Flo­ri­an Il­lies: Wenn die Son­ne un­ter­geht

Florian Illies: Wenn die Sonne untergeht
Flo­ri­an Il­lies: Wenn die Son­ne un­ter­geht

Er ist wie im­mer: Künst­ler- und vor al­lem Schrift­stel­ler­ju­bi­lä­en ver­drän­gen fast im­mer die pri­mä­re Be­schäf­ti­gung mit dem zu wür­di­gen­den Werk zu Gun­sten meist lau­nig, eher sel­ten er­hel­len­der Ter­ti­är­lek­tü­re. Wer die Best­sel­ler­li­sten 2025 zur Kennt­nis nimmt, fin­det dort ei­ne Men­ge Bü­cher über Tho­mas Mann, aber kei­nes von ihm.

Wor­an liegt es? Zum ei­nen locken hemds­är­me­lig vor­ge­brach­te In­ter­pre­ta­ti­ons­hil­fen mit de­nen man sich viel­leicht die Lek­tü­re der in­zwi­schen eher sper­rig emp­fun­de­nen Wer­ke er­spa­ren könn­te. Und zum an­de­ren wird der Dich­ter – zeit­ge­mäß halt – mal mehr, mal we­ni­ger sanft vom Thron ge­sto­ßen. Da­bei schreckt man, wie un­längst ge­sche­hen, auch nicht vor der Aus­brei­tung in­tim­ster De­tails zu­rück. Das dient längst nicht mehr der Er­schlie­ßung des Œu­vres, son­dern er­in­nert eher an ir­gend­wel­che bun­ten Blät­ter, die mit Pseu­do­skan­da­len an nied­ri­ge In­stink­te ap­pel­lie­ren.

Im letz­ten Jahr re­üs­sier­te Flo­ri­an Il­lies, der Da­ni­el Kehl­mann des Feuil­le­tons, mit ei­nem Buch über Cas­par Da­vid Fried­rich, in dem er aus al­len mög­li­chen Quel­len längst Über­lie­fer­tes in schmis­sig-rüh­ri­gen Pro­sa­kitsch über­führ­te. Es war wohl un­ver­meid­bar, dass sich Il­lies nun auch noch des Tho­mas-Mann-Ju­bi­lä­ums an­nimmt. Schließ­lich ist nie­mand mehr da, der sich weh­ren kann.

Il­lies un­ter­sucht in sei­nem neue­sten Buch mit dem süß­li­chen Jo­han­nes-Ma­rio-Sim­mel-Ti­tel Wenn die Son­ne un­ter­geht die Ir­run­gen und Wir­run­gen der Fa­mi­lie um Tho­mas Mann im Jahr 1933, dem Jahr, in dem Hit­ler Reichs­kanz­ler wur­de. Schon in Uwe Witt­stocks Fe­bru­ar 33 wur­de auf be­klem­men­de Wei­se deut­lich, wie rasch das de­mo­kra­ti­sche Ge­rüst der Wei­ma­rer Re­pu­blik un­ter der auf­brau­sen­den Na­zi-Herr­schaft zu­sam­men­brach und wel­che gra­vie­ren­den Ver­än­de­run­gen bin­nen kur­zer Zeit ein­tra­ten. Il­lies be­ginnt am 11. Fe­bru­ar 1933, dem Tag, an dem Tho­mas Mann mit ei­ner Frau Ka­tia den Zug nach Am­ster­dam be­tritt. Es ist der Be­ginn ei­ner Vor­trags­rei­se über Ri­chard Wag­ner, der das Paar noch nach Brüs­sel und Pa­ris führt, be­vor es dann für drei Wo­chen nach Aro­sa in ei­nen Win­ter­ur­laub ge­hen soll. Was die bei­den nicht wis­sen kön­nen: Sie wer­den ihr Haus in der Po­schin­ger­stra­ße 1 in Mün­chen, in dem sie mehr als 18 Jah­re ge­lebt ha­ben, nie mehr wie­der­se­hen. Tho­mas und Ka­tia ah­nen die Ent­wick­lun­gen der näch­sten Wo­chen nicht an­näh­rend vor­aus und wie­gen sich noch lan­ge in trü­ge­ri­scher Si­cher­heit. Der Bru­der Hein­rich Mann hin­ge­gen ist hell­sich­ti­ger. Er wur­de vom Vor­sitz der »Spar­te Dicht­kunst der Preu­ßi­schen Aka­de­mie der Kün­ste« sus­pen­diert und tritt we­ni­ge Ta­ge spä­ter, am 21. Fe­bru­ar, den Zug in die Mi­gra­ti­on mit Ziel Frank­reich an. Sei­ne le­bens­lu­sti­ge Freun­din Nel­ly Krö­ger lässt er zu­rück. Es ist der glei­che Tag, an dem Klaus und Eri­ka Mann, die äl­te­sten Kin­der von Tho­mas, ih­ren Pfef­fer­müh­le-Ball in der Po­schin­ger­stra­ße fei­ern.

