Prinz: Die letz­ten Ta­ge

Martin Prinz: Die letzten Tage
Mar­tin Prinz: Die letz­ten Ta­ge

Seit ei­ni­gen Jah­ren fei­ert das do­ku­fik­tio­na­le Schrei­ben ei­ne Re­nais­sance. Schrie­ben einst Wil­liam Shake­speare oder Fried­rich Schil­ler ih­re Dra­men an­ge­lehnt an hi­sto­ri­sche Er­eig­nis­se, die meist zeit­lich weit zu­rück la­gen, so konn­te man in der letz­ten Zeit ver­mehrt bio­gra­fisch an­ge­leg­te Ro­ma­ne et­wa über die Na­tur­wis­sen­schaft­ler Karl-Fried­rich Gauß und Alex­an­der Hum­boldt, den Sin­ti-Bo­xer Jo­hann Ru­ke­lie Troll­mann, den Hell­se­her Ra­fa­el Scher­mann, die RAF-Ter­ro­ri­stin Gud­run Ens­slin, den Aus­stei­ger Au­gust Karl En­gel­hardt, den Film­re­gis­seur Ge­org Wil­helm Pa­bst oder den Re­li­gi­ons­pre­di­ger Pe­ter Ben­der le­sen (um nur ei­ni­ge zu nen­nen). Hier wer­den die Le­bens­ge­schich­ten mehr oder we­ni­ger be­kann­ter, hi­sto­ri­scher Per­so­nen (nach)erzählt. Dich­te­ri­sche Frei­hei­ten sind da­bei vor­pro­gram­miert, wie man bei­spiels­wei­se an Da­ni­el Kehl­manns Ver­mes­sung der Welt und Licht­spiel se­hen kann. Hier wird of­fen­siv mit fik­ti­ven Ele­men­ten ge­spielt, wo­bei das Bio­gra­fi­sche sei­ner Prot­ago­ni­sten nur als Ge­rüst dient. Meist wird je­doch in Do­ku­fik­tio­nen sug­ge­riert, dass das sich Ge­schil­der­te so (oder so ähn­lich) er­eig­net hat. Um sich nicht in die dro­hen­de Au­then­ti­zi­täts­fal­le zu be­ge­ben, gibt es Bü­cher, in de­nen die Na­men der rea­len Per­so­nen ver­frem­det wur­den, was nar­ra­ti­ve Spiel­räu­me für den Au­tor er­öff­net.

Do­ku­fik­tio­na­le Tex­te sind in mehr­fa­cher Hin­sicht de­li­kat, wie man bei­spiels­wei­se an Stel­la von Ta­kis Wür­ger zei­gen kann. Wür­ger schreibt im jour­na­li­sti­schen Kol­por­ta­ge­stil die Ge­schich­te der Jü­din Stel­la Gold­schlag, die im Zwei­ten Welt­krieg an­de­re Ju­den an die Na­zis ver­riet. Wäh­rend die Li­te­ra­tur­kri­tik das Buch über­wie­gend äs­the­tisch miss­lun­gen fand, avan­cier­te es zum Best­sel­ler, was ein­zel­ne Buch­händ­ler ver­an­lass­te, die Kri­ti­ker zu kri­ti­sie­ren. Die größ­te Pro­ble­ma­tik des Au­tors, der Au­torin, be­steht dar­in, nicht über­lie­fer­te Ein­zel­hei­ten, bei­spiels­wei­se Dia­lo­ge oder die Schil­de­rung von (wo­mög­lich rich­tungs­wei­sen­den) si­tua­ti­ven Be­find­lich­kei­ten, er­fin­den zu müs­sen, um die Ge­schich­te fort­zu­schrei­ben. Hier flie­ßen häu­fig Wer­tun­gen un­mit­tel­bar ein. Der Le­ser kann am En­de nur schwer un­ter­schei­den, wel­che Stel­len des Tex­tes re­al und wel­che fik­tio­na­li­siert sind. Bis­wei­len wird ver­sucht, Über­lie­fe­rung und Fik­ti­on durch die Än­de­rung des Schrift­bilds zu kenn­zeich­nen. Ge­ne­rell be­steht die Ge­fahr, dass das Bild ei­ner hi­sto­ri­schen Fi­gur durch ei­nen do­ku­fik­tio­na­len Text rich­tungs­wei­send ka­no­ni­siert wird.

