
Karl Ove Knausgårds neuer Roman Die Schule der Nacht beginnt damit, dass der 44jährige Kristian Hadeland 2010 in einem Haus irgendwo auf einer norwegischen Insel sitzt und über sein Leben nachdenkt. Das Haus gehört einem reichen Investor, den er vor Jahren in London kennengelernt und der ihm vom Haus, der Ruhe und dem Plätzchen, an dem sich ein Schlüssel findet, erzählt hatte. Niemand weiß, dass er hier ist, außer die Nachbarn, aber die kennen ihn nicht. Bevor er sich das Leben nehmen wird, schreibt er es auf.
Ich-Erzähler Kristian beginnt mit seiner Erinnerung im August 1985, als er das erste Mal von Christopher Marlowe gehört hatte, dem englischen Dramatiker, der 1593 mit einem Messer im Auge in Deptford umgebracht wurde. In diesem Stadtteil von London lebt Kristian in einem Mietshaus (Dusche auf dem Flur) und studiert an einer Akademie Fotografie. Er lässt es eher ruhig angehen, lebt von einem Stipendium (und seinen Eltern) und verbringt die Abende in einem Pub. Hier lernt er Hans kennen, einen Holländer, den er zwar nicht besonders mag, aber man ist nun zu zweit Ausländer in London und spricht ausgiebig dem Bier mit Wodka zu. Hans ist ein »monomaner Leser« und Belehrer, sieht sich als Künstler, experimentiert mit computergesteuerten Apparaturen, etwa einer künstlichen Ratte, die einen Parcours durchlaufen kann oder Schildkröten, die sich wie heutige Staubsaugerroboter fortbewegen. Kristian liest sich lustlos durch Shakespeares frühe Werke, während Hans ihm von Marlowe erzählt, sein Stück über Doktor Faustus, das von einer lokalen Theatergruppe, die sich unter »School of Night« im Hinterzimmer des Pub trifft, demnächst aufgeführt werden soll. Er weiß, dass einige Marlowes Tod nicht akzeptieren, sondern glauben, er sei damals untergetauscht und habe unter Shakespeares Namen die inzwischen weltbekannten Stücke geschrieben. Hans zeigt Kristian auch das vermutlich erste Daguerre-Bild von 1938, stellt kühn die These auf, die einzige Figur, die dort zu sehen sei, wäre der Teufel und man fachsimpelt unter anderem über Aleister Crowley.
Kristian geriet in den Bann von Hans, weniger der Theatergruppe. Das Weihnachtsfest 1985 verbrachte er jedoch bei den Eltern in Norwegen. Es endete abrupt in einer Katastrophe. Seine Schwester Liv hatte einen Selbstmordversuch unternommen, der jedoch im letzten Moment entdeckt wurde. Abends hörte Kristian die Eltern im Gespräch. Der Vater, ein eher schweigsamer Großbauer mit eisernen Regeln, bezeichnete Kristian als »Vollblut-Narzissten«. Die Mutter, eine »Archivarin der Sentimentalität«, beschwichtigte vergeblich. Das konnte Kristian nicht auf sich sitzenlassen. Er packte in aller Heimlichkeit und verließ das Elternhaus ohne jeder Nachricht Richtung London. Am meisten betrübte ihn, dass er nicht seine ganze Plattensammlung mitnehmen konnte. Er schwor, mit den Eltern für immer zu brechen. In London angekommen, ergeht er sich in Selbstbespiegelungen und ‑beschwörungen. Ans Telefon geht er nicht, weil es die Eltern sein könnten. Einige Wochen später wird eine Angestellte der norwegischen Botschaft bei ihm klingeln. Einen Brief und eine Postkarte der Mutter, die er viele Monate später erhalten wird, warf er (nach Lektüre) in den Müll.
Kristian entwickelt Ideen für Fotoserien, nennt sie »Fluchtpunkte« oder »Vertigo«, sucht Motive, fotografiert »Haufen von Ziegelsteinen«, fährt herum. Als seine Fotoserie von einem Gastdozenten hart kritisiert wird, vertraut er sich Hans an. Auch der kann mit seinen Bildern nichts anfangen. Er bleibt den weiteren Vorlesungen fern, entwickelt eine Idee zu »Gerüst des Lebens«, eine Fotoreihe mit Skeletten toter Tiere und vielleicht auch Menschen. Hierfür stiehlt er zunächst eine tote Katze, die er stundenlang kocht, um sie zu filetieren, was nur teilweise gelingt. Immerhin macht er ein Foto dieser toten Katze.
Dieses Bild wird ikonisch werden und alles verändern. Hans’ Lob lässt das ohnehin große Selbstbewusstsein Kristians an die Schwelle zum Größenwahn wachsen. Als Vivian, die Regisseurin der Marlowe-Inszenierung der Theatergruppe, ihn bittet, Fotos für das Programmheft zu machen, fühlt er sich bereits ausgenutzt, bittet um Bedenkzeit. Er beginnt, mit ihr zu schlafen, aber ihn überkommt stets eine Art postkoitaler Partnerhass; Frauen dienen ihm vorrangig zur Triebbefriedigung. Menschen sind für ihn häufig nur »Fleisch«. Als er einmal spät nachts zu Vivian will, gerät er in ein Handgemenge mit einem Obdachlosen. Beim Streit um ein Feuerzeug, fällt der Mann mit dem Kopf gegen eine Mauer und ist tot. Bei der Rückfahrt mit dem Fahrrad sieht er Polizei und eilt nach Hause. Kristian imaginiert den Tod des Mannes, beruhigt sein aufkommendes schlechtes Gewissen, fürchtet sich vor einer eventuellen AIDS-Erkrankung, zeigt aber auch eine trotzige Selbstsicherheit, unentdeckbar zu sein. Er beginnt, Gegenstände dieser Zusammenkunft zu fotografieren, vor allem das Feuerzeug, die Ursache des Streites. Nur er kennt den Kontext des Motivs.
