Re­ne­ga­ten un­er­wünscht

Bu­che­li vs Wei­der­mann – der Aus­gang steht lei­der fest.

Als ich Ro­man Bu­che­lis Ar­ti­kel »Ein Le­ben nach dem Pa­pier« über die »Li­te­ra­tur­kri­tik un­ter Druck« vor ei­ni­gen Wo­chen las, über­leg­te ich mir, ob es ei­ne Re­ak­ti­on aus dem Feuil­le­ton ge­ben wird. Im All­ge­mei­nen re­agiert das eta­blier­te Feuil­le­ton auf Kri­tik mit der wir­kungs­voll­sten Waf­fe, die man zur Ver­fü­gung hat: Man igno­riert sie. Der all­seits so be­schwo­re­ne Dis­kurs gilt nur in ei­nem her­me­ti­schen Raum. Selbst­re­fle­xi­on ist dort eher nicht vor­ge­se­hen. Statt­des­sen igelt man sich lie­ber ein und ver­kün­det trot­zig auf dem rich­ti­gen Kurs zu sein. Al­len­falls wird noch sin­ken­de die fi­nan­zi­el­le Aus­stat­tung mo­niert. Das zu­rück­ge­hen­de In­ter­es­se beim (po­ten­ti­el­len) Pu­bli­kum wird als Kul­tur- und Zeit­geistkritik be­han­delt. Ins­be­son­de­re wenn es um das In­ter­net­an­ge­bot von Ta­ges- oder Wochen­zeitungen geht, ist die Pu­bli­kums­be­schimp­fung fast im­mer der Weis­heit letz­ter Schluss.

So weit, so gut. Bu­che­lis Ar­ti­kel war aber das Ge­gen­teil der sonst üb­li­chen Lar­moy­anz. Er be­ginnt mit ei­ne nüch­ter­nen, ja er­nüch­tern­den Be­stands­auf­nah­me: »Re­dak­tio­nen kön­nen, um es zu­ge­spitzt aus­zu­drücken, ge­nau je­ne Zei­tung pro­du­zie­ren, die der Wer­be­markt zu­lässt.« Zu ab­hän­gig sei man von An­zei­gen vor al­lem der gro­ßen Ver­la­ge, so sug­ge­riert er. Al­so müs­se man auch die be­wor­be­nen Bü­cher re­zen­sie­ren. Da­bei be­schreibt er den Re­zen­sen­ten als »hybride[s] We­sen« und »Die­ner ver­schie­de­ner Her­ren« – Ver­la­ge, Au­toren, Re­dak­ti­on, Le­ser­schaft: al­le wol­len et­was von ihm (ihr), aber die In­ter­es­sen sind nicht nur di­ver­gie­rend, sie wi­der­spre­chen sich un­ter Um­stän­den so­gar. Da aber die öko­no­mi­schen Zwän­ge do­mi­nant wer­den, wird die Re­zen­si­on am En­de als ei­ne Art »Gra­tis­wer­bung« an­ge­se­hen – selbst ein def­ti­ger Ver­riss ist ger­ne ge­se­hen. Für Tie­fe ge­be es we­der Zeit noch Raum im Blatt.

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Bjar­te Breit­eig: Phan­tom­schmer­zen

Bjarte Breiteig: Phantomschmerzen
Bjar­te Breit­eig: Phan­tom­schmer­zen

Vor knapp drei Jah­ren pu­bli­zier­te der öster­rei­chi­sche Luft­schacht-Ver­lag sie­ben no­vel­len­ar­ti­ge Er­zäh­lun­gen des 1974 ge­bo­re­nen Nor­we­gers Bjar­te Breit­eig un­ter dem Ti­tel »Von nun an«, die 2006 in sei­nem Hei­mat­land er­schie­nen wa­ren. Es sind zum Teil sur­rea­le, im be­sten Sin­ne »selt­same«, oft ver­rät­sel­te und sich für den Le­ser kaum end­gül­tig er­schlie­ßen­de Er­zäh­lun­gen, die un­ge­ach­tet die­ser viel­leicht eher ab­schrecken­den At­tri­bu­te ih­ren ei­ge­nen Zau­ber und zu­wei­len ei­nen star­ken Sog er­zeu­gen. Jetzt legt der Ver­lag mit dem Band »Phan­tom­schmer­zen« nach. Hier fin­den sich auf knapp 130 Sei­ten 15 Er­zäh­lun­gen.

