Al­brecht von Lucke: Die ge­fähr­de­te Re­pu­blik

Albrecht von Lucke: Die gefährdete Republik

Al­brecht von Lucke:
Die ge­fähr­de­te Re­pu­blik

»Die ge­fähr­de­te Re­pu­blik – Von Bonn nach Ber­lin« – ein er­staun­li­cher Ti­tel und wenn man noch da­zu die Jah­res­rei­he »1949 – 1989 – 2009« liest ahnt man, wel­che Me­lo­die hier an­ge­stimmt wird. Das Buch kommt zu­nächst als Bestands­aufnahme so­wohl der so­ge­nann­ten »Bon­ner Re­pu­blik«, die mit dem Mau­er­fall 1989 suk­zes­si­ve »ab­dank­te« (aber erst fast ein Jahr­zehnt spä­ter, 1999 mit der er­sten Ple­nar­sit­zung des Bun­des­ta­ges im neu­en Reichs­tags zu Ber­lin end­gül­tig zu En­de ging) als auch ei­ner Art Zwischen­bilanz der schein­bar noch im­mer sinn- bzw. rol­len­su­chen­den »Ber­li­ner Re­pu­blik« da­her.

Die The­se des Au­tors: Die De­mo­kra­tie der al­ten Bundes­republik war sta­bi­ler (weil bes­ser) in der Be­völ­ke­rung ver­an­kert als im neu­en, sou­ve­rä­nen Deutsch­land. Da­bei wird die fast be­hag­li­che Si­tua­ti­on der »Bon­ner Re­pu­blik« aus ei­ner selbst­ver­ord­ne­ten (und von an­de­ren er­war­te­ten!) Zu­rück­hal­tung her­aus zu agie­ren (bzw. zu re­agie­ren) und sich in die Bi­po­la­ri­tät des Kal­ten Krie­ges, die EWG (spä­ter dann EG bzw. EU) und NATO wil­lig ein­bin­den zu las­sen als un­aus­weich­lich be­trach­tet. »Nie wie­der Krieg« lau­te­te das Grund­be­kennt­nis (und, die in­tel­lek­tu­el­le Va­ri­an­te, »Nie wie­der Ausch­witz«, die al­ler­dings – von Lucke er­wähnt das durch­aus – 1999 plötz­lich zu ei­ner Art Staats­rai­son per­ver­tiert wur­de und als Kriegs­rechtfertigung dien­te). Da die Au­ßen­po­li­tik letzt­lich fast als In­dienst­nah­me von Ausch­witz statt­fand, konn­te man sich auf das In­ne­re kon­zen­trie­ren; zu­tref­fend ist vom Pri­mat der In­nen­po­li­tik die Re­de.

Wohl­stands­ver­spre­chen und Kom­mu­ni­ka­ti­on

Al­brecht von Lucke glaubt, dass die De­mo­kra­tie-Ak­zep­tanz in­ner­halb der »Bon­ner Re­pu­blik« vor al­lem durch Er­hards Wirt­schafts­wun­der und den da­nach parteiüber­greifenden Kon­sens des Aus­baus der so­zia­len Markt­wirt­schaft in­klu­si­ve der Sozial­sicherungssysteme er­mög­licht und ge­fe­stigt wur­de. Das Wohl­stands­ver­spre­chen, al­so der so­zia­le (und öko­no­mi­sche) Auf­stieg durch Bil­dung und Ar­beit, war nicht nur Mög­lich­keit, son­dern viel­fach Rea­li­tät ge­wor­den. Die Durch­läs­sig­keit in­ner­halb der so­zia­len Schich­ten war er­reich­bar.

Die in­tel­lek­tu­el­len De­bat­ten wur­den hart aber durch­aus in ge­gen­sei­ti­gem Re­spekt aus­ge­foch­ten, so die The­se. Da­bei blieb selbst in der ent­schie­den­sten Aus­ein­an­der­set­zung mög­lich, was die Wei­ma­rer Re­pu­blik nicht ver­mocht hat­te: »die Trans­for­ma­ti­on von ra­di­ka­ler Sy­stem­op­po­si­ti­on in kri­ti­sche Loya­li­tät und Re­for­mis­mus«. (Das Zi­tat ist von Paul Nol­te.) Die Stär­ke der Bun­des­re­pu­blik – im­mer wenn von Lucke Bun­des­re­pu­blik schreibt, meint er die »Bon­ner Re­pu­blik«! – be­stand dar­in, dass in Kom­mu­ni­ka­ti­on, aber ge­ra­de auch in har­tem Kon­flikt un­ter­scheid­ba­re Al­ter­na­ti­ven für den Bür­ger er­kenn­bar und da­mit auch wähl­bar wur­den – und im Ernst­fall die Ver­stän­di­gung über die Ge­gen­sät­ze hin­weg er­folg­te.

Die­se Sicht auf die Dis­kus­si­ons­kul­tur ist nicht nur von ei­ni­gem Sen­ti­ment durch­tränkt, son­dern arg sim­pli­fi­zie­rend. Tat­säch­lich ha­ben im­mer wie­der Grund­satz­fra­gen des Selbst­ver­ständ­nis­ses Nach­kriegs­deutsch­lands die De­bat­ten­kul­tur der Bun­des­re­pu­blik der er­sten drei­ßig Jah­re ge­prägt. Über die Ver­wer­fun­gen quer durch die po­li­ti­sche aber auch in­tel­lek­tu­el­le Eli­te an­läss­lich der Wie­der­be­waff­nungs­de­bat­te Mit­te der 50er Jah­re gibt es be­red­te Zeug­nis­se (u. a. Wolf­gang Koep­pens fik­tio­na­le Be­ar­bei­tung »Das Treib­haus«). Und wer je­mals die teil­wei­se un­ver­söhn­lich und ag­gres­siv ge­führ­ten Dis­kus­sio­nen in den 70er Jah­ren hin­sicht­lich die Ost­po­li­tik der so­zi­al-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on mit­be­kam, konn­te bei den Geg­nern die­ser Po­li­tik nir­gends ei­ne Loya­li­tät zur Re­gie­rung fest­ma­chen.

Ge­schichts­klit­tern­de Idea­li­sie­rung der »Bon­ner Re­pu­blik«

Die De­bat­ten wur­den kaum im dis­kur­si­ven Mit­ein­an­der, son­dern über die da­mals je­weils herr­schen­den Mehr­heits­ver­hält­nis­se ent­schie­den. Da die­se Ent­schei­dun­gen Grundsatz­charakter hat­ten und teil­wei­se völ­ker­recht­li­che Ver­bind­lich­keit be­ka­men, wur­den sie auch bei Re­gie­rungs­wech­seln von der je­weils neu­en Ad­mi­ni­stra­ti­on über­nom­men (und so­gar wei­ter­ge­führt). Wie fra­gil al­ler­dings der Kon­sens in der Ost­po­li­tik ver­an­kert war, konn­te man Jahr­zehn­te da­nach wäh­rend der Ver­hand­lun­gen über den so­ge­nann­ten »Zwei-plus-Vier«-Vertrag 1990/91 se­hen, als dort zur Grund­be­din­gung deut­scher Sou­ve­rä­ni­tät die Oder-Nei­sse-Gren­ze mit Po­len als un­ab­än­der­bar fest­ge­legt wur­de (und in die­sem Punkt die Ost­po­li­tik der Re­gie­rung Brandt end­gül­tig ze­men­tiert wur­de) und ei­ni­ge rechts-na­tio­na­le Ab­ge­ord­ne­te der CDU/CSU Be­den­ken äu­ßer­ten (die al­ler­dings kei­ne ent­scheidende Rol­le mehr spiel­ten). Die vom Au­tor be­schwo­re­ne »Ein­beziehung des An­deren« (Ha­ber­mas), je­nes An­ti­dot ge­gen das an­ti­li­be­ra­le, aus­grenzende Freund-Feind-Den­ken Carl Schmitts kann an­läss­lich der Schär­fe und Ra­di­ka­li­tät der De­bat­ten ins­be­son­de­re der 60er und 70er Jah­re (mit Aus­nah­me der Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung wäh­rend des »Deut­schen Herb­stes« 1977) nur als geschichts­klitternde Idea­li­sie­rung be­zeich­net wer­den.

