AUFZEICHNUNGEN ZU DER SCHRIFTSTELLERIN MARIANNE FRITZ (1948 – 2007)
- ANLÄSSLICH EINER GEMEINSAMEN LESEREISE IM HERBST 19781
Erster Eindruck: lieb und meschugge. Die Besessene, von der Schreibarbeit Aufgefressene. Sie spricht Dialekt, hat darüber hinaus einen Sprachfehler: Betroffen vor allem die gutturalen Laute. Und das L.
Brillenträgerin. Großer Brillenrahmen.
Im Drehturmrestaurant bemerkt sie zunächst nicht, daß es sich dreht, versteht also nicht, wieso sich die Aussicht immer wieder verändert.
Sie hat große Angst vor dem Fliegen.
Eine Steirerin.
Über ihre Arbeit spricht sie sehr ungern. »Die Schwerkraft der Verhältnisse»2 ist nur ein Kapitel aus ihrem Lebenswerk, dem FESTUNGSROMAN. (»Hoffentlich werd‘ ich alt genug, um’s fertigzuschreiben! Hoffentlich stirb i net vorher!«)3
Wenn sie etwas behauptet, lässt sie keine Zweifel zu. Sagt aber gleichzeitig, daß sie immer zweifle, nichts sei ihr Gewißheit. Besteht jemand auf einem anderen Standpunkt, kann sie böse werden, schüchtern aggressiv. Wie präzise sie ist + unbestechlich in jeder Hinsicht.
Ihre Ängste. Das Zusperren aller Türen, z.B. in den Hotels. Sie verheddert sich irgendwie immer in den Schlössern, oder bekommt tatsächlich jenes Zimmer im Haus, wo das Schloß nicht in Ordnung ist. Sie ist ein »Unglücksrabe«. Sie verliert und verlegt dauernd Sachen. Vor allem Schlüssel. Auch Flugtickets. Jammert, sie sei so schrecklich ungeschickt. In einem Berliner Lokal bittet sie jemanden4, mit ihr die Toilette zu inspizieren – vor unbekannten Räumen ist ihre Angst am größten.
Handkes Werk mag sie sehr. Als sie ihm am Flughafen in Berlin gegenübersteht, hat sie keine Ahnung, dass er es ist. Absolut wie ein naives kleines Kind. Kommt nicht zurecht damit, »öffentliche Figur« zu sein. Im Hiltonzimmer (München) ihr Weinausbruch, als sie erkennt, »bekannt« zu sein. »Ich bin nicht für diese Welt. Ich g’hör nicht da her!« Auch eine gewisse natürliche Weisheit.
Autorenbuchhandlung Berlin. Kaum Zuhörer. Marianne so aufgeregt beim Lesen + kaum hörbar durch ihren kleinen Sprachfehler. Aber was sie schreibt, ist etwas Besonderes.
Marianne ist eine »Schwarzdichterin«.
In München: Autorenbuchhandlung. Keine Reaktionen, obwohl ganz voll. Achternbusch dabei. Walter Schmidinger. Wolfgang Bächler.
Sex ist ihr nicht sehr wichtig. Bemerkungen deuten jedoch an, daß sie auf diesem Gebiet viel erlebt hat. Zärtlichkeit ist ihr sehr wichtig. Ihr Durst nach Zärtlichkeit. Mit einem Finanzbeamten (Wolfgang Fritz. »Der Wolfgang is‘ ein guter Mensch!«) ist sie – angeblich – glücklich verheiratet. (»Er hat’s sehr schwer mit mir -«)
Sie muß einmal sehr krank gewesen sein. Peter Henisch5 sagt, sie habe 6 Jahre in der Nervenheilanstalt verbringen müssen. (Siehe »Festung«!) Sie selbst sagt, sie habe »dem Tod oft in’s Auge geseh’n.« Ihre Angst vor Tratsch + Kulturgerede + Kulturmachen. Wie FREMD ihr das alles ist. (z. B. Buchmesse.) »Aber das bleibt ganz unter uns, das soll nicht Gerede an einem Tisch werden, eines Tages…«) Über diese Notizen wäre sie wütend.
