Ernst Lo­thar: Das Wun­der des Über­le­bens

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens

Ernst Lo­thar:
Das Wun­der des Über­le­bens

Als Ernst Lo­thar sei­ne Au­to­bio­gra­phie »Das Wun­der des Über­le­bens« pu­bli­zier­te, war er 70 Jah­re alt. 1890 als Lo­thar Ernst Mül­ler in Brünn ge­bo­ren (der Va­ter war Rechts­an­walt, die Mut­ter »hat­te sich das La­chen früh­zei­tig ab­ge­wöhnt«), sie­del­te die Fa­mi­lie (es gab noch zwei äl­te­re Brü­der, Ro­bert, der früh ver­starb und der 1882 ge­bo­re­ne Hanns, der spä­ter als Hans Mül­ler-Ei­ni­gen als Ly­ri­ker und Dra­ma­ti­ker re­üs­sier­te) 1904 nach Wien. Lo­thar stu­dier­te Ju­ra und Ger­ma­ni­stik und pro­mo­vier­te 1914 zum Dr. jur. Aus sei­nen Rei­se­plä­nen nach En­de des Stu­di­ums wur­de nichts. Der Krieg brach aus. Im­mer­hin: Lo­thar wur­de (war­um auch im­mer) für kriegs­un­fä­hig er­klärt und zu ei­nem Staats­an­walt als Ge­hil­fe nach Wels ver­setzt. Er hei­ra­te­te 1914 und die Töch­ter Aga­the (*1915) und Jo­han­na (*1918, ge­nannt »Han­si«) kom­plet­tier­ten die Fa­mi­lie. Lo­thar hat­te be­reits wäh­rend des Stu­di­ums mit dem Schrei­ben an­ge­fan­gen; erst Ge­dich­te, dann Ro­ma­ne. Aus sei­ner Schrift­stel­ler­tä­tig­keit re­sul­tiert die Än­de­rung des Na­mens.

Wenn man die im Zsol­nay-Ver­lag er­schie­ne­ne Neu­auf­la­ge der »Er­in­ne­run­gen« Ernst Lo­thars (so der Un­ter­ti­tel des Bu­ches) ge­le­sen hat, er­kennt man drei Mo­men­te, die sein Le­ben nicht nur ge­prägt, son­dern exi­sten­ti­ell er­schüt­tert ha­ben. Da ist zu­nächst der Zu­sam­men­bruch der Do­nau­mon­ar­chie Öster­reich-Un­garn 1918. Aus 53 Mil­lio­nen wer­den plötz­lich nur mehr 7 Mil­lio­nen, die sich Öster­rei­cher nen­nen (durf­ten). Die »Macht und Herr­lich­keit oh­ne Bei­spiel« der »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa« – so eu­pho­risch wird er im Rück­blick – ist zer­stört. Jetzt kann der Le­ser die Epi­so­de zu Be­ginn, die er­ste Kind­heits­er­in­ne­rung, bes­ser ein­ord­nen. Sie be­steht dar­in, dass Lo­thar ei­ne De­mon­stra­ti­on von Tsche­chen in sei­ner Ge­burts­stadt Brünn re­ka­pi­tu­liert, die für ei­ne Se­zes­si­on von Öster­reich-Un­garn ein­tre­ten. Jetzt ist es ein­ge­tre­ten: Sei­ne Hei­mat be­steht nur mehr als ein Tor­so. Er emp­fin­det es nichts we­ni­ger als ei­ne Ver­stüm­me­lung sei­nes Le­bens.