Von Lucke kon­sta­tiert, dass die »Ber­li­ner Re­pu­blik« nach dem 11. Sep­tem­ber 2001 zum Freund-Feind-Den­ken zu­rück­kehrt sei. Der Bür­ger (und ins­be­son­de­re der mus­li­mi­sche Mit­bür­ger) sieht sich im­mer mehr mit ei­ner Art Ge­ne­ral­ver­dacht kon­fron­tiert. Die EU-wei­te Ver­schär­fung des Asyl­rechts sieht er in die­sem Zu­sam­men­hang fast als kon­se­quent. Recht oder Ge­walt lau­te wie­der die Gret­chen­fra­ge, so der Au­tor, der Ha­ber­mas para­phrasierend, von der Rück­kehr »gro­sser, ge­walt­be­grün­de­ter Po­li­tik« im al­ten, vor-bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Sin­ne und von ei­nem neu­en Nacht­wäch­ter- und Si­cher­heits­staat spricht (von den zahl­rei­chen Ge­heim­dienst- und Be­spit­ze­lungs­af­fä­ren der »al­ten« Bun­des­re­pu­blik er­fährt der Le­ser si­cher­heits­hal­ber nichts).

Man weiss nicht, ob von Lucke mit vor-bun­des­re­pu­bli­ka­nisch nun Wei­mar meint (die Be­haup­tung »Bonn ist nicht Wei­mar« stra­pa­ziert er am An­fang des Bu­ches) oder gleich wil­hel­mi­ni­sches Po­li­tik­ge­ba­ren un­ter­stellt. In je­dem Fall sieht der Au­tor mit dem 11. Sep­tem­ber die Stun­de Carl Schmitts ge­kom­men (das Her­bei­be­schwö­ren von Carl Schmitt bei Freund und Feind [sic!] ist der­zeit pu­bli­zi­stisch en vogue). Ei­ni­ge Schmitt-Adep­ten die­nen ihm da­bei als Be­leg für sei­ne The­se (u. a. Ot­to De­pen­heu­er und sein Buch »Selbst­be­haup­tung des Rechts­sta­tes«).

Ei­ne de­zi­dier­te Be­weis­füh­rung, dass die­ses Den­ken ent­schei­dend (und so­mit auch gesetz­geberisch) in den po­li­ti­schen Dis­kurs Deutsch­lands ein­ge­drun­gen ist, bleibt aus, auch wenn er äu­ßerst sug­ge­stiv zu Wer­ke geht und em­pha­tisch den »links-rechts«-Gegensatz der »Bon­ner Re­pu­blik« als Ethos der Po­li­tik fei­ert. Da wer­den dann prak­ti­scher­wei­se die ein­deu­ti­gen Ge­gen­po­si­tio­nen des Ver­fas­sungs­rich­ters Udo di Fa­bio nur in ei­nem Ne­ben­satz und in Be­zug auf ei­ne Nu­an­ce er­wähnt.

Pa­ra­noia um Carl Schmitt

Statt­des­sen dient ihm Frank Schirr­ma­chers Ar­ti­kel »Jun­ge Män­ner auf Feind­fahrt« als Be­leg für die auch un­ter In­tel­lek­tu­el­len ver­brei­te­te Stim­mung ei­nes (na­tur­ge­mäß zu­recht als ge­fähr­lich ein­ge­stuf­ten) Feind­den­kens in­ner­halb des po­li­ti­schen und so­zio­kul­tu­rel­len Kon­tex­tes. Schirr­ma­chers Text re­kur­riert auf den bru­ta­len Über­fall zwei­er ju­gend­li­cher Aus­län­der auf ei­nen Rent­ner auf dem Mün­che­ner U‑­Bahn-Ge­län­de. Von Lucke ge­fällt nicht, wenn Schirr­ma­cher von Deut­schen­feind­lich­keit der bei­den aus­län­di­schen Jugend­lichen spricht und sieht hier (oh­ne dies zu be­le­gen) ei­ne Art Damm­bruch. Da­bei geht er ei­nig mit Schirr­ma­cher, dass es ei­ne we­sent­li­che Er­run­gen­schaft der »Bon­ner Re­pu­blik« ge­we­sen sei, den » ‘in­ne­ren Feind’ nicht zu po­stu­lie­ren« und führt als Bei­spiel die RAF-Ter­ro­ri­sten an, die trotz ih­rer Ver­bre­chen vom Staat nicht als »Fein­de« be­trach­tet wor­den sei­en. Von Lucke ver­gisst da­bei, dass (1.) Schirr­ma­cher kein Re­gie­rungs­spre­cher ist und (2.) die pu­bli­zi­sti­schen Sal­ven Mit­te der 70er Jah­re sehr wohl sug­ge­rier­ten, dass es sich bei den RAF-Ter­ro­ri­sten um Fein­de des Rechts­staats han­del­te (mit­nich­ten üb­ri­gens nur in der »Springer«-Presse, aber vor al­lem na­tür­lich dort) und der da­ma­li­ge Bun­des­prä­si­dent Wal­ter Scheel bei der Trau­er­ver­an­stal­tung für Hanns-Mar­tin Schley­er von den Ter­ro­ri­sten als »Feinde[n] jeg­li­cher Zi­vi­li­sa­ti­on« sprach.

Der »Feind« war in Wirk­lich­keit auch (und ge­ra­de) in der »Bon­ner Re­pu­blik« bis in die 80er Jah­re hin­ein als ge­ra­de­zu neu­ro­ti­scher An­ti­kom­mu­nis­mus prä­sent, der es Ade­nau­er und Er­hard er­laub­te, bis weit in die 60er Jah­re hin­ein so­gar die in­zwi­schen ge­wen­de­te SPD zu stig­ma­ti­sie­ren. Au­ßen­po­li­tisch wur­de erst durch die so­zi­al-li­be­ra­le Ent­span­nungs­po­li­tik die­ses Res­sen­ti­ment of­fi­zi­ell ge­zähmt.

Aus Angst durch Op­po­si­ti­on und Me­di­en als ver­fas­sungs­po­li­ti­sches »Leicht­ge­wicht« ver­un­glimpft zu wer­den schuf (ja: an­ti­zi­pier­te) die so­zi­al-li­be­ra­le Re­gie­rung 1972 den so­ge­nann­ten »Ra­di­ka­len­er­lass« (of­fi­zi­el­le Be­zeich­nung: »Grund­sät­ze zur Fra­ge der ver­fas­sungsfeindli­chen Kräf­te im öf­fent­li­chen Dienst« [Her­vor­he­bung G. K.]), der ei­nen vi­ru­len­ten (und tra­di­tio­nel­len) An­ti­kom­mu­nis­mus im In­ne­ren durch­aus fort­schrieb und als ei­ne Po­stu­lie­rung ei­nes »in­ne­ren Fein­des« be­trach­tet wer­den muss (man den­ke auch an den der De­mo­kra­tie­feind­lich­keit un­ver­däch­ti­gen Karl Pop­per und des­sen Buch »Die of­fe­ne Ge­sell­schaft und ih­re Fein­de«). Und ge­ne­rell gilt, dass, auch wenn die of­fi­zi­el­le Sprach­regelung dies seit den 70er Jah­ren ver­bat, die Bun­des­wehr sehr wohl ihr »Feind­bild« aus ei­ner (dif­fu­sen, aber von gro­ßen Tei­len der Be­völ­ke­rung re­al empfun­denen) Be­dro­hung aus »dem Osten« be­zog (auch wenn die Nen­nung der So­wjet­uni­on in die­sem Zu­sam­men­hang nicht op­por­tun war).

Von Lucke muss hier lei­der ei­ne (freund­lich aus­ge­drückt) höchst se­lek­ti­ve Aus­le­gung be­schei­nigt wer­den. In­dem er Schirr­ma­chers Ar­ti­kel (und auch den Kom­men­tar von Tho­mas Schmid aus der »Welt«) der­art als Bei­spie­le ei­ner Selbst­idio­ti­sie­rung der In­tel­lek­tu­el­len der neu­en »Ber­li­ner Re­pu­blik« dar­stellt, un­ter­schlägt er den di­rek­ten An­lass der Kom­men­ta­re: Bei­de Ar­ti­kel be­zie­hen sich näm­lich di­rekt auf ein Vi­deo des »Zeit«-Feuilletonchefs Jens Jes­sen, der sug­ge­rier­te, dass der Rent­ner sel­ber wo­mög­lich durch sein ty­pisch-deut­sches, nör­ge­li­ges Ver­hal­ten die­se Es­ka­la­ti­on pro­vo­ziert ha­be. Jes­sen stellt den Rent­ner als den deut­schen Spie­sser per se dar und ent­la­stet so­mit in­di­rekt die bei­den Tä­ter. Von Lucke ver­schweigt die­sen Kon­text, weil er of­fen­sicht­lich sei­ner The­se im We­ge steht. Se­ri­ös ist so et­was nicht.

