Ein hei­te­rer Kul­tur­pes­si­mist

Por­trät des mu­si­schen In­for­ma­ti­kers Pe­ter Reichl

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Peter Reichl: Homo cyber
Pe­ter Reichl: Ho­mo cy­ber

Ho­mo cy­ber, der ky­ber­ne­ti­sche Mensch. Nicht zu ver­wech­seln mit dem Cy­borg, der ma­schi­nel­le Pro­the­sen in sei­nen Kör­per in­te­griert hat. Frei­lich ten­diert auch der ky­ber­ne­ti­sche Mensch da­zu, sich di­gi­ta­le Ge­rä­te ein­zu­ver­lei­ben. Be­ob­ach­tet man Pas­sa­gie­re in der U‑Bahn, ge­winnt man den Ein­druck, dass sie ihr in­tel­li­gen­tes »Te­le­fon« gar nicht mehr los­las­sen, als könn­ten sie oh­ne es nicht exi­stie­ren.

Ho­mo via­tor, ho­mo lu­dens… Es gab in der Ver­gan­gen­heit noch an­de­re fe­ste Wort­ver­bin­dun­gen mit »ho­mo«. Ho­mo fa­ber – der Ma­cher, Hand­wer­ker, Tech­ni­ker – tritt im gleich­na­mi­gen Ro­man von Max Frisch als In­be­griff des In­ge­nieurs auf. Pe­ter Reichl, der die neue Wort­ver­bin­dung ge­prägt hat und als Buch­ti­tel ver­wen­det, kommt in den bei­den bis­her er­schie­nen Bän­den1 mehr­fach auf Max Frisch und sei­nen In­ge­nieur zu spre­chen. An­schei­nend ha­ben der Ky­ber­ne­ti­ker, der In­for­ma­ti­ker, der Pro­gram­mie­rer, aber auch der ge­mei­ne »User« von Per­so­nal­com­pu­ter und Smart­phone, den In­ge­nieur als Leit­fi­gur der Mo­der­ne ab­ge­löst. Der Ho­mo sa­pi­ens hat sich zum Ho­mo cy­ber ge­wan­delt.

In der bio­gra­phi­schen No­tiz am En­de von Reichls Buch er­fah­ren wir zu un­se­rer Über­ra­schung, dass der Au­tor In­for­ma­tik­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Wien ist. Gut, der Mann hat vie­ler­lei mit­zu­tei­len, und man­ches da­von geht nicht so leicht in ei­nen ma­the­ma­tisch un­ge­bil­de­ten Kopf, ob­wohl da von sehr al­ten, ver­hält­nis­mä­ßig ein­fa­chen Pro­blem­stel­lun­gen die Re­de war. Gleich­zei­tig aber wa­ren in dem Buch Hal­tun­gen aus­ge­drückt, Schluss­fol­ge­run­gen for­mu­liert und Vor­schlä­ge ge­macht, zu de­nen ich selbst auf an­de­ren We­gen ge­langt war, et­wa in dem Buch Pa­ra­si­ten des 21. Jahr­hun­derts. Als di­gi­ta­ler Skep­ti­ker – wie der In­for­ma­tik­pro­fes­sor selbst? – be­schloss ich, mehr dar­über her­aus­zu­fin­den, woll­te aber al­les Goo­geln ver­mei­den.

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Reichls Bü­ro be­fin­det sich in ei­nem zwei­stöcki­gen con­tai­ner­ar­ti­gen An­nex der Wie­ner Fa­kul­tät für In­for­ma­tik. Das Ge­bäu­de muss dem­nächst wie­der ab­ge­ris­sen wer­den, an sei­ner Stel­le wird dann, wer weiß für wie lan­ge, wie­der ei­ne Bau­lücke sein. Was an Reichls kör­per­li­chen Er­schei­nung zu­nächst auf­fällt, ist der graue, fast wei­ße Rau­sche­bart, da­zu klei­ne, spring­le­ben­di­ge Au­gen hin­ter der ecki­gen Bril­le. Ei­ne ge­wis­se Fül­lig­keit ist nicht zu ver­leug­nen – man könn­te den Mann mit der kräf­ti­gen Stim­me für ei­nen Opern­sän­ger hal­ten, und tat­säch­lich wä­re er in jun­gen Jah­ren fast ein sol­cher ge­wor­den. Auf den Ar­beits­ti­schen ste­hen klei­ne, al­ter­tüm­li­che Re­chen­ma­schi­nen, wie ich sie von Ab­lich­tun­gen in den bei­den Bü­chern ken­ne. Reichl liebt es, auf die Früh­ge­schich­te der In­for­ma­tik hin­zu­wei­sen, de­ren Be­ginn man et­wa 1623 an­set­zen kann. In die­sem Jahr er­fand der deut­sche Ge­lehr­te Wil­helm Schickard ei­ne Re­chen­ma­schi­ne, mit der man viel­stel­li­ge Zah­len ad­die­ren, sub­tra­hie­ren und mul­ti­pli­zie­ren konn­te.

