
Das Narrenschiff
Zugegeben, ich habe lange gezögert, Christoph Heins neuen Roman Das Narrenschiff zu lesen. Warum mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall ein DDR-Gesellschaftsroman, der mit dem Wissen der 2020er Jahre geschrieben wurde? Empfiehlt es sich nicht eher, die relativ nah an den Ereignissen verfassten Romane beispielsweise eines Stefan Heym zur Hand zu nehmen (etwa die 2021 neu erschienene Werkausgabe per E‑Book)? Zudem stört mich Heins bisweilen zwischen Betulichkeit und verschwörungsgebasteltes Erzählen changierender Duktus. Schließlich überwog die Neugier.
Fünf Personen bilden das Gerüst des Romans. Es beginnt aber mit einer kleinen Szene aus dem Jahr 1950, als die Klassenbeste sechsjährige Kathinka bei einer Schulfeier dem (ersten und einzigen) Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, vorgestellt wird und ein paar belanglose Sätze fallen. Das Foto wird später, so lernt man, für kurze Zeit auf Postkarten gedruckt und landesweit verbreitet. Kathinka lebt in Berlin und ist die Tochter von Yvonne Lebinski. Der Vater, Jonathan Schwarz, war Jude und versuchte 1945 in die Schweiz zu fliehen. Yvonne wird nie mehr etwas von ihrem Mann hören; er wurde einige Jahre später für tot erklärt.
Sie trifft im Nachkriegs-Berlin auf Johannes Goretzka, der einst Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands war und jetzt in der sowjetischen Besatzungszone eine Blitzkarriere hinlegt. Als »Dr. Ing. für Hüttenwesen und Erzbergbau sowie dem Diplom eines verkürzten Zusatzstudiums der sogenannten Wirtschaftswissenschaften ML« wurde er »Abteilungsleiter in dem in Gründung befindlichen Ministerium für Schwermaschinenbau«. Eine Position mit Karriereaussichten, vielleicht sogar bis zum Minister. Goretzka ist kriegsversehrt; sein rechtes Bein wurde durch Wundbrand fast zerstört. Auf Elan und Linientreue hatte dies keinen Einfluss. Goretzka begegnet der alleinerziehenden Mutter, die sich mit Schreibarbeiten leidlich über Wasser hält. Sie ist 18 Jahre jünger als er, aber er bietet Aussichten und der Dienstwagen und die Privilegien imponieren ihr. Sie erliegt seinem Werben. Die beiden heiraten; für Yvonne ist es eine Versorgungsehe. Goretzka ist im Alltag herrisch, duldet keinen Widerspruch und ist Kathinka gegenüber kalt und abweisend, nennt sie »Pissnelke«.
Yvonne bekommt über Johannes’ Beziehungen die Leitung eines neu zu errichtenden Kulturhauses in ihrem Berliner Bezirk zugewiesen, obwohl sie keine Ahnung von Kulturarbeit hat und andere Frauen, die ihr unterstellt werden, sehr viel mehr Erfahrung besitzen. Voraussetzung ist eine kurze »Rotlichtbestrahlung« (so wird eine politische Schulung genannt) und, wie ihr die Magistratin Rita Emser unmissverständlich erklärt, unbedingt die Mitgliedschaft in der Partei, die Johannes für sie schon mal vorauseilend in Aussicht gestellt hatte. Ansonsten wird auch das »Du« zurückgenommen. Yvonne schwankt – entweder sie bleibt eine »schusselige Tippse« (Johannes) oder sie nimmt die Position an und verdient mehr Geld. Sie fügt sich.
