Der Kuss auf dem Fen­ster­glas – Pe­ter Hand­ke

Der Jun­ge heißt Klei­ner Jun­ge; er steht vor ei­nem ho­hen Fen­ster mit Dop­pel­flü­geln am Gang des In­ter­nats; mit dem Fin­ger zeich­net er auf dem an­ge­lau­fe­nen Fen­ster­glas; er hat ei­nen Berg ge­zeich­net; am Gip­fel des Hü­gels ist ein Schlit­ten; der Ab­hang ist lang und flach, und am En­de be­fin­det sich ein Haus; rechts vom Haus ist ei­ne ho­he Tan­ne; dort, wo die Hand des Jun­gen den höch­sten Punkt er­rei­chen konn­te, sind zwei klei­ne Hü­gel ge­zeich­net: auf dem ei­nen ist ei­ne klei­ne Kir­che, auf dem an­de­ren drei Kreu­ze; der Jun­ge flü­stert: »Grif­fen, Grif­fen, Grif­fen«; er zeich­net ei­nen Hund ne­ben dem Haus da­zu; lei­se sagt er: »Grif­fen, Kärn­ten, Öster­reich, Eu­ro­pa, Welt...«; er macht ei­nen Schritt nach links, dann zieht er den rech­ten Fuß nach, und tut es noch ein­mal; nun steht er vor dem an­de­ren an­ge­lau­fe­nen Fen­ster­glas; lang­sam zeich­net er zwei Au­gen, die grö­ßer sind als sei­ne; durch die Au­gen sieht er den gro­ßen ver­schnei­ten Hof; er zeich­net die rech­te, dann die lin­ke Au­gen­braue; er dreht sich auf die ei­ne, dann auf die an­de­re Sei­te: am kal­ten Gang ist nie­mand; er nä­hert sein Ge­sicht dem Glas und küsst es zärt­lich, et­was tie­fer als die Au­gen, die ihn an­schau­en, oh­ne mit der Wim­per zu zucken; er flü­stert auf Slo­we­nisch: »Ma­ma, naj ti pol­jub na­riše ust­nice.” Der klei­ne Jun­ge ist acht­zehn Jah­re alt, als er er­fährt, dass sein Va­ter nicht sein Va­ter ist, son­dern sein Stief­va­ter.

Klei­ner Jun­ge fügt sei­nem Na­men noch ei­nen wei­te­ren hin­zu – Jun­ger Mann; er stu­diert in Graz; er ver­kehrt in ei­nem Kaf­fee­haus, wo er Bier trinkt, liest, sich No­ti­zen in ein ge­wöhn­li­ches Heft macht und Mu­sik aus der Juke­box hört; auf dem Tisch liegt ne­ben dem Glas häu­fig die Zeit­schrift für Li­te­ra­tur Ma­nu­skrip­te; er wirft ei­ne Mün­ze ein, drückt den Knopf und kehrt zu sei­nem Tisch zu­rück: zu hö­ren ist Cree­dence – Have You Ever Seen the Rain; ir­gend­wel­che lang­haa­ri­gen jun­gen Män­ner füt­tern die Juke­box eben­falls mit ih­ren Mün­zen und wie­der ist die glei­che Mu­sik bis tief in die Nacht zu hö­ren: Bad Moon Ri­sing, down on the cor­ner, I put a Spell on You...; die jun­gen Män­ner sind Gast­ar­bei­ter aus Ju­go­sla­wi­en; Klei­ner Jun­ge Jun­ger Mann und ei­ner von den jun­gen Män­nern aus Ser­bi­en freun­den sich an; man trinkt, raucht und un­ter­hält sich mitein­ander; ab und zu, in den Pau­sen zwi­schen zwei Lie­dern von den Rol­ling Stones, singt ein Bos­ni­er De­vo­j­ka so­ko­lu zu­lum uči­ni­la, aber er bricht ab, so­bald die Beat­les zu Lu­cy in the Sky wi­th Dia­monds an­set­zen; je­mand hat fälsch­li­cher­wei­se den Knopf mit der Num­mer des Lie­des ge­drückt: ein öster­rei­chi­scher Schla­ger wird ge­spielt; die Kell­ne­rin denkt: ‘Gott sei Dank, et­was von uns’; die lang­haa­ri­gen Gä­ste pro­te­stie­ren; der jun­ge Mann dreht sich zum Saal um, mit ei­nem schul­di­gen Ge­sichts­aus­druck: »Je­bi­ga, ich hab ei­nen Feh­ler ge­macht. Hey, Bos­ni­er, spiel du dein Lied ab, so­lan­ge das hier läuft«; De­vo­j­ka so­ko­lu zu­lum uči­ni­la über­tönt den Lie­bes­schla­ger; Der Klei­ne Jun­ge Jun­ger Mann be­ginnt den Aus­druck zu ver­wen­den: je­bi­ga.

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