Die Kennt­nis sol­cher frü­hen, noch ta­sten­den An­sät­ze för­dert das Ver­ständ­nis für ky­ber­ne­ti­sche Pro­zes­se, die im 20. Jahr­hun­dert ei­nen ho­hen Kom­ple­xi­täts­grad er­reich­ten. Ei­ner der bei­den Ti­sche weist ei­ne un­schein­ba­re Ar­beits­flä­che aus ir­gend­ei­nem Kunst­stoff auf. Es ist der Schreib­tisch, an dem Dou­glas Hof­stadter ar­bei­te­te, als er 2017 ein halb­jäh­ri­ges Sab­ba­ti­cal in Wien ver­brach­te. Reichl hält mit sei­ner Hoch­schät­zung für zahl­rei­che Kol­le­gen nicht hin­ter dem Berg; mit ei­ni­gen von ih­nen ver­bin­den ihn per­sön­li­che Be­zie­hun­gen. An der Bü­ro­tür hängt au­ßen im­mer noch ein Schild mit Hof­stadt­ers Na­men und ei­ne An­kün­di­gung sei­nes Vor­trags über Ana­lo­gy as the Co­re of Co­gni­ti­on. Ein ver­locken­der Ti­tel!

Peter Reichl: Homo cyber 2
Pe­ter Reichl: Ho­mo cy­ber 2

Hof­stadter ge­lang­te durch sein Buch Gö­del, Escher, Bach – ein End­lo­ses Ge­floch­te­nes Band zu all­ge­mei­ner Be­rühmt­heit. Der Geist ei­nes an­de­ren be­deu­ten­den Man­nes strahlt von der Wand ne­ben dem Schreib­tisch. Dort be­fin­det sich hin­ter Glas ein hand­ge­schrie­be­ner Brief von Gün­ther An­ders an sei­nen Phi­lo­so­phen­kol­le­gen Jean-Paul Sart­re. »Ich lie­be ihn heiß«, sagt Reichl, der sei­ne Über­le­gun­gen zur Di­gi­ta­li­sie­rung der Welt und ih­ren Ge­fah­ren mit den War­nun­gen An­ders‘ vor der Selbst­aus­lö­schung der Mensch­heit durch Atom­waf­fen par­al­lel setzt. Das ist ei­ne der für mich un­ge­lö­sten Fra­gen nach der Lek­tü­re von Ho­mo cy­ber I und II: Wie dra­ma­tisch, gar apo­ka­lyp­tisch sind die vor­gän­gi­gen tech­no­lo­gi­schen Än­de­run­gen wirk­lich? Was ist ihr an­thro­po­lo­gi­scher Stel­len­wert? Wie tief der Ein­schnitt?

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Kon­rad Paul Liess­mann, Reichls Kol­le­ge an der Uni­ver­si­tät Wien, hat­te En­de des vo­ri­gen Jahr­hun­derts we­sent­lich zur Wie­der­ent­deckung von Gün­ther An­ders und sei­ner Nach­kriegs­phi­lo­so­phie bei­getra­gen. Auch zu Liess­manns ei­ge­nen Ar­bei­ten, et­wa zur Theo­rie der Un­bil­dung, weist Ho­mo cy­ber Ver­bin­dun­gen auf, denn Reichl geht es nicht nur um die Grund­la­gen der In­for­ma­tik, son­dern viel mehr noch dar­um, kul­tu­rel­le Kon­tex­te und Aus­wir­kun­gen auf das mensch­li­che Zu­sam­men­le­ben zu be­nen­nen. Bil­dung spielt da­bei ei­ne, wenn nicht die we­sent­li­che Rol­le, er selbst sieht sei­ne Auf­ga­be vor al­lem dar­in, das Be­wusst­sein vor al­lem jun­ger Men­schen wecken und schär­fen zu hel­fen, was In­for­ma­tik, Di­gi­ta­li­sie­rung und täg­li­che me­dia­le Pra­xis mit uns ma­chen und wie wir uns da­zu ver­hal­ten können/sollen.