Der stil­le Kon­sens zwi­schen Po­li­tik und Wahl­volk bröckelt

Der Ruf nach dem Staat, der nicht zu­letzt in der der­zeit gras­sie­ren­den Weltwirt­schaftskrise im­mer stär­ker um sich greift, sieht der Au­tor als Aus­weis verminder­ter Kon­flikt­be­reit­schaft ei­ner Ge­sell­schaft – auch dies Be­leg für sei­ne The­se des Rück­zugs des Bür­gers von der De­mo­kra­tie bzw. de­ren In­sti­tu­tio­nen. Von Lucke über­sieht da­bei aus­ge­rech­net sei­ne Ein­gangs­the­se, wo­nach der Aus­bau der Sozialversicherungs­systeme (mit dem vor­läu­fi­gen Hö­he­punkt der Er­rich­tung der Pflege­versicherung im Jah­re 1995) den Staat im­mer wei­ter in die Rol­le des Hel­fers aus per­sön­li­chen Le­bens­si­tua­tio­nen de­fi­niert hat­te. Der im Buch so eu­pho­risch ge­fei­er­te Wohl­stands­ge­dan­ke ging mit ei­ner Ab­si­che­rungs­men­ta­li­tät ein­her: Je­der konn­te im Kri­sen­fall (Krank­heit, Ar­beits­lo­sig­keit, Pfle­ge­fall in der Fa­mi­lie, aber auch bei­spiels­wei­se bei der Fi­nan­zie­rung von Im­mo­bi­li­en oder bei der Aus- und Wei­ter­bil­dung) un­ter be­stimm­ten Vor­aus­set­zun­gen staat­li­che Hil­fe in An­spruch neh­men, die selbst­ver­ständ­lich (und fast be­din­gungs­los) ge­währt wur­de.

Ri­chard von Weiz­säcker for­mu­lier­te 1992 im In­ter­view mit den Jour­na­li­sten Wer­ner A. Per­ger und Gun­ter Hof­mann ei­ne »Art von Vor­teils­auf­tei­lung zwi­schen Po­li­tik und Ge­sell­schaft. In der Ge­sell­schaft steht die Er­hal­tung ma­te­ri­el­ler Vor­tei­le im Vor­der­grund. Im po­li­ti­schen Sy­stem do­mi­niert die Kunst des Par­tei­en­kampfs un­ter­ein­an­der. Es geht…um Wohl­stands­er­hal­tung ge­gen Macht­er­hal­tung.« Von ei­nem »stil­len Kon­sens zwi­schen Öf­fent­lich­keit und Par­tei­en« moch­te von Weiz­säcker zwar nicht spre­chen. Die Ge­fahr sei je­doch, so der da­ma­li­ge Bun­des­prä­si­dent, dass »bei­de Sei­ten der stän­di­gen Ver­su­chung [er­lie­gen] auf Ko­sten der Zu­kunft zu le­ben, um sich die Ge­gen­wart zu er­leich­tern«.

Dies ist, ob­wohl nach dem Mau­er­fall for­mu­liert, ein­deu­tig Pro­dukt und Er­be der »Bon­ner Re­pu­blik«, denn Sy­stem­ak­zep­tanz wur­de durch ein (über vie­le Jah­re ein­ge­hal­te­nes) Wohl­stands- und Si­cher­heits­ver­spre­chen so­zu­sa­gen »er­kauft« (die Ein­gangs­the­se von Luckes wei­ter­ge­spon­nen). Erst als ab un­ge­fähr Mit­te der 70er Jah­re, ver­stärkt je­doch in den 90er Jah­ren ein fast selbst­ver­ständ­lich ge­glaub­ter, per­ma­nen­ter öko­no­mi­scher Auf­schwung für im­mer grö­sser wer­den­de Tei­le der Be­völ­ke­rung nicht mehr ga­ran­tiert wer­den konn­te (von da an stieg – aus vie­len Grün­den – die Ar­beits­lo­sig­keit ste­tig an), bröckel­te auch wie­der zu­neh­mend die System-(respektive Demokratie-)Akzeptanz (die durch die Er­eig­nis­se des Mau­er­falls 1989/90 noch ein­mal ein kur­zes, aber hef­ti­ges Zwi­schen­hoch er­fuhr).

Wenn be­klagt wird, dass das ge­sell­schaft­li­che Fer­ment, der Un­ter­bau ei­ner am ei­ge­nen Ge­mein­we­sen in­ter­es­sier­ten Bür­ger­ge­sell­schaft und so­mit das Ethos ei­ner republika­nischen Öf­fent­lich­keit ero­die­re und als schlei­chen­der Pro­zess ei­ne postdemo­kratische Pha­se be­gän­ne, in der ein Sub­stanz­ver­lust der De­mo­kra­tie dro­he (die The­se stammt vom bri­ti­schen Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Co­lin Crouch), so ist wird da­mit ein lang­wie­ri­ger Pro­zess be­schrie­ben, der mit den Um­wäl­zun­gen seit 1989 re­la­tiv we­nig und mit ei­ner Erwartungs­haltung, wel­ches sich seit den 70er Jah­ren über die Ge­ne­ra­tio­nen ge­bil­det hat, re­la­tiv viel zu tun hat (was im üb­ri­gen auch nicht auf die Bun­des­re­pu­blik be­schränkt blieb; man den­ke nur an die skan­di­na­vi­schen Län­der).

Die­ser Ex­kurs zeigt, dass die Di­cho­to­mie »Bon­ner Re­pu­blik« ver­sus »Ber­li­ner Re­pu­blik« die zwei­fel­los vor­han­de­nen Ver­än­de­run­gen der po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Kul­tur der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nur un­zu­rei­chend be­grün­den. Zwar be­tont von Lucke zu Recht die Sym­bo­lik, die im Haupt­stadt­be­schluss zu Gun­sten Ber­lins lag, aber im wesent­lichen sind sei­ne Fest­stel­lun­gen, die ei­nen ver­stärk­ten Na­tio­na­lis­mus bei­spiels­wei­se in­ner­halb der Be­völ­ke­rung aus­ma­chen, eher dürf­tig. Und am En­de be­zeich­net er sel­ber die schwarz-rot-gol­de­nen »De­mon­stra­tio­nen« et­wa wäh­rend der Fuss­ball-WM 2006 zu­tref­fend als Pla­ce­bo-Pa­trio­tis­mus.

»Re­vi­ta­li­sie­rung des Pa­the­ti­schen?«

Die Ar­gu­men­ta­ti­on, Deutsch­land dro­he mit ei­ner Re­vi­ta­li­se­rung des Pa­the­ti­schen neue »Hel­den«, die wie­der­um ei­ne neu­ar­ti­ge Herr­schafts- und Kriegs­rhe­to­rik zu pro­du­zie­ren, die zu­nächst aus Ver­schleie­rungs­grün­den als sol­che be­wusst nicht de­kla­riert wer­de, ist da­ge­gen nicht ganz von der Hand zu wei­sen. Auch wenn von Luckes Be­haup­tung, Kohl sei – in be­ster deut­scher Kanz­ler­tra­di­ti­on -Pa­thos­ver­wei­ge­rer ge­we­sen, bei nä­he­rer An­schau­ung in die­ser Form nicht auf­recht er­hal­ten wer­den kann. Spä­te­stens mit der un­ter Ger­hard Schrö­der of­fen vor­ge­brach­ten »Be­wer­bung« um ei­nen stän­di­gen Sitz im Welt­si­cher­heits­rat ist al­ler­dings ei­ne Ver­än­de­rung im Selbst­ver­ständ­nis (der po­li­ti­schen Klas­se) Deutsch­lands fest­zu­stel­len.

Als Sün­den­fall »neu-deut­scher« Au­ßen­po­li­tik muss das bis heu­te un­er­klär­li­che ein­sei­ti­ge Vor­pre­schen der Kohl/­Gen­scher-Re­gie­rung 1991 in Be­zug auf die deut­sche An­er­ken­nung von Slo­we­ni­en und Kroa­ti­en an­ge­se­hen wer­den, oh­ne gleich­zei­tig min­de­stens ein euro­päisch ab­ge­stimm­tes Kon­zept für die »rest­li­che« ju­go­sla­wi­sche Fö­de­ra­ti­on vor­zu­le­gen. Und na­tür­lich stellt der (völ­ker­rechts­wid­ri­ge) Ko­so­vo-Krieg 1999, den von Lucke zu Recht als das de­fi­ni­ti­ve En­de der Nach­kriegs­zeit be­greift, ei­ne tief­grei­fen­de Zä­sur dar.