Als »sein« Land zu­sam­men­bricht, ist man im Buch auf Sei­te 30; noch wei­te­re 330 Sei­ten fol­gen. Und wer die­se Art von »hy­ste­ri­scher Lie­be«, wel­che »die Gren­zen des nor­ma­len Pa­trio­tis­mus« streift (so Da­ni­el Kehl­mann im Nach­wort) vor­ei­lig als Na­tio­na­lis­mus oder gar Chau­vi­nis­mus ab­tut, wird mit der wei­te­ren Lek­tü­re Schwie­rig­kei­ten ha­ben. Lo­thars Idea­li­sie­rung der k.u.k.-Monarchie ist nicht pri­mär po­li­tisch zu ver­ste­hen. Er macht sich kei­ne Mü­he, die po­li­ti­schen Im­pli­ka­tio­nen Öster­reich-Un­garns, die Struk­tu­ren der Min­der­hei­ten in dem Staats­ge­bil­de oder gar die Ur­sa­chen des Krie­ges zu ana­ly­sie­ren. Statt­des­sen sucht er nach dem Krieg Sig­mund Freud auf, um sich er­klä­ren zu las­sen, wie er den Ver­lust sei­ner Hei­mat über­win­den kön­ne. Die Ant­wort Freuds in der Be­schrei­bung die­ses Ge­sprächs ist ei­ner der Hö­he­punk­te des Bu­ches.

Lo­thar gibt sei­nen Ju­ri­sten­be­ruf bald auf und stürzt sich in die In­tel­lek­tu­el­len­zir­kel der Zwi­schen­kriegs­zeit. Schnitz­ler, Hof­manns­thal, Wer­fel, Mu­sil – Lo­thar kennt sie al­le. Zu­nächst wur­de er, »dem Theater…rettungslos ver­fal­len«, Thea­ter­kri­ti­ker und schließ­lich Kul­tur­funk­tio­när. Max Rein­hardt wur­de auf­merk­sam und för­dert Lo­thar. Dann ein per­sön­li­cher Schock: Die äl­te­ste Toch­ter Aga­the stirbt mit 18 Jah­ren 1933 an Po­lio. Ent­frem­dung mit sei­ner Frau; 1933 hei­ra­tet er die Schau­spie­le­rin Adri­en­ne Ge­ss­ner. Die Ehe hält bis zu Lo­thars Tod 1974.

Hei­mat­ver­bun­den bleibt er – ei­ne Mög­lich­keit, ei­ne Po­si­ti­on als stell­ver­tre­ten­der Di­rek­tor in Ber­lin an­zu­tre­ten, sa­bo­tiert er mit ex­trem ho­hen Ge­halts­for­de­run­gen. Er in­sze­niert lie­ber Thea­ter­stücke, wird ei­ner der Ar­chi­tek­ten der Salz­bur­ger Fest­spie­le und 1935 auf Rein­hardts Wunsch Di­rek­tor des Thea­ters an der Jo­sef­stadt.

So be­rau­schend die­se Schil­de­run­gen aus den Hoch­zei­ten öster­rei­chi­scher Dich­ter- und Thea­ter­kunst sind – im­mer wie­der wird Lo­thars po­li­ti­sche Nai­vi­tät deut­lich. So ist Kurt Schu­sch­nigg, der bis 1938 am­tie­ren­de öster­rei­chi­sche »Bun­des­kanz­ler und Front­füh­rer«, für ihn nicht nur ein »Thea­ter- und Mu­sik­freund«, son­dern auch ein Mann mit Mut, In­te­gri­tät und Op­fer­be­reit­schaft. Im Ne­ben­satz kon­ze­diert er im­mer­hin, dass er und Schu­sch­nigg po­li­tisch »ver­schie­den dach­ten«. Da­ni­el Kehl­mann ver­mu­tet, dass nicht zu­letzt auf­grund die­ser (sehr kur­zen) Pas­sa­ge Lo­thars Au­to­bio­gra­phie nach an­fäng­li­chem Er­folg in den 1960er Jah­ren da­nach lan­ge Zeit nicht mehr er­hält­lich war. Der Le­ser in­des ver­mu­tet, dass dies eher in der heu­ti­gen Zeit des Ja­ko­bi­ner­tums durch mo­ra­li­sie­ren­de Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ein Grund ge­we­sen wä­re, die­ses Buch nicht neu auf­zu­le­gen.