In ei­ner Ecke von Reichls Ar­beits­zim­mer ver­steckt sich ei­ne Druck­gra­phik von Pi­cas­so, Don Qui­jo­te und Sancho Pan­sa dar­stel­lend: Wind­müh­len­kämp­fer und Stich­wort­ge­ber. Sei­ne Vor­le­sun­gen hält Reichl im Au­er von Wels­bach-Hör­saal drü­ben in der Fa­kul­tät für Che­mie, wo einst auch Al­bert Ein­stein saß. Sol­che Ver­bin­dun­gen, zu­wei­len he­te­ro­ge­ner Na­tur, sind ihm wich­tig, er re­flek­tiert sie nicht nur, son­dern ge­nießt sie sicht­lich, und so ist er auch zum Samm­ler ge­wor­den, vor al­lem wäh­rend der Co­ro­na-Lock­downs, zum Bei­spiel er­wirbt er gern Brie­fe der oder an die ita­lie­ni­schen Opern­di­va Giudit­ta Pa­sta (1797–1865). In sei­ner Frei­zeit hat er zu­sam­men mit sei­ner Frau Ma­re­na Ba­li­no­va, ei­ner aus­ge­bil­de­ten Sän­ge­rin, ein Pro­gramm mit Bei­spie­len ih­rer Rol­len zu­sam­men­ge­stellt, das die bei­den un­ter dem Ti­tel »Pa­sta Di­va – The Glo­ry of Bel­can­to« prä­sen­tie­ren.

Reichl be­glei­tet aber nicht nur am Kla­vier, er spielt auch Gei­ge und singt ge­le­gent­lich ei­ne Can­zo­ne oder ei­ne Arie, et­wa bei Fest­ver­an­stal­tun­gen der Uni­ver­si­tät Wien. Bei un­se­rem Ge­spräch er­zählt er von den Ge­sangs­stun­den, die er als jun­ger Mann in Mai­land nahm, wäh­rend er an der ETH Zü­rich stu­dier­te. Im Teat­ro Puc­ci­ni in Me­ran hat­te er sein er­stes En­ga­ge­ment, er soll­te dort den Gra­fen Al­ma­vi­va im Bar­bier von Se­vil­la ge­ben, doch dar­aus wur­de nichts, nach­dem die Ko­stüm­gar­de­ro­be ab­ge­brannt war. Ein Wink des Schick­sals, Reichl soll­te den Weg des Wis­sen­schaft­lers ein­schla­gen, oh­ne frei­lich je auf die »Er­gän­zung«, wie er es nennt, durch die schö­nen Kün­ste und de­ren Fo­kus­sie­rung auf mensch­li­che Ge­füh­le zu ver­zich­ten.

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Die­se Zwei­glei­sig­keit war schon in Mün­chen ge­ge­ben, wo er Ma­the­ma­tik und Phy­sik stu­dier­te. Da­mals ging er an zir­ka 150 Ta­gen des Jah­res in die Oper; er hat, ganz Samm­ler, sämt­li­che Ein­tritts­kar­ten auf­be­wahrt. Ei­ner­seits sieht Reichl auch in Theo­rie­ge­bäu­den und tech­ni­schen Kon­struk­ten Schön­heit am Werk; an­de­rer­seits ver­sucht er in sei­nem »Be­richt aus Di­gi­ta­li­en« Mög­lich­kei­ten der Äs­the­tik auf­zu­spü­ren. Mit Be­zug auf den Phi­lo­so­phen By­ung-Chul Han dis­ku­tiert er die »Glät­te« di­gi­ta­ler Ap­pa­ra­tu­ren und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men. Mei­nen Ein­wand, daß es im In­ter­net oft ziem­lich rau zu­ge­he, hat er be­reits in Ho­mo cy­ber be­rück­sich­tigt und be­spro­chen. Und auch Han ist ja mit die­ser Glät­te un­zu­frie­den, sie füh­re eher zu ei­ner An­äs­the­tik, die den Be­reich der zwang­haf­ten »Li­kes« cha­rak­te­ri­sie­re, statt zu neu­er Schön­heit. Letzt­lich ent­steht dann doch der Ein­druck, daß Äs­the­tik auf die so­ge­nann­te ana­lo­ge Welt an­ge­wie­sen bleibt.