Von nun an wird je­de Nu­an­ce, je­de Be­geg­nung (oder Nicht-Be­geg­nung), je­de Be­find­lich­keit der Prot­ago­ni­sten re­kon­stru­iert und ge­mel­det. Die Spiel­or­te chan­gie­ren zu­nächst zwi­schen Aro­sa, Pa­ris, Ber­lin und Mün­chen. We­ni­ger mon­dän geht es in Göt­tin­gen zu, wo sich Go­lo Mann auf sein Staats­examen fürs Lehr­amt vor­be­rei­tet (da­zu wird es al­ler­dings nicht kom­men). Aus­gie­big wer­den so­wohl die (fast im­mer) ho­mo­se­xu­el­len Lieb­schaf­ten von Klaus, Eri­ka und Go­lo ge­spie­gelt wer­den wie auch die Dro­gen­kon­su­ma­tio­nen der äl­te­sten Kin­der. Dann gibt es noch Tho­mas’ Ver­le­ger Gott­lieb Ber­mann Fi­scher, der die Ver­hält­nis­se ver­harm­lost und un­be­dingt den er­sten Band der Jo­seph-Ro­man­rei­he in Na­zi-Deutsch­land her­aus­brin­gen will. Er wird am En­de des Som­mers Tho­mas Mann in ei­nen ve­ri­ta­blen Ge­wis­sens­kon­flikt mit sei­nem Sohn Klaus stür­zen. Ber­mann Fi­scher wird das »ge­win­nen« – Tho­mas Mann sagt sich als Mit-Au­tor der von Klaus edi­tier­ten Zeit­schrift Die Samm­lung los, die mit ei­nem pol­tern­den Auf­satz von Hein­rich Mann den Zorn der Na­zis auf sich ge­zo­gen hat­te.