Den »An­schluss« Öster­reichs 1938 emp­fin­det der öster­rei­chi­sche Pa­tri­ot Lo­thar als De­mü­ti­gung. Na­tür­lich ist er ein Geg­ner der Na­zis – schließ­lich ist er als Ju­de (er sel­ber be­zeich­net sich als Ju­de, der ka­tho­lisch ge­prägt ist) mit dem Le­ben be­droht. Was Lo­thar al­ler­dings pri­mär ver­zagt und wü­tend macht, ist der aber­ma­li­ge Ver­lust sei­ner Hei­mat Öster­reich, das nun ei­ne Pro­vinz im »Deut­schen Reich« wird. Und selbst­ver­ständ­lich wi­dern ihn die an­ti­se­mi­ti­schen und of­fen na­zi­sti­schen Re­den der sich ihm auf sei­ner Flucht zum Bru­der nach Ei­ni­gen, in die Schweiz, be­geg­nen­den Men­schen an.

Lan­ge bleibt er nicht in der Schweiz und kommt über Pa­ris schließ­lich mit Frau und Toch­ter in die USA. Hier hat er nach an­fäng­li­chen Schwie­rig­kei­ten Glück, fin­det ei­nen neu­en ame­ri­ka­ni­schen Ver­le­ger und hat schließ­lich wirt­schaft­li­chen Er­folg mit sei­nen Bü­chern. Er wird un­ter an­de­rem für ein Jahr Ho­no­rar­pro­fes­sor in Co­lo­ra­do Springs, wäh­rend Adri­en­ne Ge­ss­ner am Broad­way ga­stiert. Sei­ne Toch­ter hei­ra­tet den Schau­spie­ler und spä­te­ren Thea­ter­di­rek­tor Ernst Haeu­sser­mann und wird Se­kre­tä­rin bei Max Rein­hardt. Schließ­lich wer­den Lo­thar und Ge­ss­ner 1944 durch­aus mit Stolz ame­ri­ka­ni­sche Staats­bür­ger. Mit der ver­meint­li­chen End­gül­tig­keit sei­nes Schwurs auf das neue Land hat er sei­ne Schwie­rig­kei­ten, denn tat­säch­lich fühlt er sich im­mer noch Öster­reich ver­bun­den. Schließ­lich gibt er nach, zwar wis­send, dass Loya­li­täts­kon­flik­te ir­gend­wann auf­tre­ten könn­ten, dies aber erst ein­mal ver­drän­gend.

Sei­ne Sicht auf die USA ist am­bi­va­lent – ei­ner­seits lobt er vor al­lem den ame­ri­ka­ni­schen Pro­vin­zia­lis­mus (mit New York und Hol­ly­wood kommt er we­ni­ger klar) und ist fas­zi­niert von Theo­dor Roo­se­velt, dem »ge­lähm­ten Rie­sen« mit »gro­ßem, hu­ma­nem Ge­sicht« (er war ihm ein­mal be­geg­net). Ame­ri­ka ist für Lo­thar »die un­ge­heu­er­ste Va­rie­tät in ei­ner un­ge­heu­er­li­chen Sim­pli­zi­tät. Es be­sitzt al­les, vom An­be­tungs­wür­di­gen bis zum Ab­sto­ßend­sten, aber es hat al­les auf ei­ne, auf sei­ne For­mel ge­bracht: das Le­ben in der Wü­ste wie in den Me­tro­po­len ent­spricht ge­norm­ter Hal­tung, ge­mischt aus Op­ti­mis­mus […], Leicht­gläu­big­keit, Trost­lo­sig­keit und Dol­lar­fürch­tig­keit.« Am En­de heißt es, Ame­ri­ka bie­te ei­ne »an­stän­di­ge« Welt.