Merk­wür­di­ger­wei­se ge­wich­tet der Au­tor Schrö­ders Ab­leh­nung des Irak­kriegs 2003 (und so­mit auch ei­ner deut­schen Be­tei­li­gung dar­an) eher als Aus­nah­me statt hier­in ei­ne Form von Er­neue­rung der Wer­te der al­ten Bun­des­re­pu­blik zu er­ken­nen. Und wenn er Schrö­der als Nachkriegs­kind be­zeich­net, der, an­ders als Kohl, (schein­bar) un­be­fan­ge­ner an den Fei­er­lich­kei­ten zum D‑Day teil­neh­men konn­te, so stimmt dies nur teil­wei­se: Schrö­der hat­te sei­nen Va­ter nie­mals ken­nen­ge­lernt; die­ser starb als Sol­dat im glei­chen Jahr, als Ger­hard Schrö­der ge­bo­ren wur­de. So schnell wird die leicht­fü­ssi­ge Vo­ka­bel vom Nachkriegs­kind zur miss­glück­ten Me­ta­pher. (Um­so un­er­klär­li­cher die Ver­pflich­tun­gen Schrö­ders so­wohl im Ko­so­vo-Krieg als auch im Fall von Af­gha­ni­stan; bei­des zu unter­suchen, wür­de den Ge­gen­stand die­ses Auf­sat­zes spren­gen. Dies je­doch aus­schließ­lich als Aus­druck ei­ner »neu­en deut­schen Ver­ant­wor­tung« rein macht­po­li­tisch zu inter­pretieren, dürf­te zu kurz grei­fen.)

An­samm­lung von Phra­sen und sach­li­che Feh­ler

Wenn von Lucke das Auf­kei­men ei­ner Re­nais­sance der deut­schen Na­ti­on fest­stellt, so muss er sich zu­nächst fra­gen las­sen, was dar­an be­kla­gens­wert sein soll. Na­tür­lich bleibt die »Ber­li­ner Re­pu­blik« so­wohl in der EU als auch in der NATO ein­ge­bun­den. Ei­ne Bismarck­sche Bünd­nis­po­li­tik ist weit und breit nicht in Sicht; nicht ein­mal die neo-na­tio­na­le »Lin­ke« plant die so viel ge­fürch­te­ten »Al­lein­gän­ge«. Statt­des­sen wur­de das, was der Au­tor als Re­si­du­um der »Bon­ner Re­pu­blik« be­trach­tet, näm­lich die Ab­leh­nung des Irak­kriegs der Re­gie­rung Schröder/Fischer, von vie­len (ame­ri­ka­freund­li­chen) Au­gu­ren als Auf­kei­men neu­er »Achsen«-Politik (vom neu­en »Ra­pal­lo« war so­gar die Re­de) de­nun­ziert. Und mo­niert nicht von Lucke zu Recht die postsouverän[e] (Scheckbuch-)Rückzugsgemüt­lichkeit der »Bon­ner Re­pu­blik«, die sich auf das Nach­kriegs­ge­fühl stüt­zend und mit dem bei Be­darf stets als ei­ne Art Mon­stranz her­vor­ge­hol­ten mo­ra­li­schen An­spruch der au­ßen­po­li­ti­schen Zu­rück­nah­me agiert hat? (Frei­lich gab es hier die rühm­li­che Aus­nah­me der Ost­po­li­tik Brandt/Bahr/Scheel!)

Zu ein­fach macht es sich der Au­tor auch, wenn er öko­no­misch-so­zia­len Ver­wer­fun­gen mit Schrö­ders Agen­da-Po­li­tik er­klärt (da­bei Ur­sa­che und Wir­kung min­de­stens teil­wei­se ver­wech­selt) und dann die üb­li­chen Flos­keln ei­ner ver­ar­men­den Bun­des­re­pu­blik re­ka­pi­tu­liert. Und wenn von der Rück­kehr der Klas­sen­ge­sell­schaft ge­spro­chen wird: was ist das für ei­ne fa­ta­le Fehl­ein­schät­zung, die im­pli­ziert, dass es vor­her ei­ne »klas­sen­lo­se« Ge­sell­schaft ge­ge­ben ha­ben soll.

Könn­te es nicht sein, dass die Durch­läs­sig­keit der so­zia­len Schich­ten der »Bon­ner Re­pu­blik« mul­ti­fak­to­ra­le Ur­sa­chen hat­te? Hat sich nicht die Hal­tung gro­ßer Tei­le der Ge­sell­schaft zu den Er­run­gen­schaf­ten des Staa­tes ge­än­dert, die nun viel selbstver­ständlicher auf­ge­nom­men, ja ge­for­dert wer­den? Muss man, bei al­ler be­rech­tig­ten Em­pö­rung für die zu­neh­men­de Staats- und Po­li­tik­gleich­gül­tig­keit nicht auch ein­mal Ken­ne­dys Dik­tum in Er­in­ne­rung brin­gen (auch auf die Ge­fahr, in un­er­wünsch­tes Pa­thos zu ver­fal­len)? Ist es nicht zwin­gend er­for­der­lich, dass staat­li­che In­fra­struk­tur im­mer auch ei­nes ge­wis­sen En­ga­ge­ments des­je­ni­gen be­darf, der die­se nutzt? Ein Schul- und Berufsab­schluss, ein bes­se­res Ein­kom­men oder die Mög­lich­keit, neue Kon­sum­ar­ti­kel zu er­wer­ben – all dies kann nicht vom Staat für den ein­zel­nen her­bei­ge­schafft, son­dern muss sel­ber an­ge­eig­net wer­den. Rich­ti­ger­wei­se be­tont von Lucke die ein­ge­ris­se­ne Un­sit­te, dass der Bür­ger nur noch als Kon­su­ment ge­se­hen wird – die­ser Rol­le könn­te er sich aber auch de­zi­diert ent­zie­hen. Und wenn die »Ber­li­ner Re­pu­blik« nun da­bei ist, die De­le­ga­ti­on des pri­va­ten Wohl­stands an den Staat, der in der »Bon­ner Re­pu­blik« ih­ren Ur­sprung hat (und von al­len Re­gie­run­gen ent­spre­chend auf- und aus­ge­baut wur­de) zu be­fra­gen – was ist dar­an so ver­werf­lich?

Na­tür­lich: Die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen der Po­li­tik und sei­nen Bür­gern ist ge­stört. Es gibt, da liegt der Au­tor rich­tig, be­dau­er­li­cher­wei­se we­der ei­ne brei­te ge­sell­schaft­li­che De­bat­te über die Rol­le, die Mög­lich­kei­ten und die Gren­zen des Staa­tes noch ei­ne Dis­kus­si­on über den Um­gang mit Krie­gen (statt­des­sen wer­den dür­re Durch­hal­te­pa­ro­len ge­dro­schen). Da von Lucke je­doch die Ge­gen­über­stel­lung von »Bon­ner« und »Ber­li­ner« Re­pu­blik nicht auf­gibt ent­steht fast zwangs­läu­fig der Ein­druck, dass ei­ne Art Re­ani­ma­ti­on die­ser »golden­en Zeit« her­bei­ge­re­det wer­den soll. Dies ist je­doch – der Au­tor zeigt das sel­ber – aus vie­ler­lei Grün­den we­der mög­lich noch er­stre­bens­wert.

Statt al­so mu­tig Pro­jek­te für ei­ne Zu­kunft zu ent­wer­fen und da­bei even­tu­el­le Ri­si­ken zu kal­ku­lie­ren, ver­fällt von Lucke größ­ten­teils in glo­ri­fi­zie­ren­de Ver­klä­rungs­rhe­to­rik. Statt der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land gä­be es nur noch Deutsch­land und es ent­ste­he ei­ne Re­pu­blik oh­ne Re­pu­bli­ka­ner. Als sei das re­pu­bli­ka­ni­sche Ele­ment in der »al­ten« Bun­des­re­pu­blik All­ge­mein­gut ge­we­sen. (Und mu­tier­te in den 80er Jah­ren der Be­griff »Re­pu­bli­ka­ner« nicht fast als Schimpf­wort, weil sich ei­ne rechts­ra­di­ka­le Par­tei plötz­lich die­ses Na­mens be­dien­te und ihn da­mit prak­tisch »ent­ehr­te«?)