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Mit die­sen Vor­be­hal­ten mach­te ich mich an die Lek­tü­re von Die letz­ten Ta­ge von Mar­tin Prinz. Der Au­tor ließ mir Mit­te Fe­bru­ar das Buch über den Ver­lag zu­kom­men. Un­mit­tel­bar dar­auf be­gan­nen vor al­lem in den öster­rei­chi­schen Me­di­en die hym­ni­schen Be­spre­chun­gen, die ich nur ge­teasert zur Kennt­nis ge­nom­men hat­te. End­lich fand ich jetzt Mu­ße, den (ver­meint­li­chen) Ro­man zu le­sen.

Mar­tin Prinz schil­dert in ei­nem kur­zen Nach­wort den Weg, den der »Stoff« bis zu ihm ge­nom­men hat­te. Zu­nächst ver­fass­te ein ge­wis­ser Dr. Alo­is Ker­mer ba­sie­rend auf sei­nen 1993 be­gon­ne­nen Nach­for­schun­gen ein Ma­nu­skript, wel­ches sich mit der Ge­schich­te der Kur­ge­mein­de Rei­chen­au wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus be­fass­te. Ker­mer hat­te fest­ge­stellt, dass die Hei­mat­bü­cher für die Na­zi-Zeit ei­ne Leer­stel­le aus­wie­sen und man be­auf­trag­te ihn mit der Auf­ar­bei­tung. Er sich­te­te »Ak­ten und Pro­to­kol­le, er forsch­te nach Le­bens­da­ten, Zeit­zeu­gen, be­fragt Über­le­ben­de und Nach­kom­men der To­ten« und »glich Do­ku­men­te aus Aus­sa­gen« ab, in dem er die Pro­zess­ak­ten ab 1945 aus­wer­te­te. Ker­mer war 1944 Ju­rist am Land­rats­amt Neun­kir­chen und kann­te ei­ni­ge der Prot­ago­ni­sten. Kranks­heits­be­dingt war er nicht di­rekt in die ge­schil­der­ten Vor­gän­ge in­vol­viert, dien­te je­doch nach dem Krieg als Zeu­ge vor Ge­richt und wur­de zu den An­ge­klag­ten be­fragt. Das Er­geb­nis sei­ner Re­cher­chen ließ der da­mals 89jährige der Ge­mein­de 2002 un­ter dem Ti­tel Er­in­ne­run­gen an Rei­chen­au a. d. Rax in schwer­ster Zeit zu­kom­men. Die Re­ak­ti­on war er­wart­bar: Mit ei­ner Pu­bli­ka­ti­on war nicht zu rech­nen.

Im­mer­hin si­cher­te sich der Stan­des­amts­lei­ter Her­mann Scher­zer kurz vor Ker­mers Tod 2006 ei­ne Ko­pie des Ty­po­skripts, das er schließ­lich 2014 an Mar­tin Prinz über­gab. Als die­ser sich dem Stoff end­lich wid­men woll­te, wur­de er durch ei­ne Di­plom­ar­beit von Mar­tin Zell­ho­fer aus dem Jahr 2008 auf­merk­sam, der Volks­ge­richts­pro­zes­se drei­er An­ge­klag­ter ab 1947 the­ma­ti­sier­te. Prinz ging nun sel­ber ins Ar­chiv, um die Ge­richts­ak­ten zu sich­ten und aus­zu­wer­ten.

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Der größ­te Teil von Die letz­ten Ta­ge be­steht in der Kom­pi­la­ti­on der Re­cher­chen des bis heu­te un­ver­öf­fent­lich­ten Ker­mer-Ma­nu­skripts und den Pro­zess­ak­ten der Jah­re 1947 und 1948 ge­gen »Kreis­lei­ter« Jo­hann Braun (*1896), »SA-Stan­dar­ten­füh­rer« Jo­sef We­nin­ger (*1899) und »HJ-Ober­bann­füh­rer« Jo­hann Wall­ner (*1909).

