
Leo ist 15, ignoriert die Entschuldigungen der überarbeiteten Mutter auf dem Anrufbeantworter, packt hastig ihren Rucksack und bricht auf. Auf ihrem Smartphone hat sie ein Video von einem Mann, der als Surflehrer arbeitet und etwas über Kinder und Familie erzählt. Sie fährt zu diesem Mann, nach Marina Romea, an die italienischen Küste. Man hört Salt Coast von Kae Tempest. Es ist Januar, man sieht vereinzelt Spuren eines Sturmes; keine Touristen, der Ort ist wie ausgestorben. Der Mann auf dem Video ist Paolo, ihr Vater.
So beginnt Paternal Leave, der erste Spielfilm der Schauspielerin, Ärztin und Drehbuchautorin Alissa Jung. Ich musste erst einmal nachschlagen, dass der Titel eine englische Bezeichnung für Vaterschaftsurlaub ist. Diese feine Ironie führt ein wenig in die Irre. Mit »Drei Tage Meer« gibt es noch einen deutschen Nachtitel, der zwischen Kurztrip-Angebot und Roadmovie changiert.
Leo erreicht das Quartier ihres Vaters, eine derangierte, chaotische Wohnhütte mit der Bezeichnung »BOSCO«. Wenige Meter entfernt steht ein kleiner Camper-Bus. Sie zögert kurz, dann die Konfrontation. Paolo, ohne Sommerbart, ist verblüfft, vermutet eine Streunerin. Dann konfrontiert Leona Neumann, geboren 2008, den 1987 geborenen Paolo Cubidi mit den Fakten. Sie habe nicht viel Zeit, sagt sie, will ihm ein paar Fragen stellen, holt ein Heft heraus, dann das Smartphone, mit dem sie das Gespräch aufzeichnen möchte. Es ähnelt einem Verhör und Paolo hat keine Lust auf die Fragen, kocht ihr aus Verlegenheit Pasta (die versalzen sind), will ablenken, Leo verunsichern und dann meldet sich aus dem Camper Emilia, Paolos drei- oder vierjährige Tochter und Leo sieht, wie sich Paolo um dieses Kind kümmert, sie in den Schlaf bettet.
Juli Grabenhenrich spielt Leo mit zwischen Selbstgerechtigkeit und Bitternis changierender Bedürftigkeit. Besonders zu Beginn denkt man bei ihr an einen Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch steht. In den Telefonaten mit Anna, ihrer Mutter, zeigen sich spätestens beim deren hilflosen »Heute Abend umarmen wir uns mal« gleichsam Probleme. Daher die Freiräume, die sie als 15jährige bekommt; das sie nicht zu Hause übernachtet scheint kein Problem zu sein. Und so kann sie der Mutter eine Lüge nach der anderen über ihren Aufenthalt erzählen.
Paolo reagiert nach dem ersten Schock erstaunlich kühl und zeigt keine Anstalten von Reue, sich nicht um die Tochter in Deutschland gekümmert zu haben. Er will die Eindringling rasch wieder loswerden, fragt nach dem Plan für die Rückkehr. Was er von Leos Unduldsamkeit und Widerspruchsgeist hält, zeigt er, als er ihr das einzige deutsche Wort nennt, das er kennt: »Besserwisser«. Paolo hat wenig Phantasie, bemüht die üblichen Ausreden und Floskeln, er sei damals 21 gewesen und wolle jetzt mit Emilia und Valeria (Emilias Mutter) »nicht mehr den gleichen Fehler machen«. »Ich bin kein Fehler«, sagt, nein: schreit Leo ihm später entgegen.
Aber es gibt sie, die Annäherungen zwischen Vater und Tochter. Zögerlich. Sie habe noch eine Menge Fragen, sagt sie, aber sie wisse nicht, ob sie die Antworten hören wolle. Einmal scherzen sie über Leos Lüge von der Gastfamilie Ramazzotti, dann gehen sie surfen im eiskalten Meer und Paolo erklärt ihr nachher seine Tattoos, während sie auf der Gitarre ein paar Akkorde spielt. Und wieder Rückschläge: die Verleugnung der Tochter gegenüber anderen. Er kenne dieses Mädchen nicht, sagt er zu Valeria, die Leo zunächst für eine Geliebte hält. Paolo will seine Fassade aufrecht erhalten. Die beiden Lebenswelten sollen sich nicht vermischen. Das hat kurz sogar etwas Komisches. Als Valeria bemerkt, dass Leo wie Paolo auf Schokolade allergisch reagiert, stutzt sie. Die Art und Weise, wie Paolo diese Übereinstimmung relativiert, nährt erst recht Skepsis. Als Emilia mit Leo ungestüm in den Wald läuft und die beiden kurzfristig von Paolo und Valeria gesucht werden, bricht Panik aus. Als sie wohlbehalten zurückkommen, verliert er die Fassung und ohrfeigt Leo. Dabei war sie es, die Emilia beschützt hatte.
Es gibt eine Binnenerzählung in diesem Film, die schöner ist, als die Tochter-Vater-Geschichte. Leo lernt den etwa gleichaltrigen Edoardo kennen (überzeugend: Arturo Gabbriellini), der unter anderem für den kleinen Laden mit seinem Moped die Kunden beliefert. Sein Vater legt ihm überall Pornomagazine hin, aber Edoardo will das nicht. Er ist schwul und manchmal bekommt er dafür Schläge. Leo und Edoardo verbrennen die Pornohefte bei Italopop und Bier. Und auch Leo wirft ihr Frageheft in die Flammen. Kurze Momente des Glücks, des Einverständnisses, der Freiheit. Nach einem Bad im Meer macht Leo mit ihm ein Selfie, küsst ihn auf die Schulter. Das könne er nun wie die Fußballspieler »im Notfall« herumzeigen, sagt sie: Er habe jetzt eine Freundin, aus Deutschland.
Die Inszenierung der Nachsaison-Tristesse des einsamen Urlaubsortes korrespondiert mit der Gefühlslage Leos zu Beginn. Luca Marinelli zeigt einen Paolo zwischen gespieltem Gleichmut und Hilflosigkeit. Am Ende wird es etwas theatralisch mit Schreitherapie, dann ein bisschen »liebevoller Kampf«, man erfährt, welchen Namen Paolo Leo geben wollte und es wird ein Flamingo begraben, der Paolo vor das Auto gelaufen war. »Du gehst wie ich«, sagt Paolo zu ihr dann, wie beiläufig. Und sie macht seinen Gang noch mehr nach, hüpft sich in den Gleichschritt. Die schönste Szene. Kurz bevor sie wieder zurückfährt.
Road-Movies waren einst filmische Entsprechungen des Entwicklungsromans, in denen die Bewegung, das Reisen Zukunftslust auf das Unbekannte bedeutete und positiv konnotiert war. In Paternal Leave geht es zunächst um eine Reise in eine Vergangenheit, die es nicht gegeben hatte. Nur kurz scheint Leos Zukunft davon abzuhängen, wie Paolo sein Handeln bzw. Nicht-Handeln reflektiert. Rasch begreift sie allerdings, dass die Kindheit ohne Vater nicht mehr nachzuholen ist und moralische Empörung darüber verschwendet ist. Schade ist, dass der Film in dem Moment aufhört, als er noch einmal anders interessant würde.