Chri­stoph Hein: Das Nar­ren­schiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff
Chri­stoph Hein:
Das Nar­ren­schiff

Zu­ge­ge­ben, ich ha­be lan­ge ge­zö­gert, Chri­stoph Heins neu­en Ro­man Das Nar­ren­schiff zu le­sen. War­um mehr als 30 Jah­re nach dem Mau­er­fall ein DDR-Ge­sell­schafts­ro­man, der mit dem Wis­sen der 2020er Jah­re ge­schrie­ben wur­de? Emp­fiehlt es sich nicht eher, die re­la­tiv nah an den Er­eig­nis­sen ver­fass­ten Ro­ma­ne bei­spiels­wei­se ei­nes Ste­fan Heym zur Hand zu neh­men (et­wa die 2021 neu er­schie­ne­ne Werk­aus­ga­be per E‑Book)? Zu­dem stört mich Heins bis­wei­len zwi­schen Be­tu­lich­keit und ver­schwö­rungs­ge­ba­stel­tes Er­zäh­len chan­gie­ren­der Duk­tus. Schließ­lich über­wog die Neu­gier.

Fünf Per­so­nen bil­den das Ge­rüst des Ro­mans. Es be­ginnt aber mit ei­ner klei­nen Sze­ne aus dem Jahr 1950, als die Klas­sen­be­ste sechs­jäh­ri­ge Kathin­ka bei ei­ner Schul­fei­er dem (er­sten und ein­zi­gen) Prä­si­den­ten der DDR, Wil­helm Pieck, vor­ge­stellt wird und ein paar be­lang­lo­se Sät­ze fal­len. Das Fo­to wird spä­ter, so lernt man, für kur­ze Zeit auf Post­kar­ten ge­druckt und lan­des­weit ver­brei­tet. Kathin­ka lebt in Ber­lin und ist die Toch­ter von Yvonne Le­bin­ski. Der Va­ter, Jo­na­than Schwarz, war Ju­de und ver­such­te 1945 in die Schweiz zu flie­hen. Yvonne wird nie mehr et­was von ih­rem Mann hö­ren; er wur­de ei­ni­ge Jah­re spä­ter für tot er­klärt.

Sie trifft im Nach­kriegs-Ber­lin auf Jo­han­nes Go­retz­ka, der einst Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands war und jetzt in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne ei­ne Blitz­kar­rie­re hin­legt. Als »Dr. Ing. für Hüt­ten­we­sen und Erz­berg­bau so­wie dem Di­plom ei­nes ver­kürz­ten Zu­satz­stu­di­ums der so­ge­nann­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ML« wur­de er »Ab­tei­lungs­lei­ter in dem in Grün­dung be­find­li­chen Mi­ni­ste­ri­um für Schwer­ma­schi­nen­bau«. Ei­ne Po­si­ti­on mit Kar­rie­re­aus­sich­ten, viel­leicht so­gar bis zum Mi­ni­ster. Go­retz­ka ist kriegs­ver­sehrt; sein rech­tes Bein wur­de durch Wund­brand fast zer­stört. Auf Elan und Li­ni­en­treue hat­te dies kei­nen Ein­fluss. Go­retz­ka be­geg­net der al­lein­er­zie­hen­den Mut­ter, die sich mit Schreib­ar­bei­ten leid­lich über Was­ser hält. Sie ist 18 Jah­re jün­ger als er, aber er bie­tet Aus­sich­ten und der Dienst­wa­gen und die Pri­vi­le­gi­en im­po­nie­ren ihr. Sie er­liegt sei­nem Wer­ben. Die bei­den hei­ra­ten; für Yvonne ist es ei­ne Ver­sor­gungs­ehe. Go­retz­ka ist im All­tag her­risch, dul­det kei­nen Wi­der­spruch und ist Kathin­ka ge­gen­über kalt und ab­wei­send, nennt sie »Piss­nel­ke«.