Rita Emser ist die Frau von Karsten Emser, der unmittelbar nach Kriegsende aus Moskau kommend von den sowjetischen Behörden angewiesen wird, die Versorgungslage der Bevölkerung zu koordinieren und sicherzustellen. Später wird er Mitglied im Zentralkomitee. Bereits in der Reihenfolge der Ankunft und Zusammenstellung der Besatzung der Maschinen bemerkt er mit seinen feinen Antennen, dass er, der anerkannte Ökonomieprofessor, der nach der Machtübernahme der Nazis nach Moskau floh und sich dort durch den stalinistischen Terror lavieren musste, in wodkaseligen Momenten (und nur dann) vom Hotel Lux raunt, nur ein Feigenblatt ist. Emser wird ein im Laufe der Zeit zum delphischen Orakel seiner Freunde. Er möchte unbedingt seine Professur behalten und hat gelernt, bei den wichtigen Richtungsentscheidungen zu schweigen, abzuwarten, wohin das Pendel ausschlägt, um sich nicht der falschen Seite anzuschließen. Er wird, so scheint es, im ZK zuweilen als Antipode gebraucht, der kontroverse Entscheidungen dialektisch spiegelt, um sich danach allerdings der vorher definierten Mehrheit unterzuordnen.
1950 wird Heinrich geboren. Der ist nun der Mittelpunkt der Familie Goretzka; für Kathinka wird es nicht einfacher. Zwei Jahre später die erste Kränkung für Johannes: Er wird nicht Staatssekretär, sondern jemandem vorgezogen, der ohne Fachkenntnisse ist, aber gute Beziehungen hat. Man schickt ihn stattdessen für ein Jahr nach Moskau, angeblich eine Auszeichnung. Er ahnt, dass bei seiner Rückkehr die guten Posten mit weiteren Günstlingen besetzt sein werden. Yvonne und die Kinder atmen auf, der Tyrann ist weg. Überraschend kommt in dieser Zeit Johannes’ Mutter aus Bochum zu Besuch. Yvonne weiß nichts von den Eltern, mit denen Johannes gebrochen hatte. Die Mutter übergibt Yvonne einen Ordner, aus dem hervorgeht, dass ihr Sohn einst ein glühender Anhänger der Nazis gewesen war, Mitglied in SA und SS werden wollte, was jedoch zu seinem Bedauern abgelehnt wurde. Johannes hatte sich eine »antifaschistische Vergangenheit gebastelt«; er wendete sich um 180 Grad in der Kriegsgefangenschaft unter den Sowjets. Ein Apostat, der, wie so oft, besonders radikal wird. Yvonne beschließt, Johannes nichts vom Besuch der Mutter zu erzählen, den Kindern stellt sie die Frau als Betrügerin dar.
Der 17. Juni 1953 ist die erste, landesweite Zäsur im Arbeiter- und Bauernparadies. Die überall aufflammenden Aufstände seien der schlechten Versorgungslage geschuldet – so lautet die Quintessenz der Herrschenden. Fieberhaft soll diese jetzt verbessert werden. Auch Johannes Goretzka bekommt dies zu spüren. Zurück aus Moskau als Jahrgangsbester des Lehrgangs bewahrheiten sich seine Befürchtungen. Er wird von subalternen Figuren empfangen und in den »Sektor Schwarzmetallurgie im Bezirk Potsdam« abkommandiert. Aber er, der Parteisoldat, glaubt an die Kraft seiner Expertise. Er will nicht Pläne entwerfen, um Kochtöpfe und Gartengeräte zu produzieren, sondern entwickelt ein Konzept, wie die DDR eine Stahlproduktion aufbauen könnte, um sich wirtschaftlich unabhängig zu machen. Aber das ist nicht gewollt und wie Kathinka eines Tages bemerkt, ist Johannes plötzlich in der Zeitung: Er wird dort als Abweichler gescholten, muss für zehn Monate in eine Art Umerziehungslager und ist danach ein »gebrochener Mann« – was allerdings seiner Linientreue keinen Abbruch tut.