Was so­fort zum Ver­gleich auf­fällt: Die Qua­li­tät der ein­zel­nen Er­zäh­lun­gen dif­fe­riert stär­ker als in »Von nun an«. Ei­ni­ge spie­len mal mehr, mal we­ni­ger of­fen mit my­sti­schen Ele­men­ten, die meist de­zent hin­ein­ap­pli­ziert sind und ge­le­gent­lich ei­nen Kon­trast zur er­zähl­ten Geschich­te bil­den. So wird zum Bei­spiel in »Der Wind in den Wän­den« Ger­brand-Bak­ker-ge­mäss der Tod ei­nes dop­pel­köp­fi­gen Kal­bes auf ei­nem Bau­ern­hof, das ein nicht nä­her be­schrie­be­ner Jun­ge al­lei­ne zu be­treu­en hat, er­zählt. Wäh­rend­des­sen ist sein Va­ter bei der schein­bar schwer­kran­ken Mut­ter im Hos­pi­tal. Das Kälb­chen kommt als Tot­ge­burt auf die Welt und wird vom Jun­gen mit ei­ni­ger Kraft­an­stren­gung be­gra­ben. Als der Va­ter spä­ter ein­trifft, wird un­aus­ge­spro­chen der Tod der Mut­ter als so­zu­sa­gen par­al­le­les Er­eig­nis sug­ge­riert. Noch ein­mal, in »Klei­ne Brü­der«, spielt ei­ne nicht nä­her be­zeich­ne­te Krank­heit ei­ner Mut­ter ei­ne Rol­le, wäh­rend Arn­stein, ein klei­ner Jun­ge und of­fen­sicht­lich ihr Sohn, im Kran­ken­haus mit ei­nem klei­nen Mäd­chen spielt und nur sehr dif­fus ahnt, wes­we­gen er in die­sem Ge­bäu­de ist und was sich dort er­eig­net.

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Rai­ner Ra­bow­ski: Hal­te­stel­len

Rainer Rabowski: Haltestellen
Rai­ner Ra­bow­ski: Hal­te­stel­len
In ei­ner Be­spre­chung zu Bo­tho Strauß’ neu­em Buch hör­te ich nach län­ge­rer Zeit wie­der ein­mal die Be­zeichnung »psy­cho­lo­gi­scher Rea­lis­mus«, mit der der Re­zen­sent die Er­zäh­lun­gen Strauß’ ein­ord­nen und in ei­ne Rei­he bei­spiels­wei­se mit de­nen von Tho­mas Mann stel­len woll­te. Trotz der zwangs­läu­fig feh­len­den Präzi­sion sol­cher ei­gent­lich zu pau­scha­len Zu­schrei­bun­gen, die zu­dem oft nur Ver­le­gen­heits­lö­sun­gen sind, fän­de ich die­se Be­zeich­nung in Be­zug auf die Er­zäh­lun­gen von Rai­ner Ra­bow­ski als er­ste Ein­schät­zung durch­aus zu­tref­fend. Viel­leicht liegt es auch dar­an, dass mir ins­be­son­de­re bei der Lek­tü­re von »Un­se­re Sa­che« ne­ben den Par­al­le­len zu Strauß’ Be­ginn­lo­sig­keits-Pro­sa durch­aus auch ein psy­cho­lo­gi­sches Ele­ment prä­sent war.

