Das ewi­ge Lä­cheln

Ka­mel Daouds preis­ge­krön­ter und um­strit­te­ner Ro­man Hu­ris

Die Haupt­fi­gur die­ses Ro­mans ist weib­lich, 26 Jah­re alt, sie lebt in Oran (Al­ge­ri­en) und trägt ein ewi­ges »Lä­cheln« un­ter dem Kinn. Lä­cheln zwi­schen An­füh­rungs­stri­chen. Die deut­schen Über­set­zer Hol­ger Fock und Sa­bi­ne Mül­ler ha­ben es vor­ge­zo­gen, die An­füh­rungs­zei­chen weg­zu­las­sen und durch­ge­hend »Grin­sen« zu schrei­ben. Durch­ge­hend, in­so­fern die­ses Schlüs­sel­wort vom An­fang bis zum Schluss sehr oft vor­kommt. Es han­delt sich um ei­ne Nar­be, die der jun­gen Frau nach ei­nem Mord­an­schlag auf ih­re Fa­mi­lie und ihr gan­zes Dorf ge­blie­ben ist. Sie war da­mals fünf Jah­re alt.

Kamel Daoud: Huris
Ka­mel Daoud: Hu­ris

Im Al­ge­ri­en der neun­zi­ger Jah­re des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts kam es häu­fig zu sol­chen Grau­sam­kei­ten, das Durch­schnei­den von mensch­li­chen Keh­len war bei den selbst­er­nann­ten is­la­mi­sti­schen Got­tes­krie­gern be­son­ders be­liebt. De­ren po­li­ti­sche Par­tei hat­te An­fang 1992 die Par­la­ments­wah­len ge­won­nen, die­se wur­den un­ver­züg­lich – un­ter dem Bei­fall der eu­ro­päi­schen Öf­fent­lich­keit – an­nul­liert. Die Herr­schaft der FLN, die drei Jahr­zehn­te zu­vor die Un­ab­hän­gig­keit von Frank­reich er­kämpft hat­te, wur­de durch den is­la­mi­sti­schen Ter­ror (200.000 To­des­op­fer) nicht ge­bro­chen, sie dau­ert bis heu­te an. 2019 ent­stand in Al­ge­ri­en ei­ne jun­ge, mas­sen­haf­te, nicht re­li­gi­ös aus­ge­rich­te­te Pro­test­be­we­gung (»Hi­rak«), die letzt­lich der Co­ro­na-Pan­de­mie zum Op­fer fiel. Ka­mel Daoud, der Ver­fas­ser von Hu­ris, sym­pa­thi­sier­te an­fangs mit dem Hi­rak, di­stan­zier­te sich je­doch bald da­von.

Daoud sieht die we­sent­li­che Auf­ga­be sei­nes Ro­mans dar­in, das Er­in­nern an die schwar­ze De­ka­de zu si­chern. Im Vor­spann zi­tiert er ei­ne Pas­sa­ge aus der »Char­ta zur na­tio­na­len Ver­söh­nung«, de­ren Be­stim­mun­gen Ge­set­zes­kraft ha­ben und 2005 in Kraft ge­tre­ten sind. Die bei­den Haupt­fi­gu­ren, hin­ter de­nen ganz of­fen­sicht­lich der Au­tor steht, spre­chen bzw. schrei­ben ein ums an­de­re Mal ge­gen die Vor­schrift des Ver­ges­sens an. Nimmt man als Le­ser die At­mo­sphä­re auf, die Daoud im Ro­man in­sze­niert, so kommt man zum Schluss, dass im ge­gen­wär­ti­gen Al­ge­ri­en ein stil­les Ein­ver­ständ­nis zwi­schen Is­la­mi­sten, is­la­mi­schem Main­stream und dem Mi­li­tär­re­gime herrscht. Der die bür­ger­li­chen Frei­hei­ten be­schrän­ken­de, po­li­tisch ein­fluss­rei­che Is­lam hät­te trotz der mi­li­tä­ri­schen Nie­der­la­ge nach dem schwar­zen Jahr­zehnt die Ober­hand ge­won­nen.