Yvonne be­kommt über Jo­han­nes’ Be­zie­hun­gen die Lei­tung ei­nes neu zu er­rich­ten­den Kul­tur­hau­ses in ih­rem Ber­li­ner Be­zirk zu­ge­wie­sen, ob­wohl sie kei­ne Ah­nung von Kul­tur­ar­beit hat und an­de­re Frau­en, die ihr un­ter­stellt wer­den, sehr viel mehr Er­fah­rung be­sit­zen. Vor­aus­set­zung ist ei­ne kur­ze »Rot­licht­be­strah­lung« (so wird ei­ne po­li­ti­sche Schu­lung ge­nannt) und, wie ihr die Ma­gi­st­ra­tin Ri­ta Em­ser un­miss­ver­ständ­lich er­klärt, un­be­dingt die Mit­glied­schaft in der Par­tei, die Jo­han­nes für sie schon mal vor­aus­ei­lend in Aus­sicht ge­stellt hat­te. An­son­sten wird auch das »Du« zu­rück­ge­nom­men. Yvonne schwankt – ent­we­der sie bleibt ei­ne »schus­se­li­ge Tipp­se« (Jo­han­nes) oder sie nimmt die Po­si­ti­on an und ver­dient mehr Geld. Sie fügt sich.

Ri­ta Em­ser ist die Frau von Kar­sten Em­ser, der un­mit­tel­bar nach Kriegs­en­de aus Mos­kau kom­mend von den so­wje­ti­schen Be­hör­den an­ge­wie­sen wird, die Ver­sor­gungs­la­ge der Be­völ­ke­rung zu ko­or­di­nie­ren und si­cher­zu­stel­len. Spä­ter wird er Mit­glied im Zen­tral­ko­mi­tee. Be­reits in der Rei­hen­fol­ge der An­kunft und Zu­sam­men­stel­lung der Be­sat­zung der Ma­schi­nen be­merkt er mit sei­nen fei­nen An­ten­nen, dass er, der an­er­kann­te Öko­no­mie­pro­fes­sor, der nach der Macht­über­nah­me der Na­zis nach Mos­kau floh und sich dort durch den sta­li­ni­sti­schen Ter­ror la­vie­ren muss­te, in wod­ka­se­li­gen Mo­men­ten (und nur dann) vom Ho­tel Lux raunt, nur ein Fei­gen­blatt ist. Em­ser wird ein im Lau­fe der Zeit zum del­phi­schen Ora­kel sei­ner Freun­de. Er möch­te un­be­dingt sei­ne Pro­fes­sur be­hal­ten und hat ge­lernt, bei den wich­ti­gen Rich­tungs­ent­schei­dun­gen zu schwei­gen, ab­zu­war­ten, wo­hin das Pen­del aus­schlägt, um sich nicht der fal­schen Sei­te an­zu­schlie­ßen. Er wird, so scheint es, im ZK zu­wei­len als An­ti­po­de ge­braucht, der kon­tro­ver­se Ent­schei­dun­gen dia­lek­tisch spie­gelt, um sich da­nach al­ler­dings der vor­her de­fi­nier­ten Mehr­heit un­ter­zu­ord­nen.

1950 wird Hein­rich ge­bo­ren. Der ist nun der Mit­tel­punkt der Fa­mi­lie Go­retz­ka; für Kathin­ka wird es nicht ein­fa­cher. Zwei Jah­re spä­ter die er­ste Krän­kung für Jo­han­nes: Er wird nicht Staats­se­kre­tär, son­dern je­man­dem vor­ge­zo­gen, der oh­ne Fach­kennt­nis­se ist, aber gu­te Be­zie­hun­gen hat. Man schickt ihn statt­des­sen für ein Jahr nach Mos­kau, an­geb­lich ei­ne Aus­zeich­nung. Er ahnt, dass bei sei­ner Rück­kehr die gu­ten Po­sten mit wei­te­ren Günst­lin­gen be­setzt sein wer­den. Yvonne und die Kin­der at­men auf, der Ty­rann ist weg. Über­ra­schend kommt in die­ser Zeit Jo­han­nes’ Mut­ter aus Bo­chum zu Be­such. Yvonne weiß nichts von den El­tern, mit de­nen Jo­han­nes ge­bro­chen hat­te. Die Mut­ter über­gibt Yvonne ei­nen Ord­ner, aus dem her­vor­geht, dass ihr Sohn einst ein glü­hen­der An­hän­ger der Na­zis ge­we­sen war, Mit­glied in SA und SS wer­den woll­te, was je­doch zu sei­nem Be­dau­ern ab­ge­lehnt wur­de. Jo­han­nes hat­te sich ei­ne »an­ti­fa­schi­sti­sche Ver­gan­gen­heit ge­ba­stelt«; er wen­de­te sich um 180 Grad in der Kriegs­ge­fan­gen­schaft un­ter den So­wjets. Ein Apo­stat, der, wie so oft, be­son­ders ra­di­kal wird. Yvonne be­schließt, Jo­han­nes nichts vom Be­such der Mut­ter zu er­zäh­len, den Kin­dern stellt sie die Frau als Be­trü­ge­rin dar.