Braun er­hielt im April 1945 den Auf­trag für den Kreis Neun­kir­chen (Nie­der­öster­reich) ein Stand­ge­richt ein­zu­set­zen. Die von den Na­zis hier­zu vor­ge­se­he­nen ju­ri­sti­schen Grund­vor­aus­set­zun­gen (ein Rich­ter, ein Staats­an­walt) wa­ren je­doch auf­grund der Kriegs­si­tua­ti­on (die Rus­sen rück­ten lang­sam, aber ste­tig vor) nicht ge­ge­ben. Braun und sei­ne Kum­pa­ne in­ter­es­sier­te dies nicht. Das Stand­ge­richt dien­te als Macht­in­stru­ment. Es kam zu Ver­haf­tun­gen von schon län­ger als un­lieb­sam emp­fun­de­nen Per­so­nen mit er­fun­de­nen oder auf­ge­bausch­ten, auf De­nun­zia­tio­nen ba­sie­ren­den »De­lik­ten« wie po­li­ti­sche Un­zu­ver­läs­sig­keit, Spio­na­ge oder »De­ser­ti­on«, weil sich zum Bei­spiel je­mand nach ei­ner Krank­mel­dung nicht zu­rück ge­mel­det hat­te. Der blo­ße Ver­dacht ge­nüg­te. Braun, Wall­ner der We­nin­ger ge­bär­de­ten sich als Rich­ter, An­klä­ger und »Ver­tei­di­ger«, teil­wei­se in Per­so­nal­uni­on.

Da­bei wur­den die Ver­haf­te­ten zu­nächst häu­fig in trü­ge­ri­scher Si­cher­heit ge­wiegt. Sie kä­men bald frei, wur­de ih­nen sug­ge­riert, das sei al­les ein Irr­tum. Aber dann er­folg­te die Will­kür, der Ter­ror. Die »Ver­ge­hen« wa­ren lä­cher­lich, an den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen und im Pro­zess klingt an, dass mit dem »Stand­ge­richt« end­lich ei­ne Mög­lich­keit ge­fun­den wur­de, mit be­stimm­ten Per­so­nen ab­zu­rech­nen und sich ge­ge­be­nen­falls de­ren (Immobilien-)Besitz an­zu­eig­nen. In den letz­ten Ta­gen des Re­gimes wur­den von Braun, We­nin­ger, Wall­ner und sei­nen Hel­fers­hel­fern, die Gosch, Ir­schik, Lan­gecker, No­wot­ny, Paus­pertl, Stein­metz oder wie auch im­mer hie­ßen und die fa­na­ti­sier­te 16–17jährige HJ­ler kom­man­dier­ten fol­gen­de Per­so­nen er­mor­det: Ma­ria Czu­ba, Jo­han­na Eggl, An­na Fi­scher, An­na Frindt, Ma­ria Habie­ti­nek, Wen­zel Hof­mann, La­dis­laus Hro­zek, Ma­ria Ka­ra­sek, Ro­man Kneissl, Perl­ja Koch, Ma­ria Lands­korn, Jo­hann und Ma­ria Reif­böck, Herr Schranz, Ignaz Som­mer, Al­fons Sterk, Dr. Jo­sef Thal­ler, Eli­sa­beth und Ol­ga Waissnix, Ma­ria und Os­kar Wam­merl, The­re­sia Weiz­bau­er.

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Mar­tin Prinz be­rich­tet, nein: er er­zählt, von den Schick­sa­len die­ser Per­so­nen und setzt ih­nen ein Denk­mal. Die Art und Wei­se wie hier er­zählt wird, ist von ei­ner der­art au­ßer­ge­wöhn­li­chen In­ten­si­tät, das man wäh­rend der Lek­tü­re ge­bannt al­le Zeit und al­les Drum­her­um ver­gisst. Die Aus­sa­gen der An­ge­klag­ten und Zeu­gen und die Ein­las­sun­gen des je­wei­li­gen Rich­ters bei den Pro­zes­sen wer­den je nach Op­fer zu­sam­men­ge­stellt. Prinz stellt da­bei ge­ra­de­zu ex­zes­siv den ins­be­son­de­re von den An­ge­klag­ten, aber auch von zahl­rei­chen Zeu­gen, die be­fürch­ten muss­ten, durch ih­re Ver­strickun­gen eben­falls an­ge­klagt zu wer­den, vor­ge­brach­ten Kon­junk­tiv in den Vor­der­grund. Es ist die Spra­che des Ge­rüchts, des schein­ba­ren Wis­sens oder Un­wis­sens, der Lü­ge, des Ab­wie­gelns. Sie schie­ben Er­in­ne­rungs­lücken vor, müs­sen, wenn sie der Lü­ge über­führt wer­den, zu­rück­ru­dern. Zu­ge­ge­ben wird nur das nicht mehr zu Leug­nen­de. Na­tür­lich wer­den auch »Un­be­kann­te« ins Feld ge­führt, ir­gend­wel­che SS-Män­ner, die man vor­her und nach­her nie ge­se­hen hat­te. Je­der Win­kel­zug wird ver­sucht. Bis­wei­len streut der Er­zäh­ler die Nach­fra­gen des je­wei­li­gen Rich­ters ein und mo­niert ak­tiv, war­um man in die­sem oder je­nem Punkt nicht nach­ge­fragt ha­be.