Da­bei geht es Ra­bow­ski al­ler­dings we­der um den Ver­such kü­chen­psy­cho­lo­gi­scher Per­sön­lich­keits­dia­gno­sen der An­de­ren noch wird von der War­te ei­ner wie auch im­mer emp­fun­de­nen Er­ha­ben­heit her­aus auf die Welt ge­blickt. Das sanf­te See­l­e­ner­kun­den, wel­ches in der Re­gel nur ein ge­nau­es Hin­schau­en und Be­ob­ach­ten ist, wird zu­meist nur als Aus­gangs­punkt für ei­ne Selbst­psy­cho­lo­gi­sie­rung ge­nom­men, die durch­aus – und hier liegt der ent­schei­den­de Mehr­wert bei­spiels­wei­se zur In­ner­lich­keits­pro­sa der 1970er Jah­re aber auch dem Ge­wim­mer so man­cher Schreib­schul­ab­sol­ven­tIn­nen heu­te – auf Erkenntnis­gewinn über die Welt im All­ge­mei­nen zielt. Ra­bow­ski fügt dem »em­pi­ri­schen Kreis­lauf« von De­duk­ti­on und In­duk­ti­on die Selbst­re­fle­xi­on hin­zu. Und die­se fast un­ab­läs­sig for­cier­te Selbst­re­fle­xi­on un­ter­schei­det ihn dann deut­lich von Au­toren, die ih­re Fi­gu­ren nicht in den Ab­grund der Tie­fe und das »Schim­mern der Schlan­gen­haut« (Die­ter Wel­lers­hoff) wahr­neh­men und statt­des­sen eher aus (iro­ni­scher) Di­stanz er­zäh­len las­sen.

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Wil­liam T. Voll­mann: Eu­ro­pe Cen­tral

»…schöp­fe Kraft aus sei­nem Lei­den, und lass das Büch­lein dei­nen Freund sein,
wenn du aus Ge­schick oder ei­ge­ner Schuld kei­nen nä­hern fin­den kannst.«
(Jo­hann Wolf­gang Goe­the, »Die Lei­den des jun­gen Wert­her«)

William T. Vollmann. Europe Central
Wil­liam T. Voll­mann. Eu­ro­pe Cen­tral
Und wie­der so ein Ver­such. »Eu­ro­pe Cen­tral« prangt auf dem Co­ver – in Frak­tur, Druck­schrift und ky­ril­lisch. Zu ei­nem deut­schen Ti­tel hat es nach all der Ar­beit schein­bar nicht mehr ge­reicht. Ro­bin Det­je, der (Chef-)Über­setzer, er­wähnt in ei­ner klei­nen No­tiz man ha­be den Ori­gi­nal­ti­tel be­hal­ten wol­len (er sagt nicht war­um) und spricht von »Schalt­zen­tra­le Eu­ro­pa«, wie das Buch in Deutsch hät­te hei­ßen kön­nen. Aber »Schalt­zen­tra­le Eu­ro­pa« kommt nach dem er­sten Ka­pi­tel, wel­ches mit Sei­te 22 en­det, erst wie­der auf Sei­te 611 vor (oder ich ha­be es vor­her über­le­sen?) und steht wohl für das Schar­nier zwi­schen West- (Ber­lin) und Ost­eu­ro­pa (Mos­kau) von 1917 bis zum En­de des Ro­mans 1975 – und da­mit wohl für Ber­lin (ob­wohl es ein­mal, auf Sei­te 757, auch als Me­ta­pher für Dres­den ver­wandt wird). »Eu­ro­pe Cen­tral« wä­re dem­nach – ne­ben­bei – auch noch so et­was wie der gro­ße, neue, wie­auch­im­mer Ber­lin-Ro­man des 21. Jahr­hun­derts (min­de­stens; wenn nicht des Jahr­tau­sends). Wo­bei der Be­griff »Schalt­zen­tra­le« mit der (ge­schei­ter­ten) li­te­ra­ri­schen Me­ta­pher Voll­manns ver­knüpft ist, dem Buch als Te­le­fon­ab­hör­text ei­nen be­son­ders ori­gi­nel­len Über­bau zu ver­schaf­fen.