Yvonne macht unterdessen weiterhin Karriere. Sie wird zur Kontrolle von Professor Benaja Kuckuck eingesetzt, der die neu gegründete Hauptverwaltung Kinder- und Jugendfilm leiten soll. Hein stellt diese fünfte Hauptperson erst nach einem Viertel des Romans vor. Kuckuck ist Literaturwissenschaftler, ein genialischer und berühmter Shakespeare- und Goethe-Interpret, dessen Texte rasch übersetzt wurden. Als Jude emigrierte er nach Sheffield, wurde dort Professor und seine Marotten und sein Sarkasmus machten ihn beliebt bei den Studenten. Seine Homosexualität spielte keine Rolle. Kuckuck wollte sich 1936 freiwillig den internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg anschließen, und nur gute Freunde konnten ihn zurückhalten. Dafür trat er in die »Auslandssektion Großbritannien der Kommunistischen Partei Deutschlands« ein. Nach dem Krieg fällt ihm dieses auch publizistisch unterstützte Engagement vor die Füße: Er bekommt in Deutschland keine Professur, sondern nur Schulterklopfer. Ähnliches für Österreich und die Schweiz. Bleibt nur die DDR. Da er sein Exil im westlichen Ausland verbrachte, gilt er als möglicherweise unzuverlässig. Er muss ein Jahr warten (immerhin bekommt er ein Gehalt), bevor man ihn zum Zensor macht. Er hat keine Ahnung vom Film, will das nicht, aber er hat keine andere Wahl wie man ihm unmissverständlich klarmachte und muss sich nun zwangsläufig mit »banaler Sprache« und »nichtssagenden Geschichten« der Filmbranche der DDR abmühen.
Die zweite Zäsur ist die Abrechnung Chruschtschows 1956 mit Stalin in der sogenannten Geheimrede, die von den Protagonisten mit Vorsicht, Neugier und Furcht aufgenommen wird. »Stalin war unser Gott«. Jetzt nicht mehr? Wie sollen sie sich verhalten? Setzt sich Chruschtschow durch? Schon als es darum ging, Pommern und Schlesien an die sowjetische Besatzungszone anzuschließen, musste sich die politische Führung der DDR dem sowjetischen Druck beugen und die Oder-Neiße-Grenze als unumstößlich anerkennen. Ulbricht überstand das irgendwie. Der Mauerbau 1961, das dritte Großereignis, wird als Anregung der USA, des Politikers Fulbright, gedeutet. Wie sollte man sonst die Facharbeiterflucht aufhalten? Dass man nicht mehr nach West-Berlin konnte, ist hinzunehmen. Prager Frühling 1968? »Flausen«, laut Emser. Immerhin: Keine DDR-Soldaten dabei. KSZE, Korb 3, 1975? Nie gehört.
Dabei lässt Hein nichts aus, jede Politbüro-Bewegung, jedes Tauwetter nebst anschließendem Frost der 1950er bis 70er Jahre spiegelt sich im kleinen Goretzka/Emser/Kuckuck-Kosmos. Man liest nicht nur zwischen den Zeilen sondern lebt auch zwischen ihnen. Irgendwann treffen sich die fünf regelmässig, fast konspirativ, aber keineswegs konfliktfrei, da Johannes Goretzka die Sottisen und Volten von Kuckuck nicht behagen. Zwischenzeitlich lernt man einige Liebhaber von Yvonne Goretzka kennen, wie etwa den Schuhverkäufer, denn 300 Mark für ein exklusives Paar Schuhe kann sie sehr wohl bezahlen und der Sex tut ihr gut. Über diese Außenfiguren bekommt der Leser immerhin mit, dass einige Bewohner der DDR nicht ganz so abgewogen-zustimmend gegenüber stehen wie die Hauptfiguren, die nacheinander zu tragischen Figuren gemacht werden.
Kuckuck ist Opfer des grassierenden Antikommunismus im deutschsprachigen Raum. Das kostet ihm eine Karriere in seiner Hauptdisziplin. Auch Goretzka kann seine Fachkenntnisse nicht einsetzen. Emser hatte in Moskau Frau und Sohn an Fleckfieber verloren. Nur einmal erzählt er dezidiert von der Terrorwelle 1937, von einem Austausch von gesuchten »Staatsfeinden« zwischen Hitler-Deutschland und der Stalin-Sowjetunion. Stalin lieferte einen seiner besten Freunde, einen standhaften Kommunisten, den Nazis aus, die ihn rasch hinrichteten. Seine Rechtfertigung: Es gab nur die Wahl zwischen Hitler oder Stalin und letzterer war dann das kleinere Übel. Später wird er fast empört die putschähnlich geschilderte Machtübernahme Honeckers kommentieren und eine Art Laudatio auf Ulbricht halten, der tatsächlich einmal Stalin widersprochen hatte.