Lo­thar lässt den Le­ser teil­ha­ben an sei­ner Bi­lin­gua­li­tät; das Zi­tie­ren nebst so­for­ti­ger Über­set­zung eng­li­scher Re­de­wen­dun­gen ist bis­wei­len arg stö­rend, aber ver­mut­lich der Tat­sa­che ge­schul­det, dass in den 1960er Jah­ren die we­nig­sten in Öster­reich die eng­li­sche Spra­che be­herrsch­ten. Schwie­ri­ger ist es un­ter dem Wust der Ma­nie­ris­men und zum Teil über­bor­den­den Hy­perta­xen (Sät­ze mit drei oder mehr Se­mi­ko­la sind nicht sel­ten) die klei­nen Ju­we­le zu ent­decken. Ei­ner ist die Ver­wand­lung Lo­thars vom ab­so­lu­ten Kriegs­geg­ner zum glü­hen­den Ver­fech­ter des Ein­tre­tens der USA in den Zwei­ten Welt­krieg. Er ver­steht die Vor­be­hal­te Roo­se­velts nicht, sieht aber ein, dass sie die Be­find­lich­keit der Be­völ­ke­rung, die ihn da­für ge­wählt ha­ben, wi­der­spie­geln. Un­ter den Do­zen­ten und Stu­den­ten in Co­lo­ra­do bei­spiels­wei­se herrscht ein­deu­tig die Hal­tung vor, dass sich die USA her­aus­hal­ten soll­ten. Die­se Mei­nung än­dert sich – aber­mals zu Lo­thars Über­ra­schung – schlag­ar­tig mit Pearl Har­bour. So­fort mel­den sich auch un­ter sei­nen Stu­den­ten Frei­wil­li­ge für die Ar­mee.

Lo­thar ist in der US-ame­ri­ka­ni­schen Exi­lan­ten­sze­ne gut ver­netzt. Er be­sucht Tho­mas Mann (der ihn für ein schnell wie­der ein­ge­stell­tes Thea­ter­pro­jekt so­gar fi­nan­zi­ell un­ter­stützt) und scherzt mit Franz Wer­fel, wer vor dem an­de­ren auf der Best­sel­ler­li­ste steht. Auch Adri­en­ne Ge­ss­ner be­kommt wei­ter­hin gu­te En­ga­ge­ments. Aber er hat auch ein Au­ge auf die­je­ni­gen, die das Exil nicht so gut über­stan­den ha­ben, spricht so­gar mehr­mals von der »To­des­krank­heit Emi­gra­ti­on«.

Als Max Rein­hardt im No­vem­ber 1943 in New York stirbt, ist fast die ge­sam­te deutsch­spra­chi­ge Künst­ler- und Li­te­ra­ten­sze­ne an­we­send (Lo­thar er­spart ei­nem die Auf­zäh­lung nicht). Aus Eu­ro­pa nicht ein­mal ein Gruß (fünf­zig Sei­ten spä­ter kor­ri­giert er sich: Pau­la Wes­se­ly hat­te ge­schrie­ben). Dann stirbt kurz vor En­de des Krie­ges Roo­se­velt, was ihn er­neut zu ei­ner Elo­ge auf FDR in­spi­riert (sei­ne Mi­gra­ti­ons­po­li­tik be­fragt er nicht) und schließ­lich er­eig­net sich auch noch, kurz nach En­de des Krie­ges im De­zem­ber 1945, der zwei­te exi­sten­ti­el­le Schock in Lo­thars Le­ben: Der Tod der ge­lieb­ten Toch­ter »Han­si«. Lo­thar fin­det, ja er­fin­det, das »Wun­der des Über­le­bens« – der Ti­tel sei­nes Bu­ches -, um nicht zu ver­zwei­feln. Sein Lei­den er­in­nert tat­säch­lich kurz an die Über­le­bens­scham vie­ler Ho­lo­caust-Über­le­ben­der und man fragt sich, ob je­mand, der es im Ver­gleich zu vie­len an­de­ren Exi­lan­ten gut an­ge­trof­fen hat­te, der­ar­ti­ge Schlüs­se er­mög­li­chen darf.

Die Chro­no­lo­gie im Buch tau­melt nun kurz ein biss­chen. Plötz­lich kommt er auf ei­ne Be­geg­nung mit Ste­fan Zweig zu spre­chen (der sich 1942 das Le­ben ge­nom­men hat­te). Zweig war in ei­nem Tref­fen mit Lo­thar er­regt und ver­stört. Nach ei­nem Sieg der Al­li­ier­ten, der sich ab­zu­zeich­nen be­gann, aber na­tür­lich nicht zeit­lich pro­gno­sti­ziert wer­den konn­te, wür­de es, so Zweig zu ihm, frü­her oder spä­ter zum »Zer­fall der Al­li­anz« ge­gen Hit­ler und zu neu­en krie­ge­ri­schen Kon­flik­ten kom­men. Fast se­he­risch nahm Zweig den spä­ter als »Kal­ter Krieg« apo­stro­phier­ten Kon­flikt vor­weg, was bei Lo­thar nach­träg­lich nicht oh­ne Ein­druck bleibt.