Der wei­he­vol­le Ton und die 785 Fuß- bzw. End­no­ten

Wie im­mer, wenn es sich um ein li­te­ra­ri­sches Er­zeug­nis um den Wahn­sinn des Zwei­ten Welt­kriegs han­delt, in dem mehr oder we­ni­ger ge­schickt in ei­nem post­mo­der­nen Va­rie­té-Thea­ter fik­ti­ve Fi­gu­ren mit hi­sto­ri­schen in­ter­agie­ren, über­schlägt sich die deut­sche Li­te­ra­tur­kri­tik mit Lob. »Über­wäl­ti­gend«, »li­te­ra­ri­sches High­light des Jah­res« und na­tür­lich auch wie­der die ob­li­ga­to­ri­sche Zu­schrei­bung »Mei­ster­werk« – so lau­ten die Hym­nen auf die­sen Ro­man und ich fra­ge mich un­will­kür­lich, wie vie­le die­ser Preis­sän­ger wohl das Buch (in­klu­si­ve der An­mer­kun­gen; hier­zu s. u.) über­haupt zur Gän­ze ge­le­sen ha­ben, aber da­für gibt es schließ­lich die vom Lek­to­rats­vo­lon­ta­ri­at ver­fer­tig­ten Wasch­zet­tel und Pres­se­tex­te.

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Stö­rung der Ge­müt­lich­keit

Über Mal­te Her­wigs »Die Flak­hel­fer« Seit vie­len Jah­ren treibt Mal­te Her­wig ein The­ma um: Die Ver­strickun­gen der so­ge­nann­ten Flak­hel­­fer-Ge­­ne­ra­ti­on in das NS-Re­­gime. Ob im »Spie­gel«, dem »Zeit-Ma­­ga­­zin«, im »stern« oder in »Deutsch­land­ra­dio Kul­tur« – im­mer wie­der über­rasch­te Her­wig mit Fun­den aus Ar­chi­ven, die das schein­bar Un­denk­ba­re doch be­le­gen: Et­li­che der­jenigen, die man (voll­kom­men zu Recht) ...

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Sieb­zig Ku­gel­schrei­ber

[Zum 100. Ge­burts­tag von Ro­bert Jungk]

TAGEBUCHEINTRÄGE, 10./11./12. MAI 1983

Diens­tag, 10. Mai

Mor­gens Per­cof­fedri­nol ge­kauft. Im Ho­tel1, mit Pil­len­kraft im Leib, den Brief an den Va­ter ge­schrie­ben – blei­be in mei­nem Zim­mer No. 7, das­sel­be Zim­mer wie da­mals – mehr als 13 Jah­re sind ver­gan­gen. Mein Zim­mer, in dem das Schrei­ben ei­gent­lich wirk­lich be­gann, von ein paar Schreib­ver­su­chen im Hau­se der An­ne­lie­se Rö­mer ab­ge­se­hen. Mein klei­nes Zim­mer! Ul­ri­ke L. lag oft auf die­sem Bett, und ich ent­jung­fer­te sie nicht. Das war mei­ne Ha­schisch-Zeit, im Voll­rausch kam ich nachts nach Hau­se – und Mut­ter un­ter die Au­gen. Das ist das Zim­mer, in dem Mut­ter heim­lich mein Ta­ge­buch las – so viel ist da­mals pas­siert, in­ner­halb der 6 Mo­na­te, die wir hier zu­brach­ten – ein Zu­hau­se.

Es­se ei­ne Klei­nig­keit im Zim­mer, le­se mir dann die er­ste Fas­sung des Briefs auf Ton­band vor, bin recht zu­frie­den. Um 4h in die Stadt, muss ja noch Ge­schen­ke fin­den. Im neu­en »Stern« tat­säch­lich ein Ar­ti­kel zu Va­ters Ge­burts­tag. Lau­fe ins Pa­pier­ge­schäft, kau­fe ihm sieb­zig (70!) Ku­gel­schrei­ber – Mut­ter mein­te: nein, das sei kei­ne gu­te Idee, und wenn, dann Blei­stif­te. Hö­re nicht auf sie, ver­traue mir selbst.