In den drei Wo­chen Aro­sa über­schla­gen sich die Er­eig­nis­se. Tho­mas Mann nimmt nachts Trost bei Schlaf­mit­teln und Tol­stoi. Zu­nächst zieht man noch die Mög­lich­keit der Rück­kehr nach Deutsch­land in Be­tracht, aber schließ­lich gibt man den sor­gen­vol­len Ein­wän­den von Freun­den nach. Wäh­rend Hein­rich in Niz­za an­kommt, rei­sen Tho­mas und Ka­tia zu­nächst ein­mal quer durch die Schweiz. Erst Len­zer­hei­de, dann bei Her­mann Hes­se in Mon­tagno­la ein paar ent­spann­te Ta­ge; schließ­lich Ror­schach und Ba­sel. Das Lieb­lings­kind Eli­sa­beth (»Me­di«) geht noch ein­mal zu­rück zur Schu­le nach Deutsch­land, kehrt je­doch rasch wie­der zu­rück. An nor­ma­lem Un­ter­richt ist nicht zu den­ken. Go­lo ver­sucht, in Mün­chen Geld ab­zu­he­ben und au­ßer Lan­des zu brin­gen. Schließ­lich packt er auch noch den Kof­fer mit den Ta­ge­bü­chern von Tho­mas Mann; Dis­kre­ti­on des Soh­nes Eh­ren­sa­che. Nicht aus­zu­den­ken, wenn die Na­zis die­se in die Hän­de be­kä­men. All die Ge­heim­nis­se des Dich­ters sind dort auf­ge­schrie­ben. Über vier Wo­chen wird der 38 kg schwe­re Kof­fer be­nö­ti­gen, bis er schließ­lich im fran­zö­si­schen Exil an­kommt. Spä­ter wird klar, dass man ihn tat­säch­lich ge­öff­net und die eben­falls dort de­po­nier­ten Ho­no­rar­ver­trä­ge von Tho­mas Mann aus­ge­wer­tet hat­te, um die Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se des Dich­ters fest­zu­stel­len. Das er­klärt, war­um Go­lo we­ni­ge Ta­ge spä­ter kein wei­te­res Geld mehr be­kam; die Kon­ten wa­ren ge­sperrt. Es blei­ben 60.000 Reichs­mark in bar. Je­des De­tail der Rück­ho­lung die­ses Gel­des (in­klu­si­ve Um­tausch) wird Il­lies schil­dern. Am En­de ha­ben die Manns ein Bank­ver­mö­gen von rund 200.000 Fran­ken oder 1 Mil­li­on Francs ge­ret­tet.

Der Un­ter­ti­tel des Bu­ches – »Fa­mi­lie Mann in Sa­na­ry« – ist leicht miss­ver­ständ­lich. Denn erst am 12. Ju­ni zieht die Fa­mi­lie in die Vil­la »La Tran­quil­le« (»Die Ru­hi­ge«) in Sa­na­ry-sur-mer, ei­nem 3.000 Ein­woh­ner-Städt­chen an der Côte d’A­zur, in dem haupt­säch­lich Fi­scher und Bau­ern leb­ten. Zu­vor war man in ei­nem Ho­tel in Ban­dol un­ter­ge­kom­men. Es soll­te das Be­ste am Ort sein, war aber Quell zahl­lo­ser Mecke­rei­en von Tho­mas Mann. Ein ge­re­gel­ter Ta­ges­ab­lauf, wie er ihn braucht, um schöp­fe­risch tä­tig wer­den zu kön­nen, war na­he­zu un­mög­lich. Klaus und Eri­ka leb­ten zeit­wei­se im Ho­tel La Tour in Sa­na­ry. Hein­rich blieb in Ban­dol.

Der Vor­teil Sa­na­rys ge­gen­über den Kü­sten­me­tro­po­len lag nicht nur in den nied­ri­ge­ren Miet­prei­sen, son­dern auch in der Be­schau­lich­keit des Or­tes. Der im Lau­fe des Som­mers zu ei­ner Art Ver­trau­ter von Tho­mas Mann wer­den­de Schrift­stel­ler Re­né Schicke­le knüpf­te den Kon­takt zu der zu Ein­hei­mi­schen ge­wor­de­nen Sy­bil­le Grä­fin Schoe­ne­beck (spä­te­re Sy­bil­le Bedford) und de­ren mor­phi­um­ab­hän­gi­ge Mut­ter Li­sa Mar­che­sa­ni. Bei­de leb­ten dort seit Mit­te der 1920er Jah­re. Im Nu wa­ren Som­mer­häu­ser ge­fun­den. Il­lies spart nicht mit Idyl­len­bil­dern, die man aus den Fil­men von Hein­rich Bre­lo­er (Die Manns – Ein Jahr­hun­der­t­ro­man) und Ana­tol Regnier (Je­der schreibt für sich al­lein) kennt. Der enor­me lo­gi­sti­sche Auf­wand der di­ver­sen Um­zü­ge wird am Ran­de the­ma­ti­siert; das war Sa­che des Per­so­nals, das zu­nächst aus Ein­hei­mi­schen be­stand. Spä­ter wer­den im­mer mehr Haus­ge­gen­stän­de aus Mün­chen in Sa­na­ry ein­tref­fen, ge­gen En­de des Som­mers ge­lingt es Eri­ka in ei­nem Coup noch ein­mal 40 Ki­sten Haus­stand in die Schweiz zu brin­gen, be­vor die Na­zis end­gül­tig das Ge­bäu­de be­setz­ten.