Der 17. Ju­ni 1953 ist die er­ste, lan­des­wei­te Zä­sur im Ar­bei­ter- und Bau­ern­pa­ra­dies. Die über­all auf­flam­men­den Auf­stän­de sei­en der schlech­ten Ver­sor­gungs­la­ge ge­schul­det – so lau­tet die Quint­essenz der Herr­schen­den. Fie­ber­haft soll die­se jetzt ver­bes­sert wer­den. Auch Jo­han­nes Go­retz­ka be­kommt dies zu spü­ren. Zu­rück aus Mos­kau als Jahr­gangs­be­ster des Lehr­gangs be­wahr­hei­ten sich sei­ne Be­fürch­tun­gen. Er wird von sub­al­ter­nen Fi­gu­ren emp­fan­gen und in den »Sek­tor Schwarz­me­tall­ur­gie im Be­zirk Pots­dam« ab­kom­man­diert. Aber er, der Par­tei­sol­dat, glaubt an die Kraft sei­ner Ex­per­ti­se. Er will nicht Plä­ne ent­wer­fen, um Koch­töp­fe und Gar­ten­ge­rä­te zu pro­du­zie­ren, son­dern ent­wickelt ein Kon­zept, wie die DDR ei­ne Stahl­pro­duk­ti­on auf­bau­en könn­te, um sich wirt­schaft­lich un­ab­hän­gig zu ma­chen. Aber das ist nicht ge­wollt und wie Kathin­ka ei­nes Ta­ges be­merkt, ist Jo­han­nes plötz­lich in der Zei­tung: Er wird dort als Ab­weich­ler ge­schol­ten, muss für zehn Mo­na­te in ei­ne Art Um­er­zie­hungs­la­ger und ist da­nach ein »ge­bro­che­ner Mann« – was al­ler­dings sei­ner Li­ni­en­treue kei­nen Ab­bruch tut.

Yvonne macht un­ter­des­sen wei­ter­hin Kar­rie­re. Sie wird zur Kon­trol­le von Pro­fes­sor Be­na­ja Kuckuck ein­ge­setzt, der die neu ge­grün­de­te Haupt­ver­wal­tung Kin­der- und Ju­gend­film lei­ten soll. Hein stellt die­se fünf­te Haupt­per­son erst nach ei­nem Vier­tel des Ro­mans vor. Kuckuck ist Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, ein ge­nia­li­scher und be­rühm­ter Shake­speare- und Goe­the-In­ter­pret, des­sen Tex­te rasch über­setzt wur­den. Als Ju­de emi­grier­te er nach Shef­field, wur­de dort Pro­fes­sor und sei­ne Ma­rot­ten und sein Sar­kas­mus mach­ten ihn be­liebt bei den Stu­den­ten. Sei­ne Ho­mo­se­xua­li­tät spiel­te kei­ne Rol­le. Kuckuck woll­te sich 1936 frei­wil­lig den in­ter­na­tio­na­len Bri­ga­den im spa­ni­schen Bür­ger­krieg an­schlie­ßen, und nur gu­te Freun­de konn­ten ihn zu­rück­hal­ten. Da­für trat er in die »Aus­lands­sek­ti­on Groß­bri­tan­ni­en der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands« ein. Nach dem Krieg fällt ihm die­ses auch pu­bli­zi­stisch un­ter­stütz­te En­ga­ge­ment vor die Fü­ße: Er be­kommt in Deutsch­land kei­ne Pro­fes­sur, son­dern nur Schul­ter­klop­fer. Ähn­li­ches für Öster­reich und die Schweiz. Bleibt nur die DDR. Da er sein Exil im west­li­chen Aus­land ver­brach­te, gilt er als mög­li­cher­wei­se un­zu­ver­läs­sig. Er muss ein Jahr war­ten (im­mer­hin be­kommt er ein Ge­halt), be­vor man ihn zum Zen­sor macht. Er hat kei­ne Ah­nung vom Film, will das nicht, aber er hat kei­ne an­de­re Wahl wie man ihm un­miss­ver­ständ­lich klar­mach­te und muss sich nun zwangs­läu­fig mit »ba­na­ler Spra­che« und »nichts­sa­gen­den Ge­schich­ten« der Film­bran­che der DDR ab­mü­hen.