Au­be, die Haupt­fi­gur, wirkt mit ih­rem Schön­heits­sa­lon, den sie aus­ge­rech­net ge­gen­über ei­ner Mo­schee führt, ziem­lich ein­sam. Kei­ne Spur von Hi­rak, kei­ne lai­zi­sti­sche Ju­gend, die ei­ne »neue Un­ab­hän­gig­keit« for­dert, und über­haupt: kei­ne Freun­de. Nur ein paar Pro­sti­tu­ier­te, oder Ver­rück­te, oder was im­mer sie sind, die so­gleich von der Po­li­zei ab­trans­por­tiert wer­den. Der al­ge­ri­sche All­tag ist be­drückend; der Ro­man wird der Wirk­lich­keit wohl ei­ni­ger­ma­ßen ent­spre­chen. Im Zen­trum der Mi­se­re sieht Daoud die Un­ter­drückung der Frau, ih­re Un­sicht­bar­keit und Stimm­lo­sig­keit.

Au­be will den Frau­en ei­ne Stim­me ver­lei­hen, doch pa­ra­do­xer­wei­se ist sie selbst stumm, erst am En­de ge­winnt sie ei­ne äu­ße­re, hör­ba­re Stim­me. Bei dem Mord­an­griff wur­de sie zwar nicht ge­tö­tet, der Got­tes­ter­ro­rist hat ihr aber die Stimm­bän­der durch­trennt. Daoud hat vie­le Merk­ma­le sei­ner Haupt­fi­gur von ei­ner le­ben­den Per­son, Saâ­da Ar­ba­ne, über­nom­men, die bei sei­ner zwei­ten Ehe­frau, ei­ner Psych­ia­te­rin, in Be­hand­lung war. Saâ­da Ar­ba­ne hat­te lan­ge vor der Pu­bli­ka­ti­on des Ro­mans den Au­tor wis­sen las­sen, dass sie ei­ne Ver­wen­dung ih­rer Ge­schich­te, de­ren De­tails er nur durch sei­ne Frau ken­nen konn­te, nicht wün­sche. In Al­ge­ri­en ist der­zeit ein Rechts­streit an­hän­gig. Daoud, der seit über zehn Jah­ren ei­ne »Fat­wa« hat, lebt in­zwi­schen mit sei­ner Frau in Frank­reich. Sein mit dem Gon­court-Preis ge­ehr­tes Werk wur­de von ei­nem be­kann­ten Kri­ti­ker als »fe­mi­ni­sti­scher Ro­man« be­zeich­net. Dass dies zu­trifft, ist aus meh­re­ren Grün­den zwei­fel­haft.

