Ulf Po­s­ch­ardt: Shit­bür­ger­tum

Ulf Poschardt: Shitbürgertum
Ulf Po­s­ch­ardt:
Shit­bür­ger­tum

Die Ab­sa­ge des Ver­lags zu Klam­pen mach­te erst recht neu­gie­rig. Was hat­te Ulf Po­s­ch­ardt, der (da­ma­li­ge) Chef­re­dak­teur der Welt, oh­ne­hin nicht be­kannt für aus­ge­wo­ge­ne For­mu­lie­run­gen, bloß ge­schrie­ben? Schon der de­si­gnier­te Ti­tel: Shit­bür­ger­tum. Po­s­ch­ardt mach­te nun et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches: Er such­te sich kei­nen neu­en Ver­lag, was ihm si­cher­lich ein Leich­tes ge­we­sen wä­re, son­dern gab sein Buch als Selbst­pu­bli­ka­ti­on her­aus. Es lie­ge »sehr bil­lig in den Hän­den« schrieb mir ein Freund, wo­mit Pa­pier und Um­schlag ge­meint wa­ren. In­nen fun­ke­le es al­ler­dings. Ich war­te­te auf das E‑Book bei Ama­zon. Ein paar Mo­na­te spä­ter nahm sich der West­end-Ver­lag der Sa­che an und Po­s­ch­ardt schrieb noch ein Ka­pi­tel zur in­zwi­schen statt­ge­fun­de­nen Bun­des­tags­wahl 2025 da­zu.

Mit dem Ver­lag im Rücken schaff­te es das Buch bis auf Platz 3 der der Spie­gel Best­sel­ler­li­ste. Es gilt längst als Kult; man bie­tet so­gar Kaf­fee­be­cher und Base­caps im Co­ver-Aus­se­hen an. »Re­spekt muss man sich ver­die­nen, Re­spekt­lo­sig­keit auch«, so Po­s­ch­ardt im »Vor­vor­wort« zum Ti­tel. Wei­ter hin­ten er­fährt man, dass ihn der ar­gen­ti­ni­sche Prä­si­dent Ja­vier Mi­lei da­zu in­spi­riert ha­be. Der ha­be die Lin­ke »Schei­ße« ge­nannt. Und da­nach ei­ne Wahl ge­won­nen.

2016 ent­deck­te Po­s­ch­ardt schon ein­mal ei­ne neue Ge­sell­schafts­schicht und ver­öf­fent­lich­te ein Buch über das Ge­schmacks­bür­ger­tum. Die Zeit des Bil­dungs­bür­gers ge­he zu En­de, so stand im Wer­be­text. »Bil­dung wird durch Ge­schmack er­setzt«. Was das ge­nau be­deu­tet, ist schwer zu sa­gen; das Buch ist ver­grif­fen und wur­de nur we­nig kom­men­tiert. »Der Bür­ger strebt nach Schön­heit, auch weil er sich selbst da­mit re­prä­sen­tie­ren will«, schreibt Po­s­ch­ardt 2014 und de­kla­miert: »Der Kul­tur­kampf ist vor­bei.« Min­de­stens galt es für die Ar­chi­tek­tur.