Die zwei­te Zä­sur ist die Ab­rech­nung Chruscht­schows 1956 mit Sta­lin in der so­ge­nann­ten Ge­heim­re­de, die von den Prot­ago­ni­sten mit Vor­sicht, Neu­gier und Furcht auf­ge­nom­men wird. »Sta­lin war un­ser Gott«. Jetzt nicht mehr? Wie sol­len sie sich ver­hal­ten? Setzt sich Chruscht­schow durch? Schon als es dar­um ging, Pom­mern und Schle­si­en an die so­wje­ti­sche Be­sat­zungs­zo­ne an­zu­schlie­ßen, muss­te sich die po­li­ti­sche Füh­rung der DDR dem so­wje­ti­schen Druck beu­gen und die Oder-Nei­ße-Gren­ze als un­um­stöß­lich an­er­ken­nen. Ulb­richt über­stand das ir­gend­wie. Der Mau­er­bau 1961, das drit­te Groß­ereig­nis, wird als An­re­gung der USA, des Po­li­ti­kers Ful­bright, ge­deu­tet. Wie soll­te man sonst die Fach­ar­bei­ter­flucht auf­hal­ten? Dass man nicht mehr nach West-Ber­lin konn­te, ist hin­zu­neh­men. Pra­ger Früh­ling 1968? »Flau­sen«, laut Em­ser. Im­mer­hin: Kei­ne DDR-Sol­da­ten da­bei. KSZE, Korb 3, 1975? Nie ge­hört.

Da­bei lässt Hein nichts aus, je­de Po­lit­bü­ro-Be­we­gung, je­des Tau­wet­ter nebst an­schlie­ßen­dem Frost der 1950er bis 70er Jah­re spie­gelt sich im klei­nen Go­retz­ka/Em­ser/­Kuckuck-Kos­mos. Man liest nicht nur zwi­schen den Zei­len son­dern lebt auch zwi­schen ih­nen. Ir­gend­wann tref­fen sich die fünf re­gel­mä­ssig, fast kon­spi­ra­tiv, aber kei­nes­wegs kon­flikt­frei, da Jo­han­nes Go­retz­ka die Sot­ti­sen und Vol­ten von Kuckuck nicht be­ha­gen. Zwi­schen­zeit­lich lernt man ei­ni­ge Lieb­ha­ber von Yvonne Go­retz­ka ken­nen, wie et­wa den Schuh­ver­käu­fer, denn 300 Mark für ein ex­klu­si­ves Paar Schu­he kann sie sehr wohl be­zah­len und der Sex tut ihr gut. Über die­se Au­ßen­fi­gu­ren be­kommt der Le­ser im­mer­hin mit, dass ei­ni­ge Be­woh­ner der DDR nicht ganz so ab­ge­wo­gen-zu­stim­mend ge­gen­über ste­hen wie die Haupt­fi­gu­ren, die nach­ein­an­der zu tra­gi­schen Fi­gu­ren ge­macht wer­den.