In Sa­na­ry-sur-mer kommt Tho­mas Mann zur Ru­he; ei­ne ge­wis­se Ord­nung kehrt zu­rück. Klaus ver­sucht, aus den Nie­der­lan­den her­aus sei­ne Li­te­ra­tur­zeit­schrift her­aus­zu­brin­gen. Er und Eri­ka drän­gen den Va­ter zu ei­ner de­zi­dier­ten, öf­fent­li­chen Stel­lung­nah­me ge­gen die Na­zis. Der zö­gert, war hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen den Mah­nun­gen und Wün­schen sei­ner äl­te­sten Kin­der und den Be­schwich­ti­gun­gen sei­nes Ver­le­gers, der so­gar auf ei­ne Rück­kehr der Fa­mi­lie nach Deutsch­land dräng­te und sich als Statt­hal­ter der Le­ser sei­nes Au­tors ge­rier­te. Er woll­te, dass Mann ko­ope­riert, leg­te ihm na­he, dem »Reichs­ver­band der deut­schen Schrift­stel­ler e.V.« bei­zu­tre­ten. Das tat Tho­mas Mann nicht. An­son­sten fügt er sich sei­nem Ver­le­ger – nicht zu­letzt aus fi­nan­zi­el­len Er­wä­gun­gen.

Da­bei war Mann längst ei­ner of­fe­nen Ver­leum­dungs­kam­pa­gne be­züg­lich sei­ner (ab­sicht­lich falsch ver­stan­de­nen) Wag­ner-Re­de aus­ge­setzt. Als im Herbst doch noch der er­ste Jo­seph-Ro­man in Deutsch­land er­schei­nen konn­te, wur­de dies von der jü­di­schen Ge­mein­de als Hoff­nungs­zei­chen ge­se­hen. Bis zu­letzt heg­ten Ka­ti­as El­tern, die Pringsheims, die mit vol­ler Wucht die Na­zi-Ent­rech­tun­gen mit­be­ka­men, noch Hoff­nung, glaub­ten an ei­ne kurz­fri­sti­ge Epi­so­de des Re­gimes, trotz Reichs­tags­brand, Bü­cher­ver­bren­nun­gen und Aus­bür­ge­run­gen.

Der ei­gent­li­che Auf­ent­halt in Sa­na­ry dau­er­te nur et­was mehr als drei Mo­na­te. Im Som­mer füllt es sich mit Mi­gran­ten, die Il­lies als »Sied­ler von Sa­na­ry« be­zeich­net, als han­de­le es sich um ein Ge­sell­schafts­spiel. Go­lo Mann nann­te sie Jahr­zehn­te spä­ter tref­fen­der »ge­fal­le­ne Grö­ßen«. Ne­ben den Schoe­ne­becks und Re­né Schicke­le fan­den sich Li­on und Mar­ta Feucht­wan­ger und Ar­nold und Bea­tri­ce Zweig nebst je »be­freun­de­ten Se­kre­tä­rin­nen« ein. Es leb­ten dort Al­dous und Ma­ria Hux­ley und die Ma­le­rin Eva Herr­mann, die, wie es ein­mal heißt, ei­ne Art sieb­tes Kind der Manns wird. Der soi­gnier­te »Ba­ron«, den die Frau­en »Spat­zi« nann­ten, war ein ge­wis­ser Hans Gün­ther von Din­ck­la­ge; ver­mut­lich ein Agent der Deut­schen, was frei­lich nie­mand ahn­te. Hein­rich Mann konn­te in sei­nem Quar­tier in Ban­dol im Ju­ni sei­ne Nel­ly nach ei­ner Odys­see quer durch Eu­ro­pa be­grü­ßen. Go­lo kam ab Au­gust beim ex­zen­tri­schen An­thro­po­lo­gen und Schrift­stel­ler Wil­liam Seab­rook un­ter. Im Lau­fe des Som­mers schau­ten auch Lud­wig Mar­cuse und Ber­told Brecht vor­bei. Man un­ter­hielt sich mit Haus­mu­sik, Le­se­aben­den und Gar­ten­par­tys. An den di­ver­sen in­ti­men Spie­le­rei­en zwi­schen den ein­zel­nen Da­men und Her­ren, im Buch mit Won­ne aus­brei­tet, blie­ben die Manns un­be­tei­ligt.