Es ge­lingt Lo­thar 1946 die Be­ru­fung zum »Theat­re and Mu­sic Of­fi­cer« zu er­hal­ten. Er wird in ame­ri­ka­ni­scher Uni­form nach Öster­reich ge­schickt und ist vor al­lem zu­stän­dig für die Ent- bzw. De­n­a­zi­fi­zie­rung von Künst­lern. Spä­ter küm­mert er sich um die Wie­der­auf­nah­me der Salz­bur­ger Fest­spie­le. Aber zu­nächst kom­men die zä­hen Pas­sa­gen des Bu­ches. Lo­thars und Ge­ss­ners Rei­se wird in al­len Ein­zel­hei­ten be­schrie­ben. Stets er­kennt er Or­te und/oder auch Per­so­nen, de­nen er acht Jah­re zu­vor auf sei­ner Flucht be­geg­net war und setzt die­se nun in ei­ner Mi­schung aus Tri­umph und Schwer­mut in Sze­ne. Schein­bar je­de Wel­le auf der Über­fahrt wird be­rich­tet. Die merk­wür­di­gen Pas­sa­gie­re an Bord. Kein Te­le­fo­nat bleibt un­er­wähnt. Kell­ner in Pa­ris se­hen »das Selbst­ver­ständ­li­che nicht« – dass er mor­gens um sie­ben be­dient wer­den möch­te. Die 38stündige Zug­fahrt Pa­ris – Wien wird aus­ufernd be­rich­tet.

Aber auch hier gibt ei­ne Pre­tio­se, die sehr schön Lo­thars Hei­mat­lie­be il­lu­striert. Wäh­rend ei­ner Hal­te­pau­se des Zu­ges in Salz­burg schlu­gen Kir­chen­uh­ren »die neun­te Stun­de, und Glocken läu­te­ten mit ei­ner Har­mo­nie, dies es sonst nir­gends gab, weil sie Mo­zart hieß«. Lo­thar ge­steht, dass die­ser Au­gen­blick, die­se Stun­de »ei­ner der be­sten, viel­leicht der be­sten mei­nes Le­bens« war, weil, wie es sehr kryp­tisch heißt, »das Er­war­te­te die Er­war­tung über­trof­fen« hat­te.

An­ge­kom­men in Wien be­geg­net er sei­nen Vor­ge­setz­ten – ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten mit häu­fig we­ni­gen bis gar kei­nen Deutsch­kennt­nis­sen – bis auf ei­ne Aus­nah­me mit Ge­ring­schät­zung bis hin zur Ar­ro­ganz, un­ter an­de­rem weil sie an­schei­nend nicht so be­le­sen sind wie er. Da­bei ist sein Wir­ken sel­ber von ge­wis­ser Hemds­är­me­lig­keit. Her­bert von Ka­ra­jan, den er nicht kennt, wird we­gen sei­nes »Fa­na­tis­mus für Mu­sik« ge­nau so ver­schont wie Wil­helm Furtwäng­ler, der in ei­nem sehr ku­rio­sen Ge­spräch nach we­ni­gen Mi­nu­ten zu sei­nem Freund wird. Hart bleibt er bei Wer­ner Krauß, der nach Deutsch­land aus­ge­wie­sen wird. Emil Jan­nings be­legt er aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den nur mit Auf­tritts­ver­bot. Pau­la Wes­se­ly wie­der­um wird erst durch die In­ter­ven­ti­on von Lo­thars Vor­ge­setz­ten kurz­zei­tig ge­bannt. Sehr le­sens­wert der Be­richt vom Be­such bei Ri­chard Strauß, der zur Be­din­gung für die Auf­füh­rung sei­ner Oper »Die Lie­be der Da­nae« die Lei­tung durch den po­li­tisch »be­la­ste­ten« Di­ri­gen­ten Cle­mens Krauss macht, was Lo­thar ab­leh­nen muss. (Die Oper wird erst nach dem Tod von Strauß 1952 ur­auf­ge­führt.)