Be­dau­er­lich üb­ri­gens, dass das Buch ne­ben den ge­nann­ten Schwä­chen auch noch mar­kan­te Feh­ler auf­weist. So ist von ei­ner Re­gie­rungs­er­klä­rung von Wil­ly Brandt von 1968 die Re­de, wel­che den Satz »Wir ste­hen nicht am En­de un­se­rer De­mo­kra­tie, wir fan­gen erst rich­tig an« be­inhal­ten soll. Und Brandts be­rühm­tes Dik­tum »mehr De­mo­kra­tie wa­gen« ver­or­tet von Lucke auf An­fang der sieb­zi­ger Jah­re. Je­der nur halb­wegs po­li­tisch Ge­bil­de­te weiß frei­lich, dass Brandts Re­gie­rungs­er­klä­rung, aus der bei­de Zi­ta­te stam­men, im Ok­to­ber 1969 ge­hal­ten wur­de. Da ist der Lap­sus, Phil­ipp Jen­nin­ger als Mar­tin Jen­nin­ger zu be­zeich­nen, fast noch ent­schuld­bar. (Und na­tür­lich auch hier die mehr­fach falsch ver­wand­te Phra­se »neo­li­be­ral« – ob­wohl von Lucke beim er­sten Mal noch dar­auf hin­weist…)

Am En­de gibt es ei­nen eher klein­lau­ten Ver­merk, der auf ei­ne Kri­se des ge­sam­ten west­li­chen Ge­sell­schaft­sy­stems hin­weist. Vor­her wur­de kur­so­risch auf für die De­mo­kra­tie teil­wei­se weit be­droh­li­che­re Ent­wick­lun­gen in Öster­reich, der Schweiz oder Ita­li­en hin­ge­wie­sen (ins­be­son­de­re was den Rechts­po­pu­lis­mus an­geht). Wenn es sich je­doch um ei­ne um­fas­sen­de Kri­se des west­li­chen po­li­ti­schen (und/oder öko­no­mi­schen) Sy­stems han­delt (wo­für ei­ni­ges spricht) bleibt die Fra­ge, war­um von Lucke in die­sem Buch der­art im­per­ti­nent auf spe­zi­fisch bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Be­son­der­hei­ten re­kur­riert.

Und ei­nen we­sent­li­chen Punkt für die Kri­se der De­mo­kra­tie über­sieht von Lucke. Be­reits 1992 kon­sta­tier­te Ri­chard von Weiz­säcker: »Wir le­ben in ei­ner De­mo­sko­pen­de­mo­kra­tie. Sie ver­führt die Par­tei­en da­zu, in die Ge­sell­schaft hin­ein­zu­hor­chen, dort die er­kenn­ba­ren Wün­sche zu er­mit­teln, dar­aus ein Pro­gramm zu ma­chen, die­ses dann in die Ge­sell­schaft zu­rück­zu­fun­ken und sich da­für durch das Man­dat für die näch­ste Le­gis­la­tur­pe­ri­ode be­loh­nen zu lassen…Und es han­delt sich um ei­nen Kreis­lauf, bei dem die po­li­ti­sche Auf­ga­be der Füh­rung und Kon­zep­ti­on zu kurz kommt. Es ist ein Zu­sam­men­spiel von Schwä­chen de­rer, die die Man­da­te su­chen, und je­ner, die sie er­tei­len.«

In­zwi­schen wer­den in den Mas­sen­me­di­en al­le vier­zehn Ta­ge Um­fra­gen zu al­len mög­li­chen The­men ver­brei­tet und aus­gie­big dis­ku­tiert. Die Ge­fahr der Aus­rich­tung der Po­li­tik an ei­ne mo­men­tan de­mo­sko­pisch (schein­bar) mehr­heits­fä­hi­ge Stim­mungs­la­ge, die dann fälsch­lich mit Volks­nä­he ver­wech­selt wird, un­ter­höhlt lang­fri­stig das We­sen un­se­rer po­li­ti­schen Kul­tur. Die Par­tei­en tre­ten nicht mehr mit ih­rer Pro­gram­ma­tik in den Stim­men­wett­be­werb, son­dern bie­dern sich an den po­ten­ti­el­len Wäh­ler an. Auf­ga­be der kri­ti­schen Me­di­en, de­nen von Lucke ei­ne (arg pau­schal for­mu­lier­te) auf­klä­re­ri­sche Rol­le in sei­ner Dok­trin ei­ner In­te­gra­ti­on durch Kri­tik (na­tur­ge­mäß) zu­ge­steht, müss­te mit ei­ner im Dis­kurs zu fin­den­den jour­na­li­sti­schen Ver­ant­wor­tungs­ethik de­fi­niert wer­den. Die Me­di­en soll­ten we­ni­ger sen­sa­ti­ons­af­fin agi(ti)eren und nicht je­de Ver­wer­fung zum ul­ti­ma­ti­ven »Skan­dal« auf­bla­sen, son­dern dem Bür­ger die Mög­lich­keit bie­ten, aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Un­mün­dig­keit zu ent­kom­men. Lei­der trägt das vor­lie­gen­de Buch hier­zu nur sehr be­grenzt bei.


Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

16 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Dan­ke! An die­ser Stel­le sa­ge ich ein­mal ein gro­ßes Dan­ke für Ihr En­ga­ge­ment, mit dem Sie uns Le­se­rin­nen und Le­sern Bü­cher vor­stel­len. Um die­se ak­tu­el­le Buch­vor­stel­lung in Pa­pier­form nach­le­sen zu kön­nen, ha­be ich sie in ein Word-Do­ku­ment ko­piert und da­bei fest­ge­stellt, es han­delt sich um sie­ben Sei­ten. Sie­ben Sei­ten, in die Ih­re En­er­gie, Ih­re Zeit und ih­re jah­re­lan­ge Er­fah­rung ein­ge­flos­sen sind. Da­bei den­ke ich auch an ei­nen Freund, der ei­nen 300 Sei­ten star­kes Fach­buch über Heil­kräu­ter her­aus­ge­bracht. 18 Jah­re an Re­cher­che­ar­beit sind da hin­ein­ge­flos­sen, 18 Jah­re Le­bens­zeit. Ich er­wäh­ne das, weil es dar­auf auf­merk­sam macht, wie viel un­sicht­ba­re Ar­beit hin­ter ge­schrie­be­nen Sei­ten steht. Die sie­ben Sei­ten ih­rer Buch­vor­stel­lung sind nur ein sicht­ba­rer Bruch­teil ih­rer Ar­beit.
    – Und an die­ser Stel­le möch­te ich Ih­re Ar­beit wür­di­gen und Ih­nen da­für dan­ken. Für mich sind Ih­re Buch­vor­stel­lun­gen in­ter­es­san­ter zu le­sen, als mir die Bü­cher zu le­sen er­schei­nen, die Sie vor­stel­len.

  2. Ich stim­me mit Ro­sen­herz voll­kom­men
    was fuer ein Sel­ten­heit von mir mit je­man­dem »voll­kom­men« ueber­ein­zu­stim­men – in sei­ner Be­ur­tei­lung wie schoen und ge­wis­sen­haft der Keu­sch­nig das al­les macht.

  3. Dan­ke. Wie die Ab­stim­mun­gen zei­gen, ist das In­ter­es­se höchst »se­lek­tiv« (um es freund­lich zu in­for­mie­ren) – der Be­darf scheint nicht hoch zu sein. Ich glau­be nach wie vor, dass es mit der Qua­li­tät der Tex­te zu­sam­men­hängt, die nur sehr sehr we­ni­ge Leu­te.

    Ich glau­be nicht an den Mas­sen­ge­schmack. Nicht al­les, was sich gut ver­kauft bzw. was re­gen Zu­spruch hat, ist gut. (Es ist vor al­lem des­we­gen nicht gut.) Aber al­les was gut ist, hat ir­gend­wann ent­spre­chen­den Zu­spruch. Nicht al­le Best­sel­ler sind gut, aber gu­te Bü­cher wer­den ir­gend­wann Best­sel­ler. Das gilt für elek­tro­ni­sche Me­di­en in der Ana­lo­gie noch viel mehr.