Il­lies zeich­net die Mo­na­te Fe­bru­ar bis Sep­tem­ber 1933 in al­len Fa­cet­ten. Als Quel­len die­nen Ta­ge­bü­cher (ins­be­son­de­re je­nes von Tho­mas Mann) plus »ei­ne un­über­seh­ba­re Men­ge an Li­te­ra­tur« so­wohl »über die Manns« als auch über die an­de­ren Prot­ago­ni­sten. Es sind wohl so vie­le Quel­len, das er den Le­ser nicht mit de­ren Auf­zäh­lung lang­wei­len möch­te, son­dern sprö­de ei­ni­gen Per­so­nen dankt, mit de­nen er ge­spro­chen hat. De­tail­lier­te Nach­wei­se, wie man sie zum Bei­spiel im ge­lun­ge­nen Buch von Mar­tin Mit­tel­mei­er über das Exil der Manns in Pa­ci­fic Pa­li­sa­des fin­det und die den in­ter­es­sier­ten Le­ser auf wei­te­re Spu­ren brin­gen könn­ten, feh­len.

Das Feh­len die­ser Nach­wei­se er­zeugt ei­ne Au­ra der All­wis­sen­heit. Da weiß je­mand, wie Tho­mas Mann ein neu­es Ta­ge­buch be­ginnt und da­bei über die Sei­te wischt. Er weiß, wie die­ser am 11. Fe­bru­ar 1933 »die Münch­ner Haus­tür mit lü­becki­scher Ent­schie­den­heit« hin­ter sich zu­schließt. Er ex­tra­po­liert ei­ne Sen­tenz von Klaus Mann zum »Ar­ti­kel 1 des Grund­ge­set­zes der ge­sam­ten Fa­mi­lie Mann« und checkt Ka­ti­as Bünd­nis als »Ehe mit Tem­po­li­mit«. Gön­ner­haft dann: »Wir dür­fen die­se Be­zie­hung zwi­schen Tho­mas und Ka­tia Mann ru­hig Lie­be nen­nen.«