Kuckuck ist Op­fer des gras­sie­ren­den An­ti­kom­mu­nis­mus im deutsch­spra­chi­gen Raum. Das ko­stet ihm ei­ne Kar­rie­re in sei­ner Haupt­dis­zi­plin. Auch Go­retz­ka kann sei­ne Fach­kennt­nis­se nicht ein­set­zen. Em­ser hat­te in Mos­kau Frau und Sohn an Fleck­fie­ber ver­lo­ren. Nur ein­mal er­zählt er de­zi­diert von der Ter­ror­wel­le 1937, von ei­nem Aus­tausch von ge­such­ten »Staats­fein­den« zwi­schen Hit­ler-Deutsch­land und der Sta­lin-So­wjet­uni­on. Sta­lin lie­fer­te ei­nen sei­ner be­sten Freun­de, ei­nen stand­haf­ten Kom­mu­ni­sten, den Na­zis aus, die ihn rasch hin­rich­te­ten. Sei­ne Recht­fer­ti­gung: Es gab nur die Wahl zwi­schen Hit­ler oder Sta­lin und letz­te­rer war dann das klei­ne­re Übel. Spä­ter wird er fast em­pört die put­sch­ähn­lich ge­schil­der­te Macht­über­nah­me Hon­eckers kom­men­tie­ren und ei­ne Art Lau­da­tio auf Ulb­richt hal­ten, der tat­säch­lich ein­mal Sta­lin wi­der­spro­chen hat­te.

Als Kuckucks Le­bens­part­ner, ein Ka­me­ra­mann, von der Sta­si an­ge­wor­ben wird und die­ser brüsk ab­lehnt, ruft Em­ser sei­nen Freund und Ge­nos­sen Mar­kus Fuchs (sic!) an, mit dem er ein paar Mo­na­te zu­vor ein Ki­lo Ka­vi­ar ver­speist und über die al­ten und neu­en Zei­ten ge­plau­dert hat­te. Der ver­spricht, sich dar­um zu küm­mern. Al­les smooth, al­les gut. Die Sta­si als Kum­mer­ka­sten. Man er­fährt noch, dass die Be­hör­de auf­ge­bläht wur­de. Hat man sich erst ein­mal ar­ran­giert, geht al­les leicht. Yvonne war mit ih­rem Le­ben zu­frie­den, es gab Schu­he und Al­ko­hol, Em­ser schau­te sich nach der Pen­sio­nie­rung sei­nen Öko­no­mie­text von vor 50 Jah­ren noch ein­mal an. Ist was pas­siert?

Für die 1980er bleibt we­ni­ger Zeit im Buch. Die Er­schüt­te­run­gen der Bier­mann-Aus­bür­ge­rung – an­schei­nend nicht be­rich­tens­wert. Kuckuck über­nimmt nach sei­ner Pen­si­on die Wo­chen­zei­tig Sonn­tag, zu­nächst als Chef­re­dak­teur und Her­aus­ge­ber in ei­ner Per­son. Man hält sich, wie man liest, raus aus dem po­li­ti­schen Ta­ges­ge­schäft. Das geht bis En­de der 80er gut, aber der einst so elo­quent sprü­hen­de Kuckuck be­kommt das rich­ti­ge En­de nicht mehr mit. Sie sind Grei­se, als das Land zu­sam­men­bricht. Em­ser fragt sich und an­de­re mehr­mals was aus ih­ren Hoff­nun­gen und Träu­men ge­wor­den ist. »Wir woll­ten ein an­de­res Land, ei­nen an­de­ren Staat auf­bau­en, fried­li­cher, so­li­da­ri­scher und vor al­lem ge­rech­ter.«. Die Ant­wort gibt er sich ir­gend­wann sel­ber: Das »Schei­tern die­ses Traums be­gann im Jahr sie­ben­und­drei­ßig mit der gro­ßen Säu­be­rung. Und ich war da­bei, ha­be al­les ge­se­hen und trotz­dem im­mer noch auf ei­ne Kehrt­wen­dung ge­hofft.« Fünf­zig Jah­re Hoff­nung.