Als Kuckucks Lebenspartner, ein Kameramann, von der Stasi angeworben wird und dieser brüsk ablehnt, ruft Emser seinen Freund und Genossen Markus Fuchs (sic!) an, mit dem er ein paar Monate zuvor ein Kilo Kaviar verspeist und über die alten und neuen Zeiten geplaudert hatte. Der verspricht, sich darum zu kümmern. Alles smooth, alles gut. Die Stasi als Kummerkasten. Man erfährt noch, dass die Behörde aufgebläht wurde. Hat man sich erst einmal arrangiert, geht alles leicht. Yvonne war mit ihrem Leben zufrieden, es gab Schuhe und Alkohol, Emser schaute sich nach der Pensionierung seinen Ökonomietext von vor 50 Jahren noch einmal an. Ist was passiert?
Für die 1980er bleibt weniger Zeit im Buch. Die Erschütterungen der Biermann-Ausbürgerung – anscheinend nicht berichtenswert. Kuckuck übernimmt nach seiner Pension die Wochenzeitig Sonntag, zunächst als Chefredakteur und Herausgeber in einer Person. Man hält sich, wie man liest, raus aus dem politischen Tagesgeschäft. Das geht bis Ende der 80er gut, aber der einst so eloquent sprühende Kuckuck bekommt das richtige Ende nicht mehr mit. Sie sind Greise, als das Land zusammenbricht. Emser fragt sich und andere mehrmals was aus ihren Hoffnungen und Träumen geworden ist. »Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.«. Die Antwort gibt er sich irgendwann selber: Das »Scheitern dieses Traums begann im Jahr siebenunddreißig mit der großen Säuberung. Und ich war dabei, habe alles gesehen und trotzdem immer noch auf eine Kehrtwendung gehofft.« Fünfzig Jahre Hoffnung.
Heins Bänkelsänger-Erzähler spult die Chroniken seiner Figuren am Ende ein bisschen lieblos herunter; Kommentare unterbleiben, Suggestionen nicht. Bisweilen geraten die Biographien seiner Protagonisten durcheinander. Einmal heißt es, Rita Emser sei 20 Jahre jünger als ihr Mann, dann sind es 27 Jahre. Ein andermal ist von der 8. Volkskammerwahl in einem Juni die Rede, die, wie man nachschlagen kann, am 14. Juni 1981 stattfand. Wenige Zeilen später heißt es »Ein halbes Jahr später, im Juni, wurde Johannes Goretzka im Alter von neunundsechzig Jahren pensioniert.« Dann wäre es aber die 7. Volkskammerwahl gewesen, die allerdings am 17.10.1976 stattfand. Dies würde jedoch zu den 69 Jahren von Goretzka passen, der, wenn man die anderen Daten des Romans nachhält, um 1905-07 geboren sein müsste. Später erfährt der Leser, dass Goretzka mit 82 Jahren verstarb, was dann 1989 gewesen wäre. Da war Emser laut Erzähler 85. Als dieser jedoch ebenfalls 1989 stirbt, war er 88. Ein gewollt unzuverlässiger Erzähler, der mal Nicolai- und mal Nikolaikirche schreibt? Oder liegt es daran, dass ich eine »unkorrigierte Fassung« gelesen habe?1
Bei allen Problemen und gescheiterten Lebensentwürfen: Reale Existenznöte erleidet im Roman niemand der Hauptfiguren, nicht einmal Johannes Goretzka, der noch spät mit »Held der Arbeit« und einem Verdienstorden ausgezeichnet wurde (freilich nicht im Ehrengrab seine Ruhestätte fand). Die DDR als Wohlfühloase, sofern man denn bereit ist, zu kuschen. Umso deutlicher werden die Verwerfungen des Einigungsprozesses, die Pleiten und Arbeitslosigkeiten, ausgestellt. Da ist sie, die Moral von der Geschicht’.