Wahr­haft äs­the­tisch ist und bleibt die rea­le Welt, in der wir uns leib­haf­tig be­we­gen. Reichl ge­hört zu de­nen, die nicht auf ei­ne rea­le Exi­stenz ver­zich­ten möch­ten, auch wenn die vir­tu­el­le Welt un­ge­heu­re Mög­lich­kei­ten vor­gau­kelt. In sei­ner Ein­füh­rungs­vor­le­sung über die Grund­la­gen der In­for­ma­tik wird er im­mer wie­der mal ge­fragt, ob denn die Vor­le­sung nicht »ge­streamt« wer­de. Nein, ist sei­ne Ant­wort, und er weist die Stu­den­ten dar­auf hin, daß ge­ra­de die Au­gen­blickshaf­tig­keit mit der Re­al­prä­senz des Pro­fes­sors die Chan­ce sinn­li­cher Wahr­neh­mung und der ent­spre­chen­den Ein­dring­lich­keit wie auch Kon­zen­tra­ti­on bie­te, wäh­rend dies beim, sei es auch wie­der­hol­ten, Nach­hö­ren und Nach­se­hen in der trü­ge­ri­schen Ewig­keit des In­ter­nets nicht der Fall sei. Am wohl­sten fühlt sich Reichl beim Ge­spräch, in der nicht vir­tu­el­len, son­dern ak­tu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on. Und wenn es sich um ei­ne Vor­le­sung vor zahl­rei­chem Pu­bli­kum han­delt, dann ist er im­mer auch Dar­stel­ler auf ei­ner Büh­ne, der sei­ne Rol­le spielt, wie es der Schau­spie­ler und der Opern­sän­ger in ih­rem Kon­text tun.

Et­was von die­ser Thea­tra­lik spü­re ich in sei­nem Bü­ro, un­ter vier Au­gen, als er vom run­den Tisch auf­steht und zur Ta­fel geht, um ei­ne Zah­len­rei­he auf­zu­schrei­ben und mir zu de­mon­strie­ren, daß es ver­schie­de­ne Me­tho­den des Wur­zel­zie­hens gibt und sich die­se hier gut eig­net, um den Vor­gang ma­schi­nell er­le­di­gen zu las­sen. So ein­fa­che Bei­spie­le hat er si­cher schon tau­send­mal vor­ge­führt, und den­noch ver­ra­ten sei­ne Stim­me und sein Kör­per ei­ne Be­gei­ste­rung, die un­fehl­bar auf den Schü­ler über­geht. Sei­ne Ho­mo-cy­ber-Bü­cher hat Reichl mit der­sel­ben päd­ago­gi­schen Ver­ve ge­schrie­ben und mit Schich­ten und Spit­zen ver­se­hen, die ab­strak­te Dis­kur­se an­schau­lich ma­chen, Un­ter­hal­tung als Sur­plus zur Er­kennt­nis bie­ten und Aha-Er­leb­nis­se lie­fern. Aut pro­des­se volunt aut delec­ta­re poe­tae, zi­tiert Reichl das al­te Dik­tum des Ho­raz, das uns bei­den als ehe­ma­li­gen Schü­lern hu­ma­ni­sti­scher Bil­dungs­an­stal­ten ge­läu­fig ist und das auch sein en­ge­rer Lands­mann Ber­tolt Brecht gern zi­tier­te. Nur daß die Dich­ter, neu­gie­rig auf die Fort­schrit­te der Wis­sen­schaft, von der Sei­te er­götz­li­cher Äs­the­tik kom­men, die Wis­sen­schaft­ler hin­ge­gen von der des nütz­li­chen Stu­di­ums.