Bi­lan­zie­rend be­merkt Lo­thar wie »man­gel­haft« die Auf­ga­be ge­löst wur­de, die am »Sch­and­re­gime Be­tei­lig­ten« zu ban­nen und ei­nen »sau­be­ren Neu­auf­bau« mög­lich zu ma­chen. Statt­des­sen gab es ei­ne »sche­ma­ti­sche, un­kon­se­quen­te Ver­gel­tung, an­dau­ernd von Aus­nah­men durch­lö­chert, die das Ver­trau­en in die […] Säu­be­rer er­schüt­ter­te«. Lo­thar be­zieht sich aus­drück­lich selbst in die Kri­tik ein. Er ist in mehr­fa­cher Hin­sicht ge­spal­ten. Zum ei­nen will er, so­weit dies mög­lich ist, die Kunst von den po­li­ti­schen Ver­ir­run­gen des Künst­lers tren­nen. Zum an­de­ren ist ihm das Mit­läu­fer­tum in ei­nem ver­bre­che­ri­schen Re­gime zu­wi­der. Je­der ha­be, so Lo­thar ein­mal sinn­ge­mäß, ir­gend­ei­nen Ju­den, den er be­schützt ha­be. Aber wenn man su­che, fän­de sich nichts oder es ist so lä­cher­lich, dass es kaum der Re­de wert ist.

»Ami go home«, ruft man ihm un­mit­tel­bar nach An­kunft we­gen sei­ner ame­ri­ka­ni­schen Uni­form zu – Lo­thar dar­auf iro­nisch: »Wir wa­ren wie­der da«. Und trotz­dem (oder ge­ra­de des­we­gen?) möch­te er in Öster­reich blei­ben. Nach­träg­lich scheint die Ent­schei­dung früh ge­fal­len, denn »Die Hei­mat legt man nicht ab wie ein Hemd«. Aber wie ver­trägt sich das mit sei­nem Eid bei Aus­ga­be der ame­ri­ka­ni­schen Staats­bür­ger­schaft? Er emp­fin­det ei­ner­seits Dank­bar­keit für die USA, ist aber an­de­rer­seits tief ver­wur­zelt mit Öster­reich. Dop­pel­te Staats­bür­ger­schaf­ten (die ver­mut­lich da­mals nicht mög­lich wa­ren) lehnt er ka­te­go­risch ab. Der Kon­flikt, sich zwi­schen dem Land der Ret­tung und sei­nem ge­lieb­ten Hei­mat­land ent­schei­den zu müs­sen, be­la­stet ihn jah­re­lang. Zu­nächst nimmt er noch je­de Ge­le­gen­heit wahr, den Schein zu wah­ren, fin­det den Trick, dass er für ein Buch, wel­ches in den USA er­schei­nen soll, in Öster­reich Stu­di­en be­trei­ben muss, fährt wie­der zu­rück in die USA, um dann wie­der nach Öster­reich zu­rück­zu­kom­men. Schließ­lich wird Öster­reich 1955 »frei« – das En­de der Be­sat­zungs­zeit ist ge­kom­men. Ein drit­tes Mal – dies­mal als Freu­de – be­schwört er dies­mal für sein Land, die­ses »Wun­der des Über­le­bens«. Er gibt den ame­ri­ka­ni­schen Pass zu­rück und wird wie­der Öster­rei­cher.