Heins Bän­kel­sän­ger-Er­zäh­ler spult die Chro­ni­ken sei­ner Fi­gu­ren am En­de ein biss­chen lieb­los her­un­ter; Kom­men­ta­re un­ter­blei­ben, Sug­ge­stio­nen nicht. Bis­wei­len ge­ra­ten die Bio­gra­phien sei­ner Prot­ago­ni­sten durch­ein­an­der. Ein­mal heißt es, Ri­ta Em­ser sei 20 Jah­re jün­ger als ihr Mann, dann sind es 27 Jah­re. Ein an­der­mal ist von der 8. Volks­kam­mer­wahl in ei­nem Ju­ni die Re­de, die, wie man nach­schla­gen kann, am 14. Ju­ni 1981 statt­fand. We­ni­ge Zei­len spä­ter heißt es »Ein hal­bes Jahr spä­ter, im Ju­ni, wur­de Jo­han­nes Go­retz­ka im Al­ter von neun­und­sech­zig Jah­ren pen­sio­niert.« Dann wä­re es aber die 7. Volks­kam­mer­wahl ge­we­sen, die al­ler­dings am 17.10.1976 statt­fand. Dies wür­de je­doch zu den 69 Jah­ren von Go­retz­ka pas­sen, der, wenn man die an­de­ren Da­ten des Ro­mans nach­hält, um 1905-07 ge­bo­ren sein müss­te. Spä­ter er­fährt der Le­ser, dass Go­retz­ka mit 82 Jah­ren ver­starb, was dann 1989 ge­we­sen wä­re. Da war Em­ser laut Er­zäh­ler 85. Als die­ser je­doch eben­falls 1989 stirbt, war er 88. Ein ge­wollt un­zu­ver­läs­si­ger Er­zäh­ler, der mal Ni­co­lai- und mal Ni­ko­lai­kir­che schreibt? Oder liegt es dar­an, dass ich ei­ne »un­kor­ri­gier­te Fas­sung« ge­le­sen ha­be?1

Bei al­len Pro­ble­men und ge­schei­ter­ten Le­bens­ent­wür­fen: Rea­le Exi­stenz­nö­te er­lei­det im Ro­man nie­mand der Haupt­fi­gu­ren, nicht ein­mal Jo­han­nes Go­retz­ka, der noch spät mit »Held der Ar­beit« und ei­nem Ver­dienst­or­den aus­ge­zeich­net wur­de (frei­lich nicht im Eh­ren­grab sei­ne Ru­he­stät­te fand). Die DDR als Wohl­fühl­oa­se, so­fern man denn be­reit ist, zu ku­schen. Um­so deut­li­cher wer­den die Ver­wer­fun­gen des Ei­ni­gungs­pro­zes­ses, die Plei­ten und Ar­beits­lo­sig­kei­ten, aus­ge­stellt. Da ist sie, die Mo­ral von der Ge­schicht’.

Wür­de man ähn­li­ches Prot­ago­ni­sten durch­ge­hen las­sen, die un­ter den Na­zis re­üs­sier­ten? Em­ser sagt ein­mal, er has­se Ade­nau­er und das Per­so­nal, mit dem er sich um­ge­be. Je­der denkt da­bei so­fort an Glob­ke, aber Hein ist sub­ti­ler: Er lässt ei­nen ehe­ma­li­gen Emi­gran­ten-Kol­le­gen von Kuckuck auf­tau­chen, der jetzt beim Bun­des­nach­rich­ten­dienst Geh­lens ar­bei­tet. Der Kol­le­ge lacht nur, wenn er auf die Ver­gan­gen­heit sei­nes Chefs an­ge­spro­chen wird: »Und die­ser Geh­len ist dort nicht der ein­zi­ge Na­zi. Die ge­sam­te Spit­ze sind al­les Fach­leu­te, al­so al­le aus dem Drit­ten Reich und wa­ren mal ho­he Na­zis.« Em­pört weist Kuckuck ein An­ge­bot des Freun­des zur Spio­na­ge zu­rück und bricht mit ihm. Mo­ral, die Zwei­te.