Es ist pa­ra­do­xer­wei­se die­ser Tho­mas Bern­hard-haf­te Kalk­werk-Kon­junk­tiv, der ei­nen enor­men Le­se­sog er­zeugt und auf­recht er­hält – trotz der Scheuß­lich­kei­ten, die zum Teil de­tail­liert aus­ge­brei­tet wer­den. Zwi­schen den auf­ge­ar­bei­te­ten Do­ku­men­ten streut der Er­zäh­ler im­mer wie­der li­te­ra­ri­sche Ima­gi­na­tio­nen ein. Et­wa letz­te Au­gen­blicke der­je­ni­gen, die plötz­lich wis­sen, dass sie ver­lo­ren sind. Oder Op­fer wer­den di­rekt an­ge­re­det. Das ist be­son­ders be­rüh­rend beim Schick­sal des 17jährigen Ro­man Kneissl, der fei­ge er­schos­sen wird, als er dem Wahn­sinn na­he in To­des­angst ein­fach weg­lief. Ge­gen En­de ver­sucht sich er Er­zäh­ler in die Alo­is Ker­mer hin­zu­den­ken.

Prinz hü­tet sich als Er­zäh­ler, die Ta­ten zu­sätz­lich zu kom­men­tie­ren. Die Er­zäh­lun­gen spre­chen für sich. Auch wenn an­de­re Ver­bre­cher ver­ur­teilt und (ent­ge­gen da­mals gel­ten­dem Recht) nach we­ni­gen Jah­ren be­reits vor­zei­tig ent­las­sen und in die Ge­sell­schaft auf­ge­nom­men wer­den, als wä­re nichts ge­we­sen, bleibt es beim Be­richts­ton. Nur wenn es dar­um geht, dass den Op­fern nicht ein­mal ei­ne Er­in­ne­rungs­ta­fel zu­ge­stan­den wur­de, schwingt plötz­lich Em­pö­rung mit.

Be­son­ders de­tail­liert wur­de die Er­mor­dung von Ignaz Som­mer ver­han­delt, der mit ei­ner rus­si­schen Arm­bin­de mit der Auf­schrift »Po­li­zei« auf­ge­grif­fen wor­den war. Al­lei­ne die Art und Wei­se der Ver­haf­tung und Über­stel­lung an das Stand­ge­richt wird von meh­re­ren Zeu­gen un­ter­schied­lich dar­ge­stellt. Im Ge­gen­satz zu den mei­sten Ver­ur­teil­ten soll­te Som­mer nicht er­schos­sen, son­dern er­hängt wer­den. In der Ver­hand­lung wur­de nun ver­sucht, den Ab­lauf der Hin­rich­tung zwei­fels­frei fest­zu­stel­len, weil et­li­che Zeu­gen lo­gen oder sich in Er­in­ne­rungs­not flüch­te­ten. Als man vor Ort fest­zu­stel­len glaub­te, dass Ignaz Som­mer noch nicht tot war, schoss ihm »Kreis­or­ga­ni­sa­ti­ons­lei­ter« Ro­man Gosch (*1916) in den Kopf. Es wur­de für den Pro­zess ein Gut­ach­ter be­stellt, der auf­grund der (zum Teil wi­der­sprüch­li­chen) Zeu­gen­aus­sa­gen über die Art und Wei­se der Hin­rich­tungs­an­la­ge fest­stel­len woll­te, ob Ignaz Som­mer be­reits tot ge­we­sen war, als er den Schuss er­hielt. An­son­sten wä­re es Mord ge­we­sen. Schließ­lich war es der Staats­an­walt, der Gosch nur der »Lei­chen­schän­dung« für schul­dig fand, was nach den Ein­las­sun­gen der an­de­ren Zeu­gen und des Gut­ach­ters zu­vor höchst merk­wür­dig an­mu­tet. Gosch wur­de schließ­lich zu le­bens­lan­gem »Ker­ker« ver­ur­teilt, wur­de je­doch 1953 be­gna­digt.