Am Ufer des Millstätter Sees. Nacht. Sie macht Polaroidbild von mir + See. Photo wird ganz WEIß. Ihr Angstanfall, als wir spazieren. Sie zittert. Und mißtraut mir. Furcht vor der Dunkelheit. In Klagenfurt das Herumirren, auf der Suche nach unserem Hotel. Aber da lacht sie. In Linz ihre Angst vor der ganzen Stadt. Sie lebte einmal dort. Über ihr Hotelzimmer in Linz: »Schau, Peter Stephan, das is‘ ein Totenzimmer, da seh ich meinen eigenen Leichnam am Bett liegen.« Und über ein Haus, in der selben Gasse, wie unser Hotel: »Schau, Peter Stephan, das ist ein Totenhaus.« Ihre Vorstellung, dass Nachts ein Toter durch’s Fenster in ihr Zimmer einsteigen würde, um sich zu ihr an den Bettrand zu setzen. (Übernachte dann bei ihr im Zimmer – wie dankbar sie ist.) Versuche immerzu, ihr die Angst auszureden, aber das ist absolut zwecklos – das will sie auch gar nicht. Sie will nur mein VERSTÄNDNIS. Sie steigert sich systematisch in die Angst hinein, gibt das auch zu, sagt, sie könne einfach nicht anders.
In Innsbruck teilt sie ihr Einzelbett mit H.C. Artmanns Freundin Irene6. (Haben beide so mit ihren Geschwistern geschlafen, als Kinder?)
Meine Geschenke, Edelkastanie + Sizilianische Mandel, bewahrt sie wie Schätze. Als sie aber einmal auf mich böse ist, will sie mir beides unbedingt zurückgeben. Unsere langen Gesprächskämpfe. Ihre réponses à côté. Wie STRENG sie ist, unnachgiebig. Die Lehrsätze, die sie immer wieder wiederholt. z. B.: »Jeder Mensch trägt einen Hitler und einen Stalin in sich.« Sie wehrt sich heftig gegen das Einteilen der Menschen – man wisse gar nichts auf den ersten Blick. Man sperre mit dem Einteilen Menschen in Käfige. Sie sagt: »Auch eine Unwahrheit wird wahr, wenn man genug an sie glaubt.« (z. B. das III. Reich.) Für Menschen, die an Gott glaubten, gebe es Gott. (Sie ist nicht gläubig.) »Man darf nie von sich auf andere schließen, sondern sollte immer von den anderen auf sich schließen.«
Zu Besuch bei ihr in der Wiener Wohnung. Sie läßt mich nicht ihren Arbeitsbereich sehen. Wir sitzen in der Küche, bei schrecklichem Licht. »Ich weiß, ich bin schrecklich. I bin a schrecklicher Mensch.« Ihre Freude am Weißwein, den wir trinken – glücklich über diese Gelegenheit, Alkohol trinken zu dürfen. Wolfgang, der Ehemann, höchst besorgt, daß sie trinkt, als er nach Hause kommt.
Sie erzählt von einem Spitalserlebnis. Die Ärzte hätten gejammert, daß sie tot sei + daß sie nichts mehr machen könnten. Aber sie wollte dauernd sagen: »Ich leb‘ doch, ich hab doch die Augen offen, ich seh‘ euch doch alle dasteh’n!«
Sie will niemals wieder öffentlich lesen7. »Ich führe ein sehr zurückgezogenes Leben.«
In einem getrennten Aufzeichnungsbuch notierte ich – ebenfalls im Herbst 1978:
Sie wird gegen ihren Willen großen literarischen Ruhm gewinnen, wenn sie weiterschreibt. Kafka in einem Frauenkörper + weitergeführt, in unsere Zeit hinein.8
Lesereise 1978 für die drei ersten Autoren der sogenannten "Collection S. Fischer": Marianne Fritz, Otto Marchi & PSJ [Stechpalmenwald] ↩
Vgl. Wikipedia: Die Schwerkraft der Verhältnisse ist der erste veröffentlichte Roman der österreichischen Schriftstellerin Marianne Fritz, erschienen 1978 im S. Fischer Verlag. Im Erscheinungsjahr wurde der Roman mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. ↩
Zum Festungsprojekt vgl. Klaus Ebner, Festschrift zum 75. Geburtstag von Marianne Fritz [pdf] ↩
Gemeint war die deutsche Filmschauspielerin Eva Renzi (1944 – 2005). ↩
Gemeint ist der 1943 geborenen österreichische Schriftsteller. ↩
Vgl. PSJ Tagebücher, April/Mai 1984, gemeint ist Irene Schrempf ↩
Anlässlich einer Lesung aus Die Schwerkraft der Verhältnisse wenige Monate später, eingeladen in die Österreichische Gesellschaft für Literatur, bat sie ihre Schriftstellerkollegin Brigitte Schwaiger (1949 – 2010) für sie zu lesen. ↩
Elfriede Jelinek, 2003 im Falter zu Marianne Fritz: "Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein gläubiger Muslim vor der Kaaba. Wahrscheinlich bin ich im Ganzen zu klein für Marianne Fritz, sie geht nicht in mich hinein." ↩