Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Henning Ziebritzki: Brand

Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Brand ist der Na­me ei­nes fik­ti­ven Or­tes, ein Dorf, ir­gend­wo in der Re­gi­on Han­no­ver und es ist der Ti­tel des er­sten Ro­mans des Schrift­stel­lers und Es­say­isten Hen­ning Zie­britz­ki. Es be­ginnt mit Au­gust, der an­ders ist, was der Er­zäh­ler aber schon wuss­te, be­vor es ihm die El­tern er­zählt hat­ten. Au­gust ist schweig­sam, ein »Ta­ch« be­ant­wor­tet er ent­spre­chend, an­son­sten spricht er sel­ten und träumt ger­ne. Er ist »Greis und Kind zu­gleich«, ein Döll­mer, wie man dort sagt und das ist nicht her­ab­set­zend ge­meint, denn Au­gust hat ei­ne wich­ti­ge Auf­ga­be im Dorf. Er muss im Früh­ling die im Win­ter un­ter dem Schnee her­vor­ge­kom­me­nen Stei­ne aus dem Bo­den her­aus­su­chen, die an­son­sten die Mes­ser des Pflugs be­schä­di­gen könn­ten. Und er macht das mit Akri­bie und spie­le­ri­schem Ver­gnü­gen zu­gleich, baut, wenn es ge­lingt, klei­ne Py­ra­mi­den mit den aus­sor­tier­ten Stei­nen.

Die Er­zäh­lung von Au­gusts Le­ben und Ar­bei­ten ist das er­ste von elf Ka­pi­teln die­ses klei­nen Büch­leins mit knapp 140 Sei­ten. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler er­in­nert sich an sei­ne Er­in­ne­run­gen aus Kind­heit und Ju­gend, von Mit­te der 1960er Jah­re an. Es ist we­ni­ger der an­non­cier­te Ro­man als ei­ne No­vel­len­samm­lung.

Er­zählt, ja: wie­der-holt wird ei­ne Kind­heit, die tief ver­wur­zelt ist im länd­li­chen Le­ben Mit­te der 1960er Jah­re. Das Jahr war noch be­stimmt durch den Wech­sel der Jah­res­zei­ten. Die Jah­re wur­den un­ter­teilt in »vor«, »wäh­rend« und »nach« dem Krieg. Drei Ge­ne­ra­tio­nen der Fa­mi­lie müt­ter­li­cher­seits des Er­zäh­lers leb­ten im Dorf. Es gab Zei­ten, als Ur­groß­mutter, Groß­mutter und Mut­ter zu­sam­men­ar­bei­te­ten, bei­spiels­wei­se beim Ern­ten und Ein­wecken von Obst. Das Kind war ent­bun­den vom Mit­hel­fen, schau­te zu, be­kam mit et­was Glück ei­nen Kom­pott nicht ver­wer­te­ter Früch­te.

An­son­sten fuhr es mit dem Fahr­rad in die Wäl­der, be­vor­zugt al­lei­ne, »träum­te in das schwe­re Wol­ken­ge­schie­be« hin­ein und klet­ter­te in den Ei­chen her­um. Der Va­ter, ein Flücht­ling aus Ost­preu­ßen, war stolz, es vom Ha­be­nichts zum Kauf­mann ge­schafft zu ha­ben. Groß­ar­tig, wenn sein »schweig­sa­mer, lä­cheln­der Stolz« wie­der­erlebt wird. Im Dorf häuf­te er Eh­ren­äm­ter an und hand­wer­kel­te mit Akri­bie und Per­fek­ti­ons­an­spruch an sei­nem Haus. Der Schup­pen ne­ben der Ga­ra­ge war sein Lieb­lings­platz; Werk­statt als Re­fu­gi­um. Un­ter­bro­chen wur­de das All­täg­li­che mit Fe­sten. Das Ern­te­fest hat­te das Kind lie­ber als das Schüt­zen­fest und als ihm ein­mal ein Mann, der sich mit sei­ner Klei­dung als je­mand »aus ei­ner an­de­ren Welt« zeig­te, ein paar Schuss für die Schieß­bu­de spen­dier­te, ver­sag­te er. Die Pfau­en­fe­der, die man ihm schenk­te, wur­de ver­schmäht.