Als ein körniges Foto von ihm in der Zeitung abgedruckt wird, schwankt er. Offiziell wird er als Zeuge gesucht. Erst als Hans ihn identifiziert, will er sich ihm widerwillig öffnen, weiß, dass er dadurch in Abhängigkeit kommt. Bevor er freiwillig zur Polizei geht, wird er aus dem Seminarraum heraus verhaftet, verhört und inhaftiert. In seiner Not ruft er Hans an, der verspricht, ihm einen Anwalt zu besorgen. Am nächsten Tag wird er freigelassen; es habe sich der Mörder gefunden. Hans holt ihn am Gefängnis ab. »›Du schuldest mir einen Gefallen‹, sagte er.« So endet der erste der vier Teile des Romans, der mehr als die Hälfte einnimmt.
Schließlich ein Sprung in das Jahr 2009. Kristian hatte den bäuerlichen Nachnamen abgelegt, nennt sich nun Pedersen, wohnt immer noch in London, in einem großen Anwesen, dass nicht an eine Großstadt erinnert, ist verheiratet mit der vier Jahre jüngeren Jelena, die er selbst nach sieben Jahre Ehe immer noch als eine Fremde ansieht. Beide haben den sechsjährigen Sohn Leo, ein aufgewecktes Kind. Er ist in New York, eine Stadt, die er hasst, aber es geht nicht anders. Man veranstaltet im MoMA eine Werkschau zu seinen Ehren. Kristian Petersen ist ein weltbekannter und geschätzter Fotograf, der mit seiner »physischen Fotografie« das Genre revolutioniert habe, so tönt es in den Lobreden. Andere nennen ihn einen »Porträtisten des Todes«. Kristian blickt zurück auf seine Karriere, sein Arbeiten, seine theoretischen Überlegungen. Er liest jetzt Pessoas Gedichte, verehrt Hamlet als »souveräne Seele«, verabscheut den Kunst-Betrieb, die »armseligen Gestalten« mit »Fett und Botox gespickt«, hat eine Assistentin, die hässlich sein musste, um ihn nicht in Versuchung zu führen und die Galeristen erfüllen ihm jeden Wunsch. Als er noch einen Container ausgestopfter Tierköpfe in den Raum seiner Fotografien von Obdachlosen haben möchte, wird dies fristgerecht erledigt. Er ist herrisch, arrogant, leicht reizbar und nach wie vor sehr schnell beleidigt. Und er geht nach Belieben fremd.
Längst weiß der Leser, wie es enden wird. Die Indizien sind eindeutig: Von Marlowe über Wilhelm Hauff bis Thomas Mann. Kristian ist ein Pendant zu Adrian Leverkühn, er ist einen Pakt mit dem Teufel eingegangen – für vierundzwanzig Jahre. Der Holländer Hans zitiert den Holländer Michel aus Das kalte Herz. Der Künstlername Pedersen ist dann noch eine Referenz an den Geburtsnamen von Knut Hamsun. Der also auch? Egal: Das Ende naht, spätestens als die Seiten immer weniger werden, entwickelt sich die Tragödie, oder, besser: das Drama.
Knausgård hat Faust entdeckt und entwickelt eine gut geölte, plotgesteuerte Routine. Zwar ist die Figur Kristian mit seinem süffisanten Hochmut, den Herablassungen, der Furcht, fremdbestimmt zu werden (das beginnt schon beim Kellner, der ihm sein Stammgetränk hinstellt und er gerade deshalb ein anderes bestellt) und der menschlichen Kälte sogar interessant und mit ihm vergeht die Zeit wie im Fluge. Und hier und da liefert er ein bisschen Hokuspokus, philosophiert über den Tod, der »die Regel und das Leben die Ausnahme« sein soll, die Vergangenheit, die man tunlichst hinter sich zu lassen habe oder die Zeit, die eigentlich, wie es glaubhaft heißt, gar nicht existiere. Aber, so denkt man sich nach vollendeter Lektüre: Wo bleibt die Tiefe? Wann wechselte Kristian die Seite? Welches ist die Initiation, die Kristian den Pakt, der nie benannt wird, eingehen lässt? Ist es das Abschwören auf die Eltern? Die verzweifelte Anrufung unmittelbar nach der Verhaftung im Gefängnis »Oh, zum Teufel«? Oder ist es gar das Einlassen auf den Kunstbetrieb? Geben vielleicht die zahlreichen Zitate aus Kristians Plattensammlung der 1980er Jahre Aufschluss? Immerhin böten sie ausreichend Stoff. Wer will, mag es erforschen.
Wenn man über die Wandlungen des Faust-Mythos im Lauf der 500 Jahre seines Entstehens nachliest, so bemerkt man rasch, dass hier eine recht oberflächliche Version erschaffen wurde. Da hilft auch die Übersetzung von Paul Berf nicht. Es wird schlicht erwartet, dass der Leser die Geschichte kennt. Aber dann bleibt nur Enttäuschung. Und wenn man Marlowe, Goethe und Thomas Mann nicht kennt, wirkt dieser Roman am Ende wie ein mystisches Schauertheater. Die Protagonisten der Schule der Nacht sind eher Pokémons als Nachfolger eines Mephisto. Wenn man Doktor Faustus kennt, ist dieser Roman hier nur ein billiger Abklatsch. Schade drum.