Den Un­ter­hal­tungs­wert in den schrift­li­chen wie auch münd­li­chen Dar­bie­tun­gen Reichls emp­fin­de ich oft als Hu­mor. Die Per­son selbst, er­kennt­lich an ih­rem Stil, hat et­was Hei­te­res. Hei­ter nicht im Sinn von Spass­ma­che­rei, son­dern der Ge­las­sen­heit der al­ten Stoi­ker, die zu­wei­len von se­re­ni­tas. Reichl ge­braucht im Ge­spräch ein­mal das Wort »Kul­tur­pes­si­mis­mus«. Liest man sei­ne Aus­füh­run­gen oh­ne Rück­sicht auf die Hei­ter­keit ih­res Stils, so könn­te man wirk­lich zum Schluß kom­men, un­se­re mensch­heit­li­chen Aus­sich­ten sei­en nie­der­schmet­ternd trüb. Zu al­lem Über­druss trägt die In­for­ma­tik, al­so Reichls Fach, ei­nen Gut­teil der Schuld dar­an. De­pri­mie­rend! Aber de­pres­siv macht ei­nen der Um­gang mit die­sem Mann, dem im hoch­dif­fe­ren­zier­ten 21. Jahr­hun­dert et­was vom Uni­ver­sal­ge­lehr­ten an­haf­tet, eben nicht, im Ge­gen­teil. Man kann es auch phy­si­ka­lisch se­hen: Päd­ago­gik ist, ge­nau­so wie die Ver­mitt­lungs­ar­beit der Kunst, ei­ne Fra­ge der En­er­gie. Je­mand, der viel En­er­gie hat, möch­te und muß sie ver­sprü­hen, aber nicht sinn­los, das heißt: Er möch­te sie über­tra­gen. Und ge­nau das ge­schieht bei der Lek­tü­re der Bü­cher eben­so wie im Ge­spräch.

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Der Kul­tur­pes­si­mis­mus hat ei­ne alt­ehr­wür­di­ge Tra­di­ti­on, doch zum Glück sind die Ah­nun­gen, ist das Un­be­ha­gen der äl­te­ren Wei­sen nicht durch­wegs Wirk­lich­keit ge­wor­den. Auf das Phä­no­men der Ver­ro­hung der Kom­mu­ni­ka­ti­on und der sy­ste­ma­ti­schen Reiz­über­flu­tung in den So­zia­len Me­di­en geht Reichl münd­lich noch ein­mal ein. Man kann die­ses Phä­no­men näm­lich durch ei­ne Ana­lo­gie zu ei­nem tech­nisch-öko­no­mi­schen Phä­no­men er­hel­len, mit dem er sich be­schäf­tig­te, als er vor dem Be­ginn sei­ner aka­de­mi­schen Kar­rie­re bei ei­nem For­schungs­in­sti­tut ver­schie­de­ner Te­le­kom­mu­ni­ka­ti­ons­an­bie­ter tä­tig war.

»Ho­he Nach­fra­ge«, schreibt er im Buch, »führt auf­grund der be­schränk­ten Band­brei­te zu schlech­te­rer Qua­li­tät, die­se läßt sich nur bil­lig ver­kau­fen, was wie­der­um die Nach­fra­ge wei­ter er­höht, die Qua­li­tät wei­ter nach un­ten treibt – ein ty­pi­sches race to the bot­tom al­so. Als Er­geb­nis lan­det man letzt­lich an ei­nem Gleich­ge­wichts­punkt, in dem dies schlech­te Qua­li­tät für al­le um­sonst ha­ben.« Ge­nau, im In­ter­net wol­len wir al­les gra­tis ha­ben, nie­mand ist be­reit, für Qua­li­tät zu zah­len, die Ein­nah­men der Tech-Fir­men ge­sche­hen hin­ter un­se­rem Rücken, durch Wer­bung und Da­ten­ver­kauf. Wenn nun aber die hier skiz­zier­te Dy­na­mik un­auf­halt­bar ist, er­gibt sich zwangs­läu­fig ei­ne »Sta­bi­li­tät der Häss­lich­keit«, was wie­der­um be­deu­ten wür­de, »daß ein ›schö­ner‹, al­so po­li­tisch kon­struk­ti­ver Dis­kurs im Netz prin­zi­pi­ell un­mög­lich wä­re. Trü­be Aus­sich­ten al­so.«