Die Groß­mutter trug im­mer ein schwar­zes Kleid, nur bei Kü­chen­ar­bei­ten mit ei­nem Kit­tel ge­schützt. Als der Jun­ge ir­gend­wann nach dem Groß­va­ter frag­te, blie­ben die Re­ak­tio­nen ver­hal­ten. Der der­art ge­heim­nis­voll-ab­we­sen­de Groß­va­ter be­kam da­durch ei­ne be­son­de­re Form von An­we­sen­heit. Spä­ter hieß es, er hät­te sich zwei Jah­re vor der Ge­burt der Jun­gen er­schos­sen und das ha­be et­was mit dem Krieg und sei­ner Schwer­mut zu tun ge­habt.

Das Mei­ster­stück in die­sem Buch ent­wickelt sich an ei­nem Tag nach ei­nem Son­nen­brand des Jun­gen. Es ist ge­gen En­de des zwei­ten Schul­jahrs. Wie im­mer nach dem Schep­pern der Pau­sen­klin­gel muss­ten sich die Kin­der in Pär­chen-Rei­hen auf­stel­len, um ge­ord­net, Hand-in-Hand, wie­der zu­rück ins Ge­bäu­de zu ge­hen. Das Kind woll­te ger­ne rasch zu­rück, be­eil­te sich in ei­ne vor­de­re Rei­he zu kom­men und nahm da­für so­gar die Hand ei­nes Mäd­chens in Kauf. Auf­sicht hat­te Fräu­lein E, die kurz zu­vor noch mit ei­ner Lord Ex­tra ins »Un­ge­fäh­re« ge­schaut hat­te. Für ihn war die­ses kur­ze War­ten ei­ne Pau­se nach der Pau­se, die er ge­nießt. Dann kam E. und stell­te sich an der Spit­ze der Schlan­ge. »Ih­re Un­ter­schen­kel wa­ren auf der Hö­he mei­ner Au­gen.« Und nun be­ginnt ei­ne Blick­ex­kur­si­on des Jun­gen von den Schien­bei­nen über die Wa­den­mus­keln, die er am lieb­sten be­rührt hät­te, aber das war na­tür­lich nicht statt­haft bis zum Saum des Rocks, der ja nach Be­we­gung Aus­blick auf die Knie er­laub­ten. Am En­de rich­te­te sich das In­ter­es­se auf die Fü­ße und be­son­ders auf den gro­ßen Zeh der Leh­re­rin mit ei­nem ro­sa Na­gel (rot war un­statt­haft, galt als »nut­tig«, wie et­wa ro­te Pumps, die die Mut­ter so ger­ne ge­habt hät­te, aber nie kau­fen durf­te). Es ist ein ein­zi­ges Schwär­men und Schwel­gen in Zeit­raf­fer er­zählt wird und dann ruck­ar­tig zu ei­nem En­de kam, als sich die Schlan­ge in Be­we­gung setz­te. Noch ein­mal konn­te er die­ses Er­eig­nis am näch­sten Tag nach­stel­len, aber die In­ten­si­tät, das Groß­ar­ti­ge die­ses Er­leb­nis­ses, ließ be­reits nach. Schließ­lich war der Zau­ber ver­flo­gen und nach den Som­mer­fe­ri­en hat­te sich die Leh­re­rin ver­lobt und war zu ih­rem künf­ti­gen Mann ge­zo­gen.