Ei­ne Son­der­stel­lung nimmt der Po­li­zist Hein­rich Spiel­bich­ler ein, der zwar NSDAP-Mit­glied wur­de, um Po­li­zist blei­ben zu kön­nen, aber sich im­mer als So­zi­al­de­mo­krat sah. En­de März 1945 brach­te er sei­ne Fa­mi­lie vor den her­an­kom­men­den Rus­sen in Schwarz­au in Si­cher­heit. Als er zu sei­nem Hei­mat­ort Glogg­nitz zu­rück­keh­ren woll­te, wa­ren dort be­reits die Rus­sen. Er zog die Uni­form aus, ging zu­rück nach Schwarz­au und mel­de­te sich dort auf der Gen­dar­me­rie, wo man ihm ei­ne neue Uni­form aus­hän­dig­te. Er er­reg­te aber Miss­trau­en, weil er in Zi­vil an­ge­kom­men war. Schließ­lich kam er in die Stand­ge­richt-Müh­le, galt zeit­wei­lig als Fah­nen­flüch­ti­ger. Nach län­ge­rer Be­ra­tung zwang man ihn zu­nächst bei der Exe­ku­ti­on an­de­rer To­des­ur­tei­le da­bei zu sein. Er will vor­bei­ge­schos­sen ha­ben. Wä­re es nach Wall­ner und We­nin­ger ge­gan­gen, wä­re er auch hin­ge­rich­tet wor­den. Braun setz­te sich je­doch durch und man schick­te ihn an die Front. Spiel­bich­ler schrieb nach den Er­eig­nis­sen Ge­dächt­nis­pro­to­kol­le und es wird hier­aus aus­gie­big zi­tiert. Der Über­le­bens­in­stinkt half ihm – wi­der­wil­lig muss­te er kurz ge­gen die Rus­sen kämp­fen, aber meh­re­re Er­kran­kun­gen und schließ­lich ei­ne küh­ne Flucht ret­te­ten ihn.

Paul Kla­mer (*1906), der bei Prinz ge­mäß den Pro­zess­ak­ten und Ker­mers Be­richt »Klam­mer« ge­nannt wird, und Franz Ple­chard (*1903) wa­ren for­mal Vor­ge­setz­te der drei An­ge­klag­ten. Sie ent­zo­gen sich 1945 bzw. 1946 durch Frei­tod ih­rer Stra­fe. Am 24. Mai 1947 wur­den Braun, Wall­ner und We­nin­ger zum To­de ver­ur­teilt. Am 14. Mai 1948 wur­den die drei über die Ab­wei­sung ih­rer Wie­der­auf­nah­me­ver­fah­ren in­for­miert. Gleich­zei­tig leg­te man den 15. Mai 1948, 6 Uhr früh, als Hin­rich­tungs­ter­min fest Prinz zi­tiert nun aus­gie­big die An­trä­ge der je­wei­li­gen Ver­tei­di­ger. Die­se be­zie­hen sich dar­auf, dass ur­sprüng­lich der 12. Mai als »Exe­ku­ti­ons­voll­zug« vor­ge­se­hen war und mir Rück­sicht auf die Wie­der­auf­nah­me­an­trä­ge aus­ge­setzt wur­de. Die neu­er­li­che An­set­zung sei gleich­be­deu­tend mit ei­ner nicht zu­läs­si­gen »Ver­schär­fung der über den An­ge­klag­ten ver­häng­ten To­des­stra­fe«. Es ist so­gar von »see­li­schen Qua­len« die Re­de, de­nen sie aus­ge­setzt sei­en, nun zum zwei­ten Mal die Vor­be­rei­tun­gen für die Exe­ku­ti­on über sich er­ge­hen las­sen zu müs­sen. Er­gän­zend wird noch an­ge­fügt, dass es sich bei dem 15. Mai um ei­nen »kirch­li­chen Fest­tag« han­de­le (»Vi­gil von Pfing­sten«). Braun er­gänz­te das Schrei­ben sei­nes Ver­tei­di­gers so­gar hand­schrift­lich um die Bit­te um Gna­de. Auch Wall­ner und We­nin­ger reich­ten noch Gna­den­ge­su­che ein.