Aus­sich­ten ei­nes Kul­tur­pes­si­mi­sten. Der sich, weil er gar nicht an­ders kann, stoi­scher Hei­ter­keit ver­schrie­ben hat. Die Er­fol­ge der Rechts­po­pu­li­sten wä­ren, so­fern Reichls Rä­son­ne­ment zu­trifft, un­ver­meid­lich, weil durch ei­ne welt­be­herr­schen­de, sich selbst­läu­fig im­mer wei­ter ent­fal­ten­de Tech­no­lo­gie be­dingt, die von ih­ren po­li­ti­schen Nutz­nie­ßern aus Grün­den der Iso­mor­phie am ge­schick­te­sten be­dient wer­den und die frü­her oder spä­ter von de­ren po­li­ti­schen Mit­be­wer­bern nach­ge­ahmt wer­den. Es gibt kein Ent­rin­nen, wir le­ben be­reits in ei­ner Tech­no-Dik­ta­tur, wie sie einst Gün­ther An­ders auf­grund da­ma­li­ger ge­sell­schaft­li­cher Er­fah­run­gen – die Atom­bom­be, eben­falls ein in­di­rek­tes Re­sul­tat ma­the­ma­tisch-phy­si­ka­li­scher For­schun­gen – an die Wand mal­te.

Reichl warnt, doch mit sei­nem schö­nen Te­nor klingt er nicht wie ei­ne Kas­san­dra, eher wie ein glück­li­cher Si­sy­phos (im Sin­ne von Al­bert Ca­mus). Un­ter die­sem Stern be­wegt sich Pe­ter Reichl. Ich bin da­von ab­ge­kom­men, ihn zu fra­gen, ob er tat­säch­lich mei­ne, daß wir uns Zu­stän­den wie da­mals nä­hern. Letzt­lich muß je­der die Ant­wort selbst ge­ben, und nie­mand kann sie der­zeit de­fi­ni­tiv ge­ben. Reichl er­zählt, wie er als Schü­ler zu wäh­len hat­te zwi­schen Alt­grie­chisch und Fran­zö­sisch als drit­ter Fremd­spra­che. Er ent­schied sich für Grie­chisch, weil er sich sag­te, dies sei die ein­zi­ge Chan­ce in sei­nem Le­ben, die­se Spra­che zu ler­nen, spä­ter wür­de sie nicht wie­der­keh­ren. Wo­für er plä­diert, ist letzt­lich die Be­wah­rung über­lie­fer­ter, aus der grie­chi­schen An­ti­ke stam­men­der hu­ma­ni­sti­scher Stan­dards, das heißt vor al­lem: mensch­li­cher Fä­hig­kei­ten, die wir trotz der hö­he­ren Per­fek­ti­on und Ge­schwin­dig­keit der in­tel­li­gen­ten Ma­schi­nen wei­ter­hin pfle­gen soll­ten, so­wie an­de­rer, die von Ma­schi­nen, die kein ei­ge­nes Be­wusst­sein ha­ben, auf ab­seh­ba­re Zeit kei­nes­falls er­wor­ben wer­den kön­nen. Die­se be­glei­ten­de Skep­sis führt zu ei­ner im­mer auch kon­ser­va­ti­ven Hal­tung, die in sei­nem Fall mit ei­ner in­ten­si­ven Neu­gier für tech­ni­sche Er­fin­dun­gen und Pro­blem­lö­sun­gen ein­her­geht. Der Hu­ma­nist in ihm und, so steht zu hof­fen, in uns al­len, fügt sol­cher Neu­gier skep­ti­sche Fra­gen hin­zu, ob wir das, was tech­nisch mach­bar wird, über­haupt brau­chen, ob es wün­schens­wert ist, wel­che un­er­wünsch­ten Ne­ben­wir­kun­gen und Spät­fol­gen auf Men­schen und Um­welt es ha­ben kann. Wie wir mitt­ler­wei­le aus Er­fah­rung wis­sen, sind die­se mas­siv.

Peter Reichl - © Markus Kupferblum
Pe­ter Reichl, Wien, Weih­nachts­vor­le­sung 2024 – © Mar­kus Kup­fer­blum

Ho­mo cy­ber, bis­her 2 Bän­de, er­schie­nen im Salz­bur­ger Ver­lag Müry Salz­mann 2023 bzw. 2024.

© Text: Leo­pold Fe­der­mair
© Fo­to Pe­ter Reichl: Mar­kus Kup­fer­blum


  1. Homo cyber, bisher 2 Bände, erschienen im Salzburger Verlag Müry Salzmann 2023 bzw. 2024

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