  4. Die Sta­bi­li­tät der al­ten Bun­des­re­pu­blik wird wohl vor al­lem auf zwei Säu­len ge­ruht ha­ben: Dem kon­ti­nu­ier­li­chen Wachs­tum des Wohl­stan­des und dem Blick über die Mau­er bzgl. der Al­ter­na­ti­ve. Bei­de Ge­wiss­hei­ten sind jetzt weg. Es ist die Fra­ge, wie es jetzt wei­ter­geht. Es könn­te tat­säch­lich so sein, dass die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des west­li­chen Ge­sell­schafts­mo­dells der De­mo­kra­tie auf der Ga­ran­tie des wach­sen­den Wohl­stands­ni­veaus be­ruht und an­de­ren­falls sei­ne At­trak­ti­vi­tät ver­liert. Es ist aber nicht klar, was Ur­sa­che und was Wir­kung ist. Al­so ob z.B. ei­ne po­li­ti­sche Dik­ta­tur zu wirt­schaft­li­cher Sta­gna­ti­on führt oder Sta­gna­ti­on ei­ne Dik­ta­tur her­vor­bringt oder sich bei­des wech­sel­sei­tig be­stärkt.

  5. Ja, ich muss ge­ste­hen, dass ich die »Bi­po­la­ri­tät«, al­so den »Sy­stem­ver­gleich« als kon­sti­tu­ie­rend für die Bun­des­re­pu­blik bis­her un­ter­schätzt hat­te, was wohl ei­ge­ner Nai­vi­tät ge­schul­det ist/war, denn ich hät­te mir ei­ne Zeit­lang durch­aus (in ziem­li­cher Un­kennt­nis der tat­säch­li­chen Ver­hält­nis­se) auch vor­stel­len kön­nen, in der DDR zu le­ben.

    Wenn die Ak­zep­tanz der De­mo­kra­tie tat­säch­lich so stark an (wirt­schaft­li­chen) Wohl­stand ge­kop­pelt ist und in (ver­meind­li­chen) Kri­sen­zei­ten so schnell ver­schwin­det, dann wä­re dies fa­tal. Zu­mal in­zwi­schen ei­ne Ge­ne­ra­ti­on als (po­li­ti­sche aber auch wirt­schaft­li­che) Ent­schei­dungs­trä­ger agiert, die die Vor­tei­le ei­ner plu­ra­li­sti­schen Ge­sell­schaft als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­setzt.

    Dei­ne Fra­ge bzgl. der Dik­ta­tur vs. Sta­gna­ti­on stellt sich m. E. nicht. In Chi­na gibt es stren­ge po­li­ti­sche Di­ka­ta­tur, die voll auf die Kar­te des Ka­pi­ta­lis­mus ge­setzt hat. Sie droht so­gar ih­re Le­gi­ti­ma­ti­on in der Be­völ­ke­rung zu ver­lie­ren, wenn der »Fort­schritts­kreis­lauf« nicht auf­recht er­hal­ten wer­den kann.

    In Zei­ten der Kri­se ist/war im­mer die Ge­fahr po­li­ti­scher In­sta­bi­li­tät ge­ge­ben; der Wunsch, ei­ner sol­le doch bit­te al­les wie­der so schön wie frü­her ma­chen, ist ver­mut­lich ein in uns tief we­sen­des Ge­fühl. In die­se Rich­tung geht auch der Oba­ma-Kult in den USA, vor al­lem aber in Eu­ro­pa. Ei­ne Sehn­sucht nach ei­nem »gu­ten Dik­ta­tor« – ei­gent­lich ein Wi­der­spruch in sich.

  6. Du kannst Recht ha­ben, dass das Mo­dell Diktatur/Demokratie – Wirt­schafts­wachs­tum et­was zu ein­fach ist. Aber viel­leicht muss man nur den Fak­tor »Nach­hal­tig­keit« noch hin­zu neh­men. Wenn man ab­zieht, was Chi­na jetzt an sei­ner Zu­kunft ver­früh­stückt (Stich­wor­te Um­welt­ver­schmut­zung und De­mo­gra­fie), dann bleibt viel­leicht über­haupt kein ech­tes Wirt­schafts­wachs­tum mehr üb­rig!?

    Und man könn­te die The­se auch so for­mu­lie­ren, dass sie nur in ei­ner Rich­tung gilt: Wirt­schafts­wachs­tum ist ei­ne not­wen­di­ge, aber kei­ne hin­rei­chen­de Vor­aus­set­zung für die Exi­stenz von (west­li­cher) De­mo­kra­tie. Dann sieht es für de­ren Fort­exi­stenz noch trü­ber aus.

    Was häu­fig auch ver­nach­läs­sigt wird, ist die (an­thro­po­lo­gi­sche) Ten­denz des Men­schen, in sta­bi­len Hir­ar­chien zu le­ben und sein Si­cher­heits­be­dürf­nis er­füllt zu wis­sen. Ob De­mo­kra­tie die­se Be­dürf­nis­se auf Dau­er bes­ser be­frie­di­gen kann als an­de­re Mo­del­le, kann man wahr­schein­lich nicht theo­re­tisch be­wei­sen.

    Das west­li­che Mo­dell ist nur 200 Jah­re alt und nur auf ge­schätzt ei­nem Drit­tel der mo­der­nen Welt er­folg­reich. Im ge­sam­ten Rest der Ge­schich­te und der Welt do­mi­nie­ren Struk­tu­ren, wo sich die An­füh­rer ih­re Pri­vi­le­gi­en mit Ge­walt er­obert ha­ben und ver­tei­di­gen. Die­se Struk­tu­ren sind hin­rei­chend sta­bil, wenn sich die An­füh­rer gut ge­nug um die Be­dürf­nis­se ih­rer Un­ter­ta­nen küm­mern und ih­re Pri­vi­le­gi­en nicht über Ge­bühr miss­brau­chen.

  7. D’­ac­cord
    Ich glau­be ja, dass ne­ben dem »Wohl­stand« auch das Si­cher­heits­den­ken den Leu­ten die De­mo­kra­tie in Deutsch­land schmack­haft ge­macht hat. Das wird viel zu sehr un­ter­schätzt bzw. mit­ein­an­der ver­mengt. Die Hier­ar­chie nahm man an (in Kauf), so lan­ge das Ver­spre­chen lau­te­te: im­mer ein biss­chen bes­ser – und der Staat ist zur Not im­mer noch da.

    In­so­fern wa­ren die Po­si­tio­nen in der BRD und der DDR nicht sehr weit aus­ein­an­der (auch un­ter CDU-Re­gie­run­gen!). Ich glau­be, dass das, was vie­le De­mon­stran­ten in der DDR 1989 mit »Frei­heit« sub­sum­mier­ten, teil­wei­se we­nig­stens ein fun­da­men­ta­les Miss­ver­ständ­nis war. Die »Frei­heit« gibt es erst seit ver­stärkt seit En­de der 90er Jah­re: Bei­spiels­wei­se die Qua­si-Kom­mer­zia­li­sie­rung des Ge­sund­heits­we­sens (an­de­res [Grund­ver­sor­gung] woll­te man von po­li­ti­scher Sei­te den Leu­ten nicht zu­mu­ten) oder die Im­ple­men­tie­rung der »Hartz«-Reformen. Nur die­se Form von Frei­heit woll­ten sie na­tür­lich nicht.

    Die­ses Ab­rücken des »Rund­um-Sorg­los-Staa­tes« hat­ten die Skan­di­na­vi­er da schon hin­ter sich – merk­wür­di­ger­wei­se oh­ne die Sy­stem­fra­ge zu stel­len.

    Ich glau­be nicht, dass wir auf Dau­er ei­ne De­mo­kra­tie, wie wir sie heu­te ver­ste­hen, er­hal­ten kön­nen, wenn wir nicht über Stan­dards auch im po­li­ti­schen Le­ben dis­ku­tie­ren. Die­se Dis­kus­sio­nen sind (ähn­lich wie über die EU) merk­wür­di­ger­wei­se ta­bui­siert, weil man Ver­wer­fun­gen in­ner­halb der Ge­sell­schaft ver­mei­den will. Mit ei­ner Kanz­le­rin Mer­kel (aber auch – hy­po­the­tisch – Stein­mei­er) wird es sol­che Dis­kus­sio­nen nicht ge­ben. Bei­de sind schwa­che Po­li­ti­ker, die ih­re Po­li­tik nach (vir­tu­el­len) Um­fra­gen or­ga­ni­sie­ren. Mer­kel hat das im letz­ten Wahl­kampf (mit dem »Hei­del­ber­ger Pro­fes­sor«) an­ders ver­sucht – und wä­re fast ge­schei­tert. Der Schock sitzt ihr heu­te noch in den Glie­dern. Stein­mei­er ist (zu­sam­men mit Stein­brück) der letz­te Mo­hi­ka­ner der Schrö­der-SPD; da ist auch nichts Pro­gram­ma­ti­sches zu er­war­ten.