Zehn Jah­re spä­ter ist die­se Epi­so­de, so­fern es sie je gab, vor­bei. Weg auch mit den halb­wegs vor­neh­men Um­schrei­bun­gen à la »links-li­be­ral« oder »ju­ste mi­lieu«, vor­bei der im­mer et­was dum­me Spruch vom »Gut­men­schen­tum« (wo sind denn die »Bös­men­schen«?), mit dem man die sich mo­ra­lisch und sitt­lich über­le­gen füh­len­den cha­rak­te­ri­sier­te. Die­ses Mi­lieu wird jetzt »Shit­bür­ger­tum« ge­nannt. Über­all fin­den de­ren Re­prä­sen­tan­ten, mo­ra­lin­saure Bes­ser­wis­ser, die un­ge­fragt an­de­ren Essens‑, Reise‑, Lektüre‑, Sprach‑, Mo­bi­li­täts- und Ver­hal­tensim­pe­ra­ti­ve er­tei­len. Sie er­klä­ren Ve­ge­ta­ris­mus, au­to­frei­es Le­ben, an­ti­dis­kri­mi­nie­ren­de Lek­tü­re, gen­der­sprach­li­che For­mu­lie­run­gen und CO2-neu­tra­le Le­bens­wei­se nicht zu Emp­feh­lun­gen, son­dern ma­chen sie zu Dog­men. Die Sa­che ist kei­nes­wegs so put­zig, wie es den An­schein hat. »Als Dis­zi­pli­nar­macht im fou­cault­schen Sin­ne rich­tet das Shit­bür­ger­tum in sei­nen Be­ru­fen im Kul­tur- und Me­di­en­be­reich, in Kir­chen und NGOs, im vor­po­li­ti­schen Raum und in den Par­tei­en über All­tag und Le­ben der an­de­ren«, so Po­s­ch­ardt. Vor­bei die Zei­ten, in de­nen man sich über Schlab­ber­pul­li-tra­gen­de Ökos in San­da­len noch amü­sie­ren konn­te. Das Shit­bür­ger­tum ist schlei­chend, aber deut­lich an den Schalt­he­beln der po­li­ti­schen (und me­dia­len) Macht an­ge­kom­men. Der neue­ste Trick: Al­les, was ge­gen die neu­en Im­pe­ra­ti­ve in Stel­lung ge­bracht wird, als »Kul­tur­kampf« zu de­kla­rie­ren. Kul­tur­kämp­fer sind im­mer die an­de­ren.

Die Fol­gen sind in al­len Le­bens­be­rei­chen spür­bar. Der »oft re­gres­si­ve und in­fan­ti­le Mo­ra­lis­mus« durch­zieht Po­li­tik, Wirt­schaft, Me­di­en und Hoch­kul­tur. Schwer­punk­te »der Tri­as der Un­ter­drückung und Um­er­zie­hung« lie­gen in der Kul­tur- so­wie »Migrations‑, Kli­ma- und Co­ro­na-Po­li­tik«. Das Shit­bür­ger­tum hat ein »Mei­ster­werk post­he­roi­scher Re­vo­lu­ti­ons­dis­zi­plin« er­rich­tet, in dem man »wei­te Tei­le ge­sell­schaft­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sy­ste­me er­obert hat.« Po­s­ch­ardt zollt die­ser Lei­stung durch­aus Re­spekt und warnt, sie zu un­ter­schät­zen und mit Be­grif­fen wie »wo­ke« zu ver­nied­li­chen. Ge­ni­al, wie das Shit­bür­ger­tum ein »Wir« er­schaf­fen hat, um sich ab­zu­gren­zen. »Zur Be­herr­schung der Sprach- und Kul­tur­kon­trol­le ge­hört zum Wir die De­fi­ni­ti­on des Nicht-Wir und da­mit die Aus­gren­zung – mit­hil­fe zum Teil ro­bu­ster Me­tho­den der De­nun­zia­ti­on und mit me­dia­len Schau­pro­zes­sen. Im Wis­sen­schafts­be­trieb hat das zur stil­len Im­mi­gra­ti­on An­ders­den­ken­der ge­führt, Ähn­li­ches ge­schah in ÖRR-Re­dak­tio­nen und Kir­chen­in­sti­tu­tio­nen.«

Po­s­ch­ardt ent­wickelt nach dem Fu­ror der bei­den Vor­wor­te ei­nen kur­zen Ab­riss der deut­schen Ge­schich­te nach 1945. Hier macht er den er­sten Feh­ler, weil er ver­sucht, gro­ße Tei­le der Nach­kriegs­ge­sell­schaft, die sich rasch in der Mit­tel­schicht wie­der­fand, so­zu­sa­gen rück­wir­kend be­reits zu Shit­bür­gern zu de­kla­rie­ren. So­gar die Grup­pe 47 be­kommt ein ei­ge­nes Ka­pi­tel. Aber Shit­bür­ger sind fast im­mer erst die Kin­der der Boo­mer, der Nach­kom­men der Wirt­schafts­wun­der­bür­ger, die, wie er rich­tig be­merkt, über die zwölf Jah­re des tau­send­jäh­ri­gen Reichs groß­zü­gig hin­weg­ge­se­hen hat­ten (was ih­nen von den Al­li­ier­ten leicht ge­macht wur­de). In­di­rekt kon­ze­diert Po­s­ch­ardt dies sel­ber, wenn er schreibt, dass es in der Bon­ner Re­pu­blik zwar auch »Mo­ral­pre­di­ger« gab, die sich zum Teil dann als »ver­be­am­te­ten Re­bel­li­ons­dar­stel­ler nach 1968« ge­rier­ten, aber bis 1989 war Deutsch­land weit­ge­hend »aus­ta­riert im rhei­nisch-ka­tho­li­schen Ka­pi­ta­lis­mus«, um dann »in ver­schie­de­nen Etap­pen nach 1990 im sä­ku­lar­pro­te­stan­ti­schen Deutsch­land der Ber­li­ner Re­pu­blik« über­führt zu wer­den. Der vor­läu­fi­ge Hö­he- bzw. Tief­punkt stellt dann An­ge­la Mer­kels Kanz­ler­schaft dar, in der die im »Wohl­stand über­mü­tig ge­wor­de­nen Um­er­zie­hungs­ri­go­ri­sten des frü­hen 21. Jahr­hun­derts« vom Kon­ser­va­tis­mus un­ter­stützt wur­den.