Würde man ähnliches Protagonisten durchgehen lassen, die unter den Nazis reüssierten? Emser sagt einmal, er hasse Adenauer und das Personal, mit dem er sich umgebe. Jeder denkt dabei sofort an Globke, aber Hein ist subtiler: Er lässt einen ehemaligen Emigranten-Kollegen von Kuckuck auftauchen, der jetzt beim Bundesnachrichtendienst Gehlens arbeitet. Der Kollege lacht nur, wenn er auf die Vergangenheit seines Chefs angesprochen wird: »Und dieser Gehlen ist dort nicht der einzige Nazi. Die gesamte Spitze sind alles Fachleute, also alle aus dem Dritten Reich und waren mal hohe Nazis.« Empört weist Kuckuck ein Angebot des Freundes zur Spionage zurück und bricht mit ihm. Moral, die Zweite.
Übersteht man die zahlreichen stereotypischen Darstellungen, entdeckt man plötzlich einen interessanten Aspekt. Alle relevanten Protagonisten arbeiten in leitenden Positionen, für die sie entweder keinerlei Expertise nachweisen können und die sie nur durch die Gunst anderer erreicht hatten oder ihre Kenntnisse dienen nur als Makulatur und zur Außendarstellung. Stets stehen »richtige« ideologische Gesinnung und unbedingte Loyalität zu Personen über fachliche Erwägungen. So etwa »das starre Festhalten an den Preisen von neunzehnhundertundzwanzig« für Mieten und Lebensmitteln (an einer anderen Stelle wird von »neunzehnhundertzweiundzwanzig« gesprochen). Oder der Glaube, Inflation verbieten zu können. Industriekonzerne werden verpflichtet, ihre eigentliche Produktion aufzugeben und beispielsweise Haushaltsgeräte herzustellen. Emser spricht von Narren, »die noch nie eine Karte des Sternenhimmels gesehen haben, aber sobald man ihnen eine zeigt, diese sofort korrigieren«. Er selber ist im Laufe der Zeit nur noch darauf bedacht, unbeschadet zu bleiben. Das betrifft alle Felder des politisch-sozialen Lebens. Ob Mathematik-Professur oder geplante Karriere als Leiter einer Tierklinik – man muss Parteimitglied werden und sei es in einer Blockpartei. Auch in der Kulturproduktion herrscht eine strenge Staatsräson; sogar Kinderfilme werden ideologisch durchgearbeitet. Ändert sich die Parteilinie überraschend, landet auch schon mal ein ganzer Produktionsjahrgang im Giftschrank.
Nach der Lektüre der letzten Seiten dieses Romans sah ich dann im Fernsehen die Grinsgesichter der Karlspreis-Versammlung, die eine der ihren für was auch immer bepreiste und lobhudelte. Die Plebejer sind, wie man sehen konnte, unerwünscht, würden das traute Beisammensein stören und plötzlich ist klar, warum ich dieses Buch trotz all der Ungereimtheiten und erzählerischen Defizite mit Gewinn gelesen hatte. Das Narrenschiff, dieses Bild von Karsten Emser für eine erstarrte, sich selbst referenzierende und abgehobene Nomenklatura, wird zu einer listigen Allegorie auf das aktuelle Deutschland. Wie fast immer wähnt man sich auf der richtigen Seite der Geschichte, schwadroniert von »unserer Demokratie«, als gehöre sie ihnen alleine, konstruiert Identität über Feindbilder, will Gleichheit verordnen und biegt die Realität mit Voluntarismus zurecht. Ökonomie und Gesellschaft werden mit überbordender Bürokratie, Regulierungen und Verboten überschüttet. Alles mit wohlwollender Begleitung von Medien, über deren Berichterstattungen man bisweilen nur noch Lachen kann. Ein über Jahrzehnte entstandenes, neues Narrenschiff; unter anderer Flagge. Danke, Christoph Hein.
Nach Fertigstellung meines Textes fand ich auf der Suhrkamp-Webseite ein "Lesezeichen" mit Angaben zu den Hauptfiguren [pdf], inklusive der Geburtstagen. Einige Diskrepanzen bleiben. Aber vielleicht liegt es wirklich an der "unkorrigierten Fassung". Möge ein Leser bitte Klärung schaffen! ↩