Um 7h be­ginnt Som­barts2 Par­ty, im Ho­tel – sein 60. Ge­burts­tag. Sei­ne Toch­ter Eli­sa­beth spielt Kla­vier. Ei­gen­ar­ti­ge Men­schen­mischung – ein »Bau­lö­we« als Tisch­nach­bar. Put­ti und Paul Krun­to­rad3, Ni­ke Wag­ner – die Dar­bie­tun­gen zwi­schen den Gän­gen al­le schief und da­ne­ben. Den­noch: ein gu­ter Zau­be­rer. Die halb­sei­de­nen Mäd­chen, zum Teil auch nackt. Der Trans­ve­stit. Ent­hül­lung ei­nes scheuß­li­chen Ge­mäl­des: Som­bart-Por­trät. Nachtlokal­atmosphäre. Und Som­bart denkt nicht dar­an, um 0h Va­ters Ge­burts­tag zu er­wäh­nen, kei­ne Spur da­von. Wol­fi4 kommt, kurz vor Mit­ter­nacht – wir vier dann ins El­tern­zim­mer, No. 10, fei­ern den 11. Mai. Un­fass­bar: Va­ter ist 70!

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  1. Schlosshotel Gehrhus, im Grunewald, West-Berlin 

  2. Österreichischer Schriftsteller & Kulturkritiker, 1935 - 2006 

  3. Österreichischer Schriftsteller & Kulturkritiker, 1935 – 2006 

  4. Wolfgang Sebastian Baur, Schauspieler, Übersetzer 

Al­ber­ti­na und die sie­ben Tod­sün­den

Hin­ein ins Un­ter­ge­schoss »mi­nus 1«. Rechts Bosch und Brue­gel, links Rem­brandt und Ru­bens. Na­tür­lich nach rechts. Ab­ge­dun­kel­ter Raum, Zeich­nun­gen, die 500 Jah­re alt sind. Hie­ro­ny­mus Bosch et­wa: »Der Baum­mensch«. Oder »Die gro­ßen Fi­sche fres­sen die Klei­nen« von Pie­ter Brue­gel. Man ach­te auf die Klei­nig­kei­ten, die flie­gen­den Fi­sche und den rechts lau­fen­den Fisch­men­schen, der sei­ner­seits ei­nen Fisch im Maul hat. (Die Deu­tung als Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik schei­det ir­gend­wie aus.) Wenn man den Saal wei­ter­geht, sind links die Zeich­nun­gen Brue­gels der sie­ben Tod­sün­den zu se­hen. Di­rekt ge­gen­über lau­fen dann sie­ben klei­ne Film­essays von An­toine Roe­giers, die zei­chen­trick­film­ar­tig die je­wei­li­gen Sün­den an­hand der Brue­gel­schen Fi­gu­ren fort­schrei­ben, nein: fort­zeich­nen:

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Sa­bi­ne M. Gru­ber: Be­zie­hungs­rei­se

Sabine M. Gruber: Beziehungsreise
Sa­bi­ne M. Gru­ber: Be­zie­hungs­rei­se
So­phia kau­ert in ei­nem Ho­tel nachts im Ba­de­zim­mer und liest »Der För­ster vom Sil­ber­wald«. Das Buch gibt ihr auf ei­ne selt­sa­me Wei­se ei­nen Halt; sie ist ver­stört, denn Mar­cus, ihr – ja, was? – Freund? Mann? Be­kann­ter?, noch weiss man es nicht – hat ihr »Ge­walt an­ge­tan«. Zwei Mal wird der Akt der Ver­ge­wal­ti­gung in stak­ka­to- und bild­haf­ten Sät­zen re­kon­stru­iert – oh­ne Dra­stik und doch mit ei­ner ein­dring­li­chen In­ten­si­tät. »Acht­los zur Sei­te ge­rollt. Kein Wort, bis zu­letzt«. Vor­her »dumpf schmer­zend er­nied­rigt«. »Zehn­tes Jahr« ist die­ses Ka­pi­tel zu Be­ginn des Bu­ches über­schrie­ben. Das näch­ste heißt dann »Neun­tes Jahr«. Es be­ginnt vom En­de her. Nach der Lek­tü­re wird man nicht ge­nau wis­sen, ob es das En­de war, weil in den zehn Jah­ren zu­vor schon so