Über­steht man die zahl­rei­chen ste­reo­ty­pi­schen Dar­stel­lun­gen, ent­deckt man plötz­lich ei­nen in­ter­es­san­ten Aspekt. Al­le re­le­van­ten Prot­ago­ni­sten ar­bei­ten in lei­ten­den Po­si­tio­nen, für die sie ent­we­der kei­ner­lei Ex­per­ti­se nach­wei­sen kön­nen und die sie nur durch die Gunst an­de­rer er­reicht hat­ten oder ih­re Kennt­nis­se die­nen nur als Ma­ku­la­tur und zur Au­ßen­dar­stel­lung. Stets ste­hen »rich­ti­ge« ideo­lo­gi­sche Ge­sin­nung und un­be­ding­te Loya­li­tät zu Per­so­nen über fach­li­che Er­wä­gun­gen. So et­wa »das star­re Fest­hal­ten an den Prei­sen von neun­zehn­hun­dert­und­zwan­zig« für Mie­ten und Le­bens­mit­teln (an ei­ner an­de­ren Stel­le wird von »neun­zehn­hun­dert­zwei­und­zwan­zig« ge­spro­chen). Oder der Glau­be, In­fla­ti­on ver­bie­ten zu kön­nen. In­du­strie­kon­zer­ne wer­den ver­pflich­tet, ih­re ei­gent­li­che Pro­duk­ti­on auf­zu­ge­ben und bei­spiels­wei­se Haus­halts­ge­rä­te her­zu­stel­len. Em­ser spricht von Nar­ren, »die noch nie ei­ne Kar­te des Ster­nen­him­mels ge­se­hen ha­ben, aber so­bald man ih­nen ei­ne zeigt, die­se so­fort kor­ri­gie­ren«. Er sel­ber ist im Lau­fe der Zeit nur noch dar­auf be­dacht, un­be­scha­det zu blei­ben. Das be­trifft al­le Fel­der des po­li­tisch-so­zia­len Le­bens. Ob Ma­the­ma­tik-Pro­fes­sur oder ge­plan­te Kar­rie­re als Lei­ter ei­ner Tier­kli­nik – man muss Par­tei­mit­glied wer­den und sei es in ei­ner Block­par­tei. Auch in der Kul­tur­pro­duk­ti­on herrscht ei­ne stren­ge Staats­rä­son; so­gar Kin­der­fil­me wer­den ideo­lo­gisch durch­ge­ar­bei­tet. Än­dert sich die Par­tei­li­nie über­ra­schend, lan­det auch schon mal ein gan­zer Pro­duk­ti­ons­jahr­gang im Gift­schrank.

Nach der Lek­tü­re der letz­ten Sei­ten die­ses Ro­mans sah ich dann im Fern­se­hen die Grinsge­sich­ter der Karls­preis-Ver­samm­lung, die ei­ne der ih­ren für was auch im­mer be­preis­te und lob­hu­del­te. Die Ple­be­jer sind, wie man se­hen konn­te, un­er­wünscht, wür­den das trau­te Bei­sam­men­sein stö­ren und plötz­lich ist klar, war­um ich die­ses Buch trotz all der Un­ge­reimt­hei­ten und er­zäh­le­ri­schen De­fi­zi­te mit Ge­winn ge­le­sen hat­te. Das Nar­ren­schiff, die­ses Bild von Kar­sten Em­ser für ei­ne er­starr­te, sich selbst re­fe­ren­zie­ren­de und ab­ge­ho­be­ne No­men­kla­tu­ra, wird zu ei­ner li­sti­gen Al­le­go­rie auf das ak­tu­el­le Deutsch­land. Wie fast im­mer wähnt man sich auf der rich­ti­gen Sei­te der Ge­schich­te, schwa­dro­niert von »un­se­rer De­mo­kra­tie«, als ge­hö­re sie ih­nen al­lei­ne, kon­stru­iert Iden­ti­tät über Feind­bil­der, will Gleich­heit ver­ord­nen und biegt die Rea­li­tät mit Vol­un­t­a­ris­mus zu­recht. Öko­no­mie und Ge­sell­schaft wer­den mit über­bor­den­der Bü­ro­kra­tie, Re­gu­lie­run­gen und Ver­bo­ten über­schüt­tet. Al­les mit wohl­wol­len­der Be­glei­tung von Me­di­en, über de­ren Be­richt­erstat­tun­gen man bis­wei­len nur noch La­chen kann. Ein über Jahr­zehn­te ent­stan­de­nes, neu­es Nar­ren­schiff; un­ter an­de­rer Flag­ge. Dan­ke, Chri­stoph Hein.


  1. Nach Fertigstellung meines Textes fand ich auf der Suhrkamp-Webseite ein "Lesezeichen" mit Angaben zu den Hauptfiguren [pdf], inklusive der Geburtstagen. Einige Diskrepanzen bleiben. Aber vielleicht liegt es wirklich an der "unkorrigierten Fassung". Möge ein Leser bitte Klärung schaffen! 

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