Ja, das al­les klingt nach Idyl­le und das Schlimm­ste was ihm pas­siert ist, dass er ein­mal, als er mit dem Fahr­rad die Schu­he sei­ner Mut­ter zum Schu­ster ins Nach­bar­dorf bringt, von Ju­gend­li­chen mit ei­nem Au­to zum Hal­ten ge­zwun­gen wird. Aber ir­gend­wann, in ei­ner kur­zen Sze­ne als der Jun­ge ein Gym­na­si­ast ist, wird aus der woh­li­gen Lang­wei­le Öde. Vor­bei die Freu­de, die Mut­ter bei ih­ren Fried­hofs­gän­gen be­glei­ten zu dür­fen. Und auch der En­thu­si­as­mus über die schmut­zi­ge Chri­sti­ne und ih­rem hin­rei­ßend er­in­ner­ten Schwei­ne­ritt war ein Re­likt der Ver­gan­gen­heit wie die Schmie­de, die plötz­lich ver­schwun­den war.

Dass es noch mehr ge­ge­ben ha­ben muss, be­ginnt man zu ah­nen, als der in­zwi­schen in Tü­bin­gen le­ben­de Sohn quer durch Deutsch­land rei­send sei­ne Mut­ter in ei­nem Pfle­ge­heim be­sucht und das Buch für kur­ze Zeit in der Ge­gen­wart an­kommt. Ih­re ein­sti­ge Pro­phe­zei­ung, sie wer­de als Pfle­ge­fall en­den, ist ein­ge­trof­fen. Und sie tut al­les da­für, dass es da­bei bleibt, be­gibt sich in ei­ne »To­tal­blocka­de«, denn The­ra­pie- und Be­we­gungs­maß­nah­men nach ei­ner Hüft-OP lehnt sie ab, sie lässt sich lie­ber be­die­nen und pfle­gen, viel­leicht ei­ne Art von Kom­pen­sa­ti­on da­für, »daß wäh­rend der lan­gen Zeit ih­res all­täg­li­chen Da­seins für an­de­re die Angst in ihr ge­keimt und ge­wach­sen war, sie könn­te den Zeit­punkt ver­pas­sen, selbst ein­mal rund­um ge­pflegt und ver­sorgt zu wer­den«. Und dies­mal küm­mer­ten sich so­gar ein­mal Män­ner um sie.

Kurz wird das Le­ben der Mut­ter re­ka­pi­tu­liert, die Kon­ven­tio­nen, de­nen sie sich ge­fügt hat­te, ih­rem Hang zum »Mo­der­nen«, wie sie Ma­schi­nen nann­te, die ihr die Haus­ar­beit er­leich­ter­ten. Dann (ver­mut­lich als Wit­we) ih­re Pha­se des Le­sens von Bü­chern, die ihr aus dem Fern­se­hen emp­foh­len wur­den, die Rei­sen, mit de­nen sie ih­re Bil­dung ver­brei­ter­te. Und am En­de des Bu­ches sitzt man mit dem Er­zäh­ler wie­der bei der Mut­ter und die möch­te noch ein­mal vom Sohn er­zählt be­kom­men, wie er einst das Wäld­chen an­ge­zün­det hat­te. Er macht das et­was wi­der­wil­lig und viel­leicht, so be­ginnt man zu den­ken, ver­sam­melt die­ses Buch nicht nur die Wie­der-Ho­lun­gen von Er­in­ne­run­gen, son­dern ist auch ei­ne An­tho­lo­gie von Be­schwö­run­gen aus ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit für die Mut­ter.

Trotz zeit­li­cher und geo­gra­phi­scher Un­ter­schie­de kom­men ei­nem Bru­nos Er­leb­nis­se aus Wolf­diet­rich Schnur­res Als Va­ters Bart noch rot war in den Sinn. Hen­ning Zie­britz­ki fä­chert in Brand mit sanf­ter Läs­sig­keit und poe­ti­schem Rea­lis­mus un­er­hör­te Be­ge­ben­hei­ten des Glücks ei­ner Kind­heit auf, die ei­nem bei der Lek­tü­re au­gen­blicks­wei­se er­grei­fen. Und ir­gend­wann wird man viel­leicht noch ein­mal Ge­naue­res von ihm le­sen und ich freue mich be­reits jetzt dar­auf.

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