Das Shit­bür­ger­tum ist »öko­no­misch weit­ge­hend igno­rant, po­li­tisch hei­ter welt­fremd, aber stets im Ge­stus ge­lie­he­ner Au­to­ri­tät, der Mehr­heit der Ge­sell­schaft den Weg wei­sen wol­lend.« Wo­bei, auch das wird the­ma­ti­siert, die ein­hei­mi­sche Ge­sell­schaft längst nicht mehr aus­reicht – in­zwi­schen soll am deut­schen We­sen wie­der die Welt ge­ne­sen, sei es in der Klima‑, Außen‑, Sozial‑, Flüchtlings‑, Wirt­schafts- oder Geo­po­li­tik. Stets ste­hen Deut­sche be­reit, an­de­ren un­ge­fragt zu er­klä­ren, wie sie sich ge­fäl­ligst zu ver­hal­ten ha­ben.

Da­bei zeigt ein Rück­blick er­staun­li­ches. Mit ih­ren »über­heb­li­chen po­li­ti­schen Ur­tei­len« la­gen die Mo­ral­pre­di­ger und Shit­bür­ger fast im­mer »im Zwei­fels­fall falsch«, so Po­s­ch­ardt und zählt die Irr­tü­mer auf: »Von der Wie­der­be­waff­nung der Deut­schen über die West­bin­dung über die so­zia­le Markt­wirt­schaft über die Atom­kraft über den NA­TO-Dop­pel­be­schluss über die Frie­dens­be­we­gung über die Wie­der­ver­ei­ni­gung…« Und Ulf Po­s­ch­ardt wä­re nicht Ulf Po­s­ch­ardt, wenn er nicht auch die zeit­ak­tu­el­len Pro­blem­fel­der gleich mit ka­te­go­ri­sie­ren wür­de, in de­nen das Shit­bür­ger­tum ge­le­gen ha­ben soll: »…über die Eu­ro-Ret­tung über die Flücht­lings­po­li­tik, über das Kli­ma­re­gime über die Co­ro­na-Po­li­tik und über den Um­gang mit dem kost­ba­ren Gut der Mei­nungs­frei­heit«.

Die Mit­läu­fer des Shit­bür­ger­tums nennt Po­s­ch­ardt zu­nächst »Non-Play­er Cha­rac­ter«, ein Be­griff aus der Com­pu­ter­spiel­bran­che, be­zeich­nend Teil­neh­mer, die nur pas­siv am Ge­sche­hen teil­neh­men, Aber das ge­nügt ihm nicht. Er hat ei­nen Be­griff ge­fun­den, der be­wusst de­spek­tier­lich und be­lei­di­gend ist, viel­leicht um schwan­ken­de Sym­pa­thi­san­ten von der Agen­da rot-grün-lin­ker Ge­sell­schafts­im­pe­ra­ti­ve ab­zu­schrecken. Er nennt sie »Lauch­bour­geoi­sie« (spä­ter nur noch »Lauch«). »Lauch« sind die Cla­queu­re des Shit­bür­ger­tums, Mit­ma­cher aus Über­zeu­gung, aber vor al­lem in der Hoff­nung, bei struk­tu­rel­len Macht­ver­schie­bun­gen ir­gend­wie zu pro­fi­tie­ren. Ihr Bio­top ist der Staat und die In­sti­tu­tio­nen, die von ihm im Form von NGOs fi­nan­ziert wer­den, Hier füh­len sie sich wohl und kön­nen, bei ent­spre­chen­der Füh­rung, mit­ma­chen. Wer zwei­felt, wird ver­sto­ssen. »Das Shit­bür­ger­tum hat ei­ne Päd­ago­gik der Angst ent­wor­fen, um die­se Bour­geoi­sie loy­al zu hal­ten.« Zu die­ser Angst ge­hört es, nicht nur den ei­ge­nen Macht­ver­lust son­dern auch kon­trä­re Mei­nun­gen zu po­li­ti­schen The­men stets als Ka­ta­stro­phe dar­zu­stel­len.