Schließ­lich wird die Be­schluss des Ge­richts vom 15. Mai 1948, 5.30 Uhr, ab­ge­druckt. Al­le ver­war­fen die vor­ge­brach­ten Punk­te der Ver­tei­di­gung, wie es heißt: »ein­hel­lig«. Der 15. Mai wird zu­dem als zu­läs­sig an­ge­se­hen, es sei ein »Fest­tag« aber kein »ge­bo­te­ner Fei­er­tag«, an »wel­chem der Be­such der hl. Mes­se vor­ge­schrie­ben und die Ver­rich­tung knecht­li­cher Ar­bei­ten ver­bo­ten ist.« Ich ge­ste­he, dass ich die Ver­kün­dung über den »Ein­tritt des To­des« der drei Mör­der mit gro­ßer Be­frie­di­gung ge­le­sen ha­be.

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Mit Die letz­ten Ta­ge zeigt Mar­tin Prinz, wie es mög­lich ist, Do­ku­men­ta­ti­on mit li­te­ra­ri­scher Am­bi­ti­on kunst­voll zu ver­ei­nen, oh­ne in tri­via­le Mu­ster zu ver­fal­len. Er­grif­fen­heit, Wut und Em­pö­rung wer­den nicht de­kre­tiert, son­dern ent­ste­hen beim Le­ser aus der Ge­gen­über­stel­lung der Fak­ten mit den spar­sam ein­ge­setz­ten li­te­r­a­ri­sier­ten Be­schwö­run­gen der Op­fer. Der Fo­kus liegt zwar wei­ter­hin auf die Tä­ter, aber die Op­fer wer­den nicht zu blo­ßen »Fäl­len«, son­dern er­hal­ten ein Le­ben.

Klaus Kast­ber­ger ent­deckt in sei­ner Be­spre­chung Par­al­le­len zu Heim­rad Bäcker und Wal­ter Kem­pow­skis Echo­lot-Pro­jekt. Letz­te­res ist je­doch ei­ne rei­ne Text­samm­lung oh­ne li­te­ra­ri­sche »Ein­grif­fe«. Kem­pow­skis Kunst be­stand in der Kom­po­si­ti­on der Set­zung der je­wei­li­gen Tex­te. Die ein­zig kri­ti­sche Stim­me, die zu Die letz­ten Ta­ge auf­find­bar war, stammt von Jörg Ma­ge­nau, der mit der Aus­sa­ge zi­tiert wird, das Buch be­stün­de aus rei­ner Ak­ten­lek­tü­re und sei dem­entspre­chend »lang­wei­lig«. In­ter­es­sant die Vol­te, Prinz’ Buch mit Pe­ter Weiss’ Er­mitt­lun­gen zu ver­glei­chen, um dar­auf­hin zu kon­sta­tie­ren, dass es nicht an Weiss her­an­rei­che. Der Ver­gleich scheint je­doch un­an­ge­bracht, da es sich um grund­le­gend di­ver­gie­ren­de äs­the­ti­sche Pro­jek­te han­delt. (Be­son­ders pi­kant da­bei: Noch heu­te, in den Nach­drucken beim Suhr­kamp-Ver­lag, wird ei­ne Nach­be­trach­tung der Auf­füh­rung des Stückes in »West­ber­lin« von Wal­ter Jens ab­ge­druckt, von dem in den 2000er Jah­ren be­kannt ge­wor­den war, NSDAP-Mit­glied ge­we­sen zu sein.)

Zwei Fra­gen blei­ben: Be­kommt das Buch am 10. No­vem­ber den Öster­rei­chi­schen Buch­preis? Und, in­ter­es­san­ter: War­um ist die Web­sei­te nachkriegsjustiz.at dau­er­haft (Stand: 25.10.2025) nicht er­reich­bar? Bei­des wären/sind Sym­bo­le. Und jetzt schweigt der Deut­sche.

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