Hu­ris wirkt als Ro­man­kon­struk­ti­on frag­men­ta­risch, oft auch in­ko­hä­rent. Die Grund­hal­tung der Haupt­fi­gur ist zy­nisch, sie er­war­tet sich nichts, aber auch gar nichts von ei­ner Ge­sell­schaft, in der im­mer noch die Bär­ti­gen das Sa­gen ha­ben. Sie ist schwan­ger, aber ein Kind in die­se Welt zu set­zen, hält sie für ei­nen Feh­ler. Trotz­dem zö­gert sie mit der Ab­trei­bung und ganz am En­de, im letz­ten, nach­wort­ar­ti­gen Ka­pi­tel, schlägt ih­re Hä­me in ei­ne le­bens­freund­li­che Ein­stel­lung um. Dies ent­spricht dem Pro­gramm, das Daoud im Ro­man ent­fal­tet und in In­ter­views mehr­fach be­kräf­tigt hat. Über­haupt ist Hu­ris ei­ne Art Pro­gramm­li­te­ra­tur, die ei­ni­ge ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gun­gen il­lu­striert. Über­zeu­gun­gen, die im lai­zi­sti­schen Frank­reich und dar­über hin­aus auf viel Ge­gen­lie­be sto­ßen. Hu­ris ist ei­ne kom­ple­xe Er­zähl­ma­schi­ne, die durch viel Rhe­to­rik und Rea­li­en, die nicht im­mer glaub­wür­dig er­schei­nen, zur Über­hit­zung ten­diert. Trotz­dem be­sitzt der Ro­man ei­nen über­grei­fen­den Hand­lungs­bo­gen, ge­bil­det durch die Fra­ge, ob die »lä­cheln­de« Stimm­lo­se den acht­wö­chi­gen, al­so et­wa erb­sen­gro­ßen Fö­tus in ih­rem Bauch ab­trei­ben soll oder nicht. Zu ihm spricht Au­be wäh­rend des vier­tä­gi­gen Op­fer­fests, bei dem zahl­lo­sen Läm­mern die Keh­len durch­ge­schnit­ten wer­den. Hu­ris ist ein ein­zi­ger, mehr in­ne­rer als äu­ße­rer Mo­no­log.

Der Ti­tel be­zieht sich auf die von west­li­chen Me­di­en so gern auf­ge­grif­fe­nen Jung­frau­en im is­la­mi­schen Pa­ra­dies. Au­be nennt das Un­ge­bo­re­ne »mei­ne Hu­ri«. Im Ro­man stellt sie die Lei­bes­frucht je­nen an­de­ren Hu­ris ge­gen­über, die den »hel­den­haf­ten« – sprich: mord­lu­sti­gen – Mus­li­men ver­spro­chen sind. Es ist dies ei­ne der nar­ra­ti­ven Kon­struk­tio­nen, die man als kri­ti­scher Le­ser nicht un­be­dingt nach­voll­zie­hen mag. Aus li­te­ra­ri­scher Sicht ist das Pro­blem die­ses Ro­mans we­ni­ger die An­eig­nung der Ge­schich­te Saâ­da Ar­ba­nes als sei­ne Über­la­den­heit mit sym­bol­schwan­ge­ren Mo­tiv­ket­ten und ver­blüf­fen­wol­len­den Kon­tra­sten wie auch Par­al­le­lis­men in der Er­zähl­kon­struk­ti­on. Am ein­drucks­voll­sten sind letzt­lich die we­ni­gen chro­no­lo­gisch und oh­ne viel Me­ta­pho­rik er­zähl­ten Ge­schich­ten, et­wa die ei­ner Frau, die ent­führt und zwangs­wei­se mit Ter­ro­ri­sten ver­hei­ra­tet und zur Ge­bär­ma­schi­ne ge­macht wird; im Un­ter­schied zu den männ­li­chen Got­tes­krie­gern wur­de sie nie re­ha­bi­li­tiert.

Im Fa­zit er­scheint Daouds Ro­man als rhe­to­risch-poe­ti­scher Ver­such mit do­ku­men­ta­ri­schem An­spruch. Nicht Fisch und nicht Fleisch, ha­ben die Kon­struk­tio­nen oft nicht Hand und Fuß (be­zie­hungs­wei­se Flos­se und Schwanz). Daouds rhe­to­ri­sche Kraft, wohl auch sein spür­ba­rer Wil­le, ein gro­ßes Werk zu schaf­fen, hal­ten er­fah­re­ne Le­ser trotz­dem bei der Stan­ge, und ei­ni­ges über das Al­ge­ri­en der letz­ten 35 Jah­re kann man hier durch­aus er­fah­ren. An­de­re Le­ser wer­den an der Mü­he, sich durch die­ses an­spruchs­vol­le Werk zu ackern, schei­tern.

Ei­ne kür­ze­re Ver­si­on die­ser Kri­tik er­schien vor ei­ni­ger Zeit im Ma­ga­zin Fal­ter.

© Leo­pold Fe­der­mair

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