Po­s­ch­ardts gro­ßes po­li­ti­sches An­lie­gen ist die Frei­heit, et­was, was er in die­sem Land zu­neh­mend kaum mehr fin­det (die FDP, die er jah­re­lang of­fen­siv, aber sel­ten di­rekt pu­bli­zi­stisch un­ter­stützt hat­te, spielt in­zwi­schen bei ihm kei­ne Rol­le mehr). Da­her sei­ne star­ke Fo­kus­sie­rung auf Ja­vier Mi­lei, des­sen Ket­ten­sä­gen-Pro­gramm, den Staat zu­rück­zu­fah­ren, um die Kräf­te des Un­ter­neh­mer­tums und der ge­sell­schaft­li­chen Frei­heit jen­seits von Re­gu­la­ri­en, Ver­ord­nun­gen und Ge­set­zen wie­der­zu­be­le­ben. Aber er be­grüßt auch Mi­leis »Idee des Bür­gers«, die »ganz na­he am Deut­schen Idea­lis­mus in sei­ner rüh­ren­den Form« lä­ge: »Kants mün­di­gem Bür­ger und He­gels Ver­wirk­li­chung der Frei­heit des Wil­lens.«

Mi­lei fun­giert auch noch als Kon­ter­part zu Or­te­ga, Ca­stro oder Chá­vez, je­nen Prot­ago­ni­sten aus Süd- und Mit­tel­ame­ri­ka, die einst von den Lin­ken hof­fiert wur­den (ei­ne sehr al­te Rech­nung, die hier prä­sen­tiert wird). »Frei­heit ist nicht ein Sa­lat­dres­sing oder ei­ne rhe­to­ri­sche Hand­creme: Frei­heit ist ein Treib­stoff mensch­li­cher Welt­erobe­rung und Neu­gier.« Er stei­gert sich ins Apo­lo­ge­ten­tum ei­nes Ni­hi­li­sten, be­ruft sich auf Nietz­sche und de­kla­miert: »Der ak­ti­ve Nihilist…zerstört be­stehen­de Wer­te, um Frei­heit zu er­mög­li­chen für In­no­va­ti­on und Neu­be­ginn.« In­ter­es­sant am Ran­de, dass in der Wer­bung zum Ge­schmacks­bür­ger­tum acht Jah­re zu­vor eben­falls Nietz­sche als Re­fe­renz ge­nannt wur­de.

Ak­tu­ell kommt noch Schum­pe­ter als Vor­bild für die »krea­ti­ve Zer­stö­rung« zu Wort. Po­s­ch­ardt hat kei­ne Be­rüh­rungs­äng­ste, sym­pa­thi­siert un­ver­hoh­len für Trumps in­nen­po­li­ti­schen Kurs. Si­cher­lich kann man sich über die Ent­rü­stun­gen über Trumps ge­lun­ge­ne PR-In­sze­nie­rung als Müll­mann oder Ka­ma­la Har­ris’ sta­ti­schen Wahl­kampf amü­sie­ren. Aber der Satz »Trump und Musk wir­ken wie freie Men­schen« hat dann doch eher et­was pu­ber­tär-poe­sie­al­bum­haf­tes und wenn er dann noch Me­lo­ni und Ne­tan­ja­hu als wei­te­re vor­bild­li­che Frei­heits­hel­den her­bei­ruft, wird es skur­ril.