    Der po­li­ti­schen Klas­se in Deutsch­land fehlt es an Zu­kunfts­per­spek­ti­ven, die über das nor­ma­le Mass an Le­gis­la­tur­den­ken hin­aus ge­hen. Und ih­nen fehlt es Köp­fen.

  8. Ri­chard von Weiz­säcker for­mu­lier­te 1992 im In­ter­view mit den Jour­na­li­sten Wer­ner A. Per­ger und Gun­ter Hof­mann ei­ne »Art von Vor­teils­auf­tei­lung zwi­schen Po­li­tik und Ge­sell­schaft. In der Ge­sell­schaft steht die Er­hal­tung ma­te­ri­el­ler Vor­tei­le im Vor­der­grund. Im po­li­ti­schen Sy­stem do­mi­niert die Kunst des Par­tei­en­kampfs un­ter­ein­an­der. Es geht…um Wohl­stands­er­hal­tung ge­gen Macht­er­hal­tung.« Von ei­nem »stil­len Kon­sens zwi­schen Öf­fent­lich­keit und Par­tei­en« moch­te von Weiz­säcker zwar nicht spre­chen. Die Ge­fahr sei je­doch, so der da­ma­li­ge Bun­des­prä­si­dent, dass »bei­de Sei­ten der stän­di­gen Ver­su­chung [er­lie­gen] auf Ko­sten der Zu­kunft zu le­ben, um sich die Ge­gen­wart zu er­leich­tern«.

    Ich ver­ste­he das Wohl­stands­er­hal­tung ge­gen Macht­er­hal­tung nicht. Wie­so ge­gen?

    Be­zieht sich von Lucke ir­gend­wo auf em­pi­ri­sche Da­ten, die für De­mo­kra­tie­ver­fall spre­chen (könn­ten)?

    Die Ge­fahr der Aus­rich­tung der Po­li­tik an ei­ne mo­men­tan de­mo­sko­pisch (schein­bar) mehr­heits­fä­hi­ge Stim­mungs­la­ge, die dann fälsch­lich mit Volks­nä­he ver­wech­selt wird, un­ter­höhlt lang­fri­stig das We­sen un­se­rer po­li­ti­schen Kul­tur.
    Wur­de das »dem Volk aufs Maul schau­en« je­mals nicht prak­ti­ziert? Ist das nicht bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad de­mo­kra­tie­im­ma­nent (ich glau­be wir ha­ben das schon ein­mal dis­ku­tiert)?

  9. Wohl­stands­er­hal­tung ge­gen Macht­er­hal­tung
    »Ge­gen« im Sin­ne ei­nes Deals: Wa­re »ge­gen« Geld...

    Na­tür­lich ist es im­ma­nent, dem »Volks aufs Maul« zu schau­en, wo­bei de­fi­niert ge­hört, was das be­deu­tet. Es kann – mei­nes Er­ach­tens – nicht be­deu­ten, per se al­le Strö­mun­gen und Af­fek­te auf­zu­neh­men und in sein po­li­ti­sches Pro­fil zu in­te­grie­ren. Wir hät­ten dann un­ter ge­wis­sen Um­stän­den ganz schnell so et­was wie die To­des­stra­fe wie­der oder den Aus­tritt aus der EU (bei­des zu­ge­ge­be­ner­ma­ssen ex­tre­me Bei­spie­le).

    Wir hat­ten die Dis­kus­si­on schon ein­mal (beim Möl­lers): Ei­ne Po­li­tik, die sich aus­schliess­lich auf po­pu­li­sti­sche Strö­mun­gen kon­zen­triert, ver­liert auf lan­ge Sicht Glaub­wür­dig­keit. Sie muss na­tür­lich ei­ne Syn­the­se bzw. ei­nen Kom­pro­miss fin­den, sie darf den Kom­pro­miss aber nicht be­reits in ih­rer Pro­gram­ma­tik ein­bau­en.

    Ab­schreckend wirkt da­bei der deut­sche Bun­des­tags­wahl­kampf 2005. Als der »Pro­fes­sor aus Hei­del­berg« (Kirch­hof) sein Steu­er­mo­dell vor­schlug und da­mit in Mer­kels Wahl­kampf­team ein­trat, wur­de ihr dies mit ei­nem ex­trem schlech­ten Er­geb­nis ver­gol­ten: Die Leu­te wur­den von dem wirt­schafts-li­be­ra­len Pro­gramm ab­ge­schreckt; al­le Wahl­pro­gno­sen (die teil­wei­se von 40% und mehr spra­chen) wa­ren falsch (es gab 35,2%).

    Von Lucke gibt kei­ne em­pi­ri­schen Da­ten; er ist Nost­al­gi­ger, da »zählt« das »Ge­fühl«.

  10. De­mo­kra­tie kann be­deu­ten, dass das ge­tan wird, was die Mehr­heit be­fin­det, bes­ser: vor­schlägt (al­so in die Rich­tung dei­ner bei­den Bei­spie­le). Oder, dass die All­ge­mein­heit über Vor­schlä­ge von Po­li­ti­kern be­fin­det (ab­stimmt). In un­se­ren De­mo­kra­tien gibt es ein Mit­tel­ding: Po­li­ti­ker ma­chen Vor­schlä­ge, wenn die nicht gut an­kom­men, gibt es neue, oder ver­än­der­te (wie im Wahl­kampf 2005, den Du an­sprichst).

    Der Vor­teil über Vor­schlä­ge von Spe­zia­li­sten (Po­li­ti­kern usw.) ab­zu­stim­men, liegt dar­in (kann dar­in lie­gen), dass sie mehr Zeit und Wis­sen in die­se Vor­schlä­ge stecken kön­nen, als der Bür­ger, dem dann die Auf­ga­be zu­fällt, die Vor­schlä­ge nach­zu­voll­zie­hen und zu be­wer­ten. Zu letz­te­ren be­nö­tigt man aber wie­der Wis­sen und Zeit, wahr­schein­lich aber we­ni­ger, als zur Ent­wick­lung der Vor­schlä­ge. Ein Pro­blem ist, dass un­ter Um­stän­den und aus be­stimm­ten Grün­den, man­che Vor­schlä­ge gar nicht ge­macht wer­den.

  11. Dass wir über Vor­schlä­ge (= Pro­gram­ma­tik) ein­zel­ner Po­li­tik­fel­der ab­stim­men, ist sel­ten (gibt es in Volks­ent­scheid­de­mo­kra­tien wie der Schweiz viel­leicht). Meist be­kom­men wir ei­nen Cock­tail vor­ge­setzt, der dann ent­we­der zu ak­zep­tie­ren oder ab­zu­leh­nen ist.

    Schlimm wird es dann, wenn Par­tei X mit der Pro­gram­ma­tik X1, X2 und X3 und Par­tei Y mit Y1, Y2, Y3 ei­ne »gro­sse Ko­ali­ti­on« ein­ge­hen und statt X1 oder Y1 oder XY1 dann Z be­schlie­ssen. Sie stel­len die Ko­ali­ti­ons­struk­tur über ih­re Pro­gram­ma­tik, denn viel­leicht hät­te sich mit Par­tei A und B ja X1 oder Y1 mit ge­rin­gen Va­ria­tio­nen durch­set­zen las­sen.

    Öster­reich ist da m. E. ein ab­schrecken­des Bei­spiel; ich fän­de es fa­tal, wenn nach der Wahl im Sep­tem­ber in Deutsch­land wie­der nur die »gro­sse Ko­ali­ti­on« (mit viel­leicht nur 58–60%) mög­lich wä­re. Zu­mal die FDP über die Län­der­ver­tre­tung Bun­des­rat und zahl­rei­chen Ko­ali­tio­nen mit der CDU auch noch »im Boot« sä­sse. Man könn­te zu dem Ge­dan­ken kom­men, dass ei­ne CDU/C­SU/FDP-Ko­ali­ti­on im Bund un­ab­hän­gig ob man in der Pro­gram­ma­tik der Par­tei­en zu­stimmt, bes­ser wä­re als der sta­tus quo.

    In­ter­es­sant ist es, war­um be­stimm­te Vor­schlä­ge po­li­tisch nicht ar­ti­ku­liert wer­den. Mei­nes Er­ach­tens gibt es da­für zwei Grün­de:

    1. Der Vor­schlag ist zwar sach­lich rich­tig, aber un­po­pu­lär, ko­stet Stim­men und so­mit die Macht.

    2. Man be­fragt den Bür­ger nicht, weil man das Ur­teil fürch­tet (bei­spiels­wei­se EU) und zieht das lie­ber oh­ne gro­sse Dis­kus­si­on »durch«.