Es gibt noch ei­ni­ge klei­ne Hö­he­punk­te in die­sen letz­ten Ka­pi­teln, so bei­spiels­wei­se sei­ne wirk­lich le­sens­wer­te Phil­ip­pi­ka ge­gen Karl Kraus, den er für über­schätzt hält. Oder die Cha­rak­te­ri­sie­rung »sei­ner« Öster­rei­cher, die in das ver­blüf­fen­de Ur­teil mün­det, dass die Öster­rei­cher die »Fran­zo­sen un­ter den Deut­schen« wä­ren. Stark ist auch das fik­ti­ve Zwie­ge­spräch mit sei­nem 1950 ver­stor­be­nen Bru­der, in dem er ihm sei­ne eher tri­vi­al-un­ter­hal­ten­de Sicht dem Thea­ter ge­gen­über vor­wirft. Für Lo­thar ist das Thea­ter ge­ra­de weil es in­zwi­schen sub­ven­tio­niert wird und durch den Pu­bli­kums­zu­spruch nicht mehr öko­no­misch kor­rum­pier­bar, frei. Es als Amü­se­ment zu ver­wen­den, ist ge­ra­de­zu fre­vel­haft. Lo­thars Sicht auf das Thea­ter ist em­pha­tisch; er ist bei Brecht und ver­fech­tet den »An­schau­ungs­un­ter­richt«, ein künst­li­ches Spiel, we­ni­ger dem Volk ab­ge­schaut, denn eher ver­frem­dend, al­ler­dings werk­ge­treu und nicht durch In­sze­na­to­ren usur­piert, die sel­ber »in Sze­ne set­zen«. Er ist ge­gen den auf­kom­men­den Exi­sten­tia­lis­mus, die­ses »Nichts­ge­fühl« und plä­diert für ein »All­ge­fühl«.

Der Dia­log mit dem Bru­der of­fen­bart ei­ne gro­ße Schwä­che Lo­thars: Sei­ne im­mense Ei­tel­keit. Er lässt kei­nen Zwei­fel auf­kom­men, dass er sich sel­ber für den bes­se­ren Schrift­stel­ler hält als sei­nen min­de­stens zu Be­ginn er­folg­rei­che­ren Bru­der. Sei­ne Selbst­be­weih­räu­che­run­gen sind bis­wei­len un­er­träg­lich. Aus­führ­lich zi­tiert er bei al­len Ge­le­gen­hei­ten die ihm gel­ten­den Lo­bes­ge­sän­ge. Wie auch zur Il­lu­stra­ti­on ei­ner In­tri­ge, die ver­hin­dert, dass er Burg­thea­ter­di­rek­tor wird. Es ge­nügt Lo­thar nicht der Hin­weis dar­auf. Nein, er zi­tiert aus dem Of­fe­nen Brief der Schau­spie­ler und Künst­ler an die po­ten­ti­el­len Ent­schei­der, die die Ei­gen­schaf­ten Lo­thars hym­nisch her­vor­he­ben. Was er ver­mut­lich aus ge­kränk­ter Ei­tel­keit nicht er­wähnt: Ernst Haeu­sser­mann, der ein­sti­ge Ehe­mann sei­ner ver­stor­be­nen Toch­ter, den er fast durch­gän­gig »mei­nen Schwei­ger­sohn« nennt, wur­de 1959 Di­rek­tor des Burg­thea­ters; Lo­thar sel­ber nie.

Viel­leicht ist es ein Feh­ler, dass ich kei­ne von Lo­thars Ro­ma­nen ge­le­sen und kei­ne sei­ner In­sze­nie­run­gen ge­se­hen ha­be. Ob er wirk­lich ein gro­ßer Schrift­stel­ler war? Da­ni­el Kehl­mann be­jaht das und hebt her­vor, dass sei­ne Au­to­bio­gra­phie »Pflicht­lek­tü­re sein [soll­te] für je­den, der sich für die Kul­tur­ge­schich­te Öster­reichs« in­ter­es­sie­re. Das ist si­cher­lich rich­tig. Der do­ku­men­ta­ri­sche Wert ist durch­aus ge­ge­ben. Aber es ist eben auch mehr ei­ne Au­toha­gio­gra­phie als ei­ne Au­to­bio­gra­phie. Oder emp­fin­de ich es nur so, weil mir die Per­son mit fort­ge­setz­ter Lek­tü­re im­mer un­sym­pa­thi­scher wird?