Über­haupt muss man kon­sta­tie­ren, dass, so­bald Po­s­ch­ardt phi­lo­so­phisch-hi­sto­ri­sche Ana­lo­gien zu Toc­que­ville, Nietz­sche, (na­tür­lich) He­gel und auch Hein­rich Manns Di­ede­rich Heß­ling (um den deut­schen Un­ter­ta­nen­geist der letz­ten hun­dert Jah­re zu il­lu­strie­ren) be­müht, die­se häu­fig ins Lee­re lau­fen. Po­s­ch­ardt ist kein Phi­lo­soph, nicht ein­mal Feuil­le­to­nist, son­dern Leit­ar­tik­ler und Po­le­mi­ker; eher Sä­bel statt Flo­rett, bis­wei­len Gum­mi­ham­mer. Sei­ne Dia­gno­sen sind ge­schlif­fen, die Hie­be ge­gen die Bi­got­te­rien der Moralapostel/innen poin­tiert. Das von ihm so ge­nann­te Shit­bür­ger­tums kul­tur­ge­schicht­lich ab­zu­lei­ten, ge­lingt nur ein­ge­schränkt über­zeu­gend. Auch wenn er die Pop­kul­tur als Re­so­nanz­bo­den ge­gen die vom Shit­bür­ger­tum usur­pier­te »Hoch­kul­tur« in Stel­lung ge­bracht wird, ge­schieht dies meist nur als Ge­gen­po­si­ti­on, um de­ren »Am­bi­va­lenz­frei­heit« auf­zu­zei­gen. Aber viel­leicht wird der Ken­ner des Cap­tain Ame­ri­ca-Uni­ver­sums mit Po­s­ch­ardts The­se, dies sei die »Pop-Ant­wort auf Ernst Jün­gers Stahl­ge­wit­ter und Le­ni Rie­fen­stahls Tri­umph des Wil­lens ge­we­sen, et­was an­fan­gen kön­nen. Ich bin da ‘raus.

Bei al­ler Mi­lieu­kri­tik des »links-li­be­ra­len« fällt Po­s­ch­ardt na­tür­lich nicht auf die Apo­lo­ge­ten der Neu­en Rech­ten her­ein. Er ent­deckt al­ler­dings Par­al­le­len. »Der re­ak­tio­nä­re Wut­bür­ger, der in der AfD sein na­tio­nal­kon­ser­va­ti­ves Nest ge­fun­den hat, nimmt es mit der Mo­ral ähn­lich ge­nau«, heißt es ein­mal. Et­was ge­drech­selt die Poin­te, die AfD sä­he sich ähn­lich dem Shit­bür­ger­tum als ei­ne Art »Min­der­hei­ten­be­voll­mäch­tig­ter«, und zwar »als Ver­tre­ter ei­ner be­son­de­ren Min­der­heit, näm­lich der der schwei­gen­den Mehr­heit.« Und so ist man in zu­neh­mend Deutsch­land po­li­tisch hei­mat­los.

Der zwei­te Feh­ler von Po­s­ch­ardt ist sein zwi­schen den Zei­len bis­wei­len auf­blit­zen­der Tri­umph, dass das Shit­bür­ger­tum kurz vor dem Kol­laps stün­de. Zwar warnt er vor der Nai­vi­tät, das Mi­lieu zu un­ter­schät­zen, aber dann heißt es auch ganz vi­tal, dass »die Safe Spaces für das Shit­bür­ger­tum« klei­ner wür­den. »Die Rea­li­tät bricht auch in die hei­le mo­ra­li­sche Welt des Kul­tur­be­triebs ein.« Er sieht, dass es »zu En­de geht mit der Mo­no­kul­tur des Shit­bür­ger­tums und sei­ner bor­nier­ten Eng­stir­nig­keit.« Zwar ha­be es noch ei­nen letz­ten Tri­umph im Wahl­kampf 2024/25 ge­ge­ben, als man die Trup­pen noch ein­mal ge­gen »Rechts« ver­sam­meln konn­te (ge­meint wa­ren die De­mos ge­gen die Uni­on, die ei­ne Ab­stim­mung mit der AfD in Kauf ge­nom­men hat­te), wäh­rend üb­ri­gens die an­ti­se­mi­ti­schen Schlä­ger auf den pro-pa­lä­sti­nen­si­schen De­mos weit­ge­hend igno­riert wor­den sei­en. Aber à la longue sieht Po­s­ch­ardt das Shit­bür­ger­tum in ei­ne Art Dif­fu­si­on.