    Bei­des zeugt von tie­fer Skep­sis dem ge­gen­über, was man De­mo­kra­tie nennt. Das Ver­hal­ten zu 1 ist op­por­tu­ni­stisch, zu 2 pa­ter­na­li­stisch. Bei­des ent­bin­det die Po­li­tik von dem, was man Dis­kurs nennt.

  12. Na­ja, Na­tio­nal­rats-/Bun­des­tags­wah­len sind schon mit Vor­schlä­gen ge­kop­pelt, aber die­se eben ge­bün­delt (wohl das was Du mit Cock­tail be­zeich­nest). Das Al­ler­übel­ste an gro­ßen Ko­ali­tio­nen ist, dass al­les, und zwar wirk­lich al­les, un­ter­ein­an­der und un­ter dem Ge­sichts­punkt von Macht bzw. Ein­fluss ge­teilt wird.

    ad 1: Wo­zu man na­tür­lich den Wi­der­stand aus den ei­ge­nen Rei­hen hin­zu­zäh­len muss.

    ad 2: Hier müss­ten Me­di­en und Jour­na­li­sten kor­ri­gie­rend ein­grei­fen und das The­ma dis­ku­tie­ren und da­mit ins öf­fent­li­che Be­wusst­sein rücken – mit Schwei­gen tä­te man sich dann schon viel schwe­rer. Pas­siert ist es im Hin­blick auf die EU aber nicht.

  13. Jour­na­li­sten
    Hier müss­ten Me­di­en und Jour­na­li­sten kor­ri­gie­rend ein­grei­fen und das The­ma dis­ku­tie­ren und da­mit ins öf­fent­li­che Be­wusst­sein rücken
    Wie wahr. Al­lei­ne: Mei­ne Wahr­neh­mung sagt, dass die­ses the­ma­ti­sche Auf­grei­fen zu­neh­mend in den Hin­ter­grund ge­rät und im­mer mehr in­ner­frak­tio­nel­le bzw. in­ner­ko­ali­tio­nä­re Strei­tig­kei­ten, die an Per­so­nen fest­mach­bar sind und sich so­mit wun­der­bar jour­na­li­stisch auf­be­rei­ten las­sen in den Vor­der­grund rücken.

    Ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem ei­gent­li­chen The­ma fin­det im­mer we­ni­ger statt. Das hat auch dar­in den Grund, dass Jour­na­li­sten der Kom­ple­xi­tät der Er­eig­nis­se bzw. des The­mas oft ge­nug nicht mehr ge­wach­sen sind (was sie mit den Po­li­ti­kern oft ver­bin­det) und dann lie­ber auf die Me­ta-Ebe­ne aus­wei­chen. Das gilt na­tür­lich ins­be­son­de­re für die The­ma­tik um die EU. Aber auch um­welt­po­li­ti­sche oder öko­no­mi­sche The­men wer­den auf ziem­lich nied­ri­gem Ni­veau dis­ku­tiert. Ich ha­be in­zwi­schen den Ein­druck, dass die Me­di­en die Po­li­tik fast zwingt im­mer mehr in schlag­wort­ar­ti­gen Pa­ro­len aus­zu­wei­chen. Das wird dann wie­der als mei­nungs­bil­den­de Trans­pa­renz ver­kauft. Ei­ne Spät­fol­ge von »Bild«-(bzw. »Kronen«-)Zeitung. Dem po­ten­ti­el­len Wäh­ler wird da­mit häu­fig ein Kennt­nis­stand sug­ge­riert, der gar nicht exi­stiert. Aber er darf dann bei On­line-Um­fra­gen (se­riö­ser) Me­di­en­por­ta­le ab­stim­men, ob der Chef der Deut­schen Bahn nun ge­hen soll oder nicht.

  14. Selbst­kri­ti­scher könn­te man an­mer­ken, dass das auch Sa­che der Blog­ger ist (zu­sätz­lich, nicht statt der Journalisten/Medien).

    Der eu­ro­päi­sche Ver­fas­sungs­ver­trag ist ver­flixt kom­pli­ziert, und vie­les an­de­re auch ... das könn­te Me­di­en be­gün­sti­gen, die sich Zeit neh­men (kön­nen) und nicht täg­lich er­schei­nen (müs­sen), al­so z.B. Wo­chen- oder Mo­nats­zei­tun­gen. Zu­min­dest ent­sprä­che das mei­nen Le­se­ge­wohn­hei­ten: Die all­täg­li­chen In­for­ma­tio­nen (al­so was pas­siert) be­kommt man oh­ne­hin aus dem Netz (oder al­ter­na­ti­ven Quel­len wie Ra­dio oder Fern­se­hen), und auf Pa­pier das was man in Ru­he le­sen will, wo­für man sich Zeit nimmt, und das auch ent­spre­chend ge­stal­tet ist (sehr lan­ge Ar­ti­kel le­se ich nach wie vor nicht ger­ne auf dem Bild­schirm).

    Man konn­te das was Du be­schreibst bei uns un­längst in der Dis­kus­si­on um den Grü­nen Spit­zen­kan­di­da­ten Vog­gen­hu­ber (EU-Wahl) se­hen.

  15. @Metepsilonema
    Die Vog­gen­hu­ber-Sa­che ha­be ich nur am Ran­de ver­folgt; ich glau­be, da spie­len auch die Macht­kämp­fe in­ner­halb der öster­rei­chi­schen Grü­nen mit hin­ein. In Deutsch­land sind die Grü­nen ja auch nach au­ssen enorm »ba­sis­de­mo­kra­tisch«, in Wirk­lich­keit je­doch durch­aus auch ein In­tri­gen- und Macht­ver­ein (mensch­lich halt). Bei der deut­schen Links­par­tei wur­den auch die kri­ti­schen, aber pro-eu­ro­päi­schen Kan­di­da­ten für das Eu­ro­pa­par­la­ment aus­ge­bremst bzw. gar nicht mehr auf­ge­stellt.

    Na­tür­lich ist der Lis­sa­bon-Ver­trag kom­pli­ziert, aber – und da stim­me ich Dir zu – hier­in könn­te ja auch ei­ne Her­aus­for­de­rung für die Me­di­en lie­gen. Oft ge­nug ist das Ge­gen­teil der Fall.

    Dein em­pha­ti­sches Ur­teil den Blog­gern ge­gen­über ver­mag ich so nicht zu tei­len. Mei­ne Er­fah­rung (ge­ra­de mit den gän­gi­gen The­men wie EU- bzw. Lis­sa­bon-Pro­ble­ma­tik oder auch bei den im­mer wie­der auf­flam­men­den Nah­ost-Krie­gen): Sehr sehr viel Stamm­tisch­ge­n­öle, wel­ches mit Pseu­do­ar­gu­men­ten un­ter­füt­tert wird (ich könn­te ei­ni­ge Bei­spie­le zum Ir­land-Nein an­brin­gen, las­se das aber). Vie­le Blog­ger su­chen so lan­ge im Netz, bis sie ih­re Mei­nung ei­ni­ger­ma­ssen wie­der­ge­ge­ben se­hen und be­zie­hen sich dann dar­auf, wo­bei sie – und das wer­fe ich ih­nen vor – kei­ner­lei Ge­gen­ar­gu­ment zu­las­sen und/oder dies so­fort de­nun­zie­ren. Sie re­du­zie­ren häu­fig ge­nug die Welt auf schwarz oder weiss, und ver­wech­seln ei­ne Po­si­ti­on zu ha­ben mit Ideo­lo­gie.

  16. Na­tür­lich war das ein Macht­kampf, und selbst­ver­ständ­lich soll das Platz in den Me­di­en ha­ben, al­ler­dings glau­be ich kaum, dass es ein EU-re­le­van­tes The­ma gibt, dem die­sel­be Auf­merk­sam­keit zu teil wird.

    Was die Blog­ger an­geht, sind die­se doch Staats­bür­ger wie Nicht­blog­ger, und da­mit – wenn nicht verpflichtet‑, so doch durch­aus in der La­ge auch selbst auf In­for­ma­ti­ons­su­che zu ge­hen, und Dis­kus­si­on an­zu­sto­ßen. Es ist wohl­feil nur Me­di­en und Jour­na­li­sten zu kri­ti­sie­ren (das geht na­tür­lich nicht an Dich), man muss die For­de­rung auch (in ei­nem ge­wis­sen Maß) an sich selbst wen­den.