Mehr­fach wird der (über­grif­fi­ge) Au­toren­plu­ral ver­wen­det, et­wa im Kom­men­tar zu Mo­ni­kas Te­le­gramm, in dem sie den El­tern ih­re An­kunft an­kün­digt, was »für uns so un­er­war­tet wie für Ka­tia und Tho­mas Mann« kam (man be­ach­te die Rei­hen­fol­ge). Über­haupt Mo­ni­ka – bei ihr zeigt Il­lies be­son­de­res Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. So weiß er, dass Mo­ni­ka schon »vor ih­rer Ge­burt« ge­lernt ha­be, »die Krei­se des Va­ters nicht zu stö­ren«, in­dem sie nicht am 6. Ju­ni (dem Ge­burts­tag des Va­ters) zur Welt kam, son­dern erst am 7. Ein­mal sit­zen Ka­tia und Mo­ni­ka am Kü­chen­tisch. »›Du bist mir ein Rät­sel, Lie­bes‹«, sin­niert die Mut­ter, wor­aus Il­lies Ka­ti­as »Ab­nei­gung ge­gen die ei­ge­ne Toch­ter« her­aus­liest, die »im­mer noch mit Höf­lich­keit mö­bliert« ge­we­sen sei. Und dann folgt ein hüb­sches Bei­spiel für Il­lies’ bis­wei­len aus­ufern­den Hy­po­the­sen­rausch: »Und Mo­ni­ka, die ver­son­nen auf den an­ge­welk­ten Blu­men­auf­satz in der Mit­te des Ti­sches blickt, denkt bei sich viel­leicht: ›Ja, ein Rät­sel, das bin ich mir auch.‹« (Her­vor­he­bun­gen von mir.) Als Mo­ni­ka im Herbst 1933 nicht mit der Fa­mi­lie nach Küs­nacht geht, son­dern sich im nach­som­mer­li­chen Tou­lon »mit ei­nem Kla­vier« ein­mie­tet, wird dar­aus ein Ka­lau­er mit Fremd­scham-Po­ten­ti­al: »Wenn es drau­ßen schon so heiß ist, dann hilft viel­leicht das wohl­tem­pe­rier­te Kla­vier.«

Ab­nei­gun­gen ent­deckt Il­lies auch bei Ka­ti­as Ver­hält­nis zu Mi­cha­el, ge­nannt Bi­bi. So soll sie einst ih­rem Mann ver­spro­chen ha­ben: »›Ich will dir noch ein fei­nes Söhn­lein schen­ken, weil ich doch mit dem Bi­bi dei­nen Ge­schmack so gar nicht ge­trof­fen ha­be‹.« Da­zu kam es dann nicht mehr. Au­ßer Eli­sa­beth hat­ten al­le Kin­der ih­re Pro­ble­me so­wohl mit dem Über­va­ter als auch mit der Mut­ter, die im­mer­hin je nach Be­darf die Schecks aus­stell­te. Neu ist das al­les wirk­lich nicht. Und frei­lich bleibt Il­lies ab­seits der Mut­ma­ßun­gen nicht oh­ne Feh­ler und Wi­der­sprü­che, et­wa wenn es ein­mal 45 Un­ter­schrif­ten zum »Pro­test der Ri­chard-Wag­ner-Stadt Mün­chen« sind, ein an­der­mal 43.

Tho­mas Manns Le­bens­er­schüt­te­rung mit 57 Jah­ren, die­ses trot­zi­ge Nicht-wahr­neh­men-Wol­len der sich ab­zeich­nen­den Ka­ta­stro­phe par­fü­miert Flo­ri­an Il­lies mit ei­nem an­ma­ßen­den, schwer er­träg­li­chen Gou­ver­nan­ten­ton. In ei­nem Ge­spräch mit Ge­ro von Boehm sag­te Go­lo Mann 1989, sein Va­ter hät­te sich als der »letz­te Deut­sche« ge­se­hen. Folgt man Il­lies Re­cher­chen, sah Tho­mas Mann sich als »sym­bo­li­sche Exi­stenz«. Spä­ter, bei der An­kunft 1938 in den USA ku­mu­lier­te dies in dem Satz: »Wo ich bin, ist Deutsch­land.« Tho­mas Mann nahm die­se Exi­stenz­form für sich an, als Bür­de, als Ver­pflich­tung. Des­we­gen wird er bis­wei­len halb an­er­ken­nend, halb spöt­tisch als »Prae­cep­tor Ger­ma­niae«, al­so »Lehr­mei­ster Deutsch­lands«, be­zeich­net. Il­lies will die Iro­nie des Mei­sters nach­ah­men, sieht sich wohl als »Prae­cep­tor Prae­cep­to­ris Ger­ma­niae«, ein Lehr­mei­ster des Lehr­mei­sters. Das miss­lingt kra­chend. Scha­de um die Zeit; man hät­te statt­des­sen bes­ser zwei No­vel­len von Tho­mas Mann wie­der­le­sen sol­len.

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