Wie ge­sagt, so ganz scheint er sei­ner Pro­phe­zei­ung nicht zu trau­en. Im Er­folg der Links­par­tei bei der letz­ten Bun­des­tags­wahl wird ei­ne Ra­di­ka­li­sie­rung des Shit­bür­ger­tums aus­ge­macht. Er hät­te noch die Grü­nen an­füh­ren kön­nen, die mit dem Weg­gang ei­ni­ger so­ge­nann­ter »Rea­los« ein­deu­tig nach links ge­drif­tet sind. Der klei­ne Wahl­er­folg der Uni­on (un­ter 30%) be­trach­tet man dort als In­ter­re­gnum. Das Shit­bür­ger­tum ist nicht an­ge­tre­ten, um sich im Mahl­strom ei­nes Roll­back ab­sor­bie­ren zu las­sen. Die He­ge­mo­nie links­grü­ner Po­li­tik wird nicht zu­letzt mit Hil­fe der öf­fent­lich-recht­li­chen Leit­me­di­en wei­ter ge­führt. Hier tum­meln sich die Sym­pa­thi­san­ten be­son­ders.

Ein Weg zu­rück zur Macht könn­te un­ter an­de­rem im Durch­set­zen ei­nes AfD-Ver­bots lie­gen. Dies wür­de zu­min­dest zeit­wei­se in ei­ni­gen Par­la­men­ten zu lin­ken Mehr­hei­ten füh­ren. Bis da­hin müs­sen Kon­ver­gen­zen zwi­schen Uni­on und AfD ent­deckt und wo­mög­lich auch kon­stru­iert wer­den. Po­s­ch­ardt schreibt das nicht. Nur kurz wid­met er sich der »Brandmauer«-Debatte und kon­sta­tiert, dass es auf der lin­ken Sei­te ei­ne sol­che Mau­er nie ge­ge­ben ha­be. Ins­ge­samt er­scheint mir Po­s­ch­ardts Ab­ge­sang als zu früh und der Be­griff »Shit­bür­ger­tum« ins­ge­samt zu un­ernst ge­wählt.

2 Gedanken zu „Ulf Po­s­ch­ardt: Shit­bür­ger­tum“

  1. Die feuil­le­to­ni­sti­sche Streit­schrift ent­hält vie­le gu­te in­tui­ti­ve An­sät­ze, aber ist na­tür­lich auf der theo­re­ti­schen Ebe­ne be­schränkt. Trotz­dem wür­de man das ger­ne le­sen, weil die »neue Un­heim­lich­keit« je­der­zeit meh­re­re kon­kur­rie­ren­de Er­klä­run­gen ver­trägt.
    Ich ha­be die Re­zen­si­on mit der Re­fe­renz auf die »norm­o­pa­thi­sche Ge­sell­schaft« und den »norm­o­pa­thi­schen Cha­rak­ter« von Hans-Joa­chim Maaz ge­le­sen. Das sind die Leu­te, die man frü­her die Tau­send-pro­zen­ti­gen nann­te. Es ist er­staun­lich, wie viel an Deckung man da­bei er­hält. Den sar­ka­sti­schen Be­griff des Shit­bür­ger­tums kann man sinn­be­wah­rend tat­säch­lich mit dem Be­griff Norm­o­pa­thie er­set­zen. Schon mal be­mer­kens­wert. Wir re­den von der­sel­ben Sa­che!
    Hi­sto­risch kann man das na­tür­lich zu­rück­pro­ji­zie­ren, wird aber kei­ner­lei Er­kennt­nis­vor­tei­le ge­win­nen. Ir­rele­vant, wür­de ich sa­gen. Die hart­näcki­ge Ver­blen­dung von Po­li­tik und »Kul­tur« gibt da schon eher zu den­ken. Stän­dig auf zwei Ebe­nen gleich­zei­tig zu ver­han­deln... Man­no­mann. Ich den­ke, hier kommt das Pro­blem der »Qua­dra­tur« zum Vor­schein, das Po­s­ch­ardt mit ei­nem be­herz­ten Griff zum ak­ti­ven Ni­hi­lis­mus be­ant­wor­tet. Ei­ne et­was ver­zwei­fel­te Groß­tat. Stimmt, die Auf­ga­be ist bi­zarr und bei­na­he un­mög­lich: wie be­kämpft man ein Per­so­nal, das sich er­folg­reich dem Zu­griff ei­ner ab­ge­stuf­ten Ver­ant­wort­lich­keit ent­zo­gen hat, und nur noch die Kla­via­tur der Macht kennt, und die ei­ge­ne Über­la­den­heit stän­dig in Stel­lung bringt?!
    Ich muss ge­ste­hen, dass mir die Pa­ra­do­xien schon noch viel Sor­gen ma­chen. Ich sym­pa­thi­sie­re be­reits mit der mo­ra­li­schen Se­zes­si­on, ei­ner welt­an­schau­li­chen Skep­sis. Die Auf­stel­lung von Ge­gen­kan­di­da­ten wie bei ei­nem Ele­fan­ten­ren­nen ist na­tür­lich ver­füh­re­risch, aber man weiß, wie lan­ge sol­che Il­lu­sio­nen rei­chen. Trump?! Mi­lei?! Na­ja. Rich­tig ist, dass die norm­o­pa­thi­schen Kräf­te jetzt ei­ne Ge­gen­macht zu ge­wär­ti­gen ha­ben. D.h. un­se­re Kul­tur­kämp­fe sind tat­säch­lich ein rich­ti­ges Mo­men­tum ge­wor­den, jen­seits des »Rea­len«, aber trotz­dem echt, d.h. sie ha­ben ei­nen Ef­fekt bei den Wah­len, bzw. der Ent­wick­lung der Par­tei­en. Ist doch in­ter­es­sant, dass die lin­ken Par­tei­en schon wie­der ih­re Prin­zi­pi­en­haf­tig­keit stei­gern möch­ten (...geht das?!), wäh­rend die Rechts­po­pu­li­sten in die Mit­te stre­ben (...auch nicht leicht!). Ei­ne in­ter­ak­ti­ve de­mo­kra­ti­sche Kul­tur gibt es nicht, wie es scheint. Es war wohl im­mer nur ein Kraft­akt der gu­ten Ma­nie­ren.

  2. Vie­len Dank für den Kom­men­tar. Maaz kann­te ich nicht. Und man stel­le sich ein­mal vor, Po­s­ch­ardt hät­te den Be­griff der »norm­o­pa­thi­schen Ge­sell­schaft« ver­sucht, zu po­pu­la­ri­sie­ren. Kein Mensch hät­te die­ses Buch ge­kauft.

    Ich hat­te par­al­lel ei­nen Ro­man von Au­ré­li­en Bel­lan­ger mit dem hüb­schen Ti­tel Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken ge­le­sen. Hier geht es um die so­zia­li­sti­sche Par­tei Frank­reichs und das Rin­gen der po­li­ti­schen Par­tei­en dort um Be­grif­fe wie Lai­zis­mus und Gleich­heit und na­tür­lich auch um die iden­ti­täts­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen. Der Ro­man dockt an rea­len Per­so­nen an, die aber ver­frem­det wer­den und hat in Frank­reich – wie er­war­tet – Kon­tro­ver­sen aus­ge­löst. Ver­gleicht man nun die po­li­ti­schen Kämp­fe hier und dort stellt man fest, dass es un­ter­schied­li­cher gar nicht sein könn­te (was na­tür­lich auch mit der Re­gie­rungs­form zu­sam­men­hängt). Ein ent­schei­den­der Un­ter­schied scheint zu sein, dass in fran­zö­si­schen Mas­sen­me­di­en (Talk­shows) Phi­lo­so­phen sit­zen und dort dis­ku­tie­ren, wäh­rend bei uns brä­si­ge Jour­na­li­sten­dar­stel­ler und das po­li­ti­sche Per­so­nal do­mi­niert. In Frank­reich ist zu­dem die po­li­ti­sche Rech­te »nor­mal« ge­wor­den; sie wird po­li­tisch be­kämpft und nicht mit Hal­tungs­in­tel­lek­tu­el­len. Den­noch gibt es auch dort zu­neh­mend norm­o­pa­thi­sche Aus­wüch­se. Zur Bän­di­gung die­ser ent­wickelt sich dort al­ler­dings eher we­ni­ger Trump- noch Mi­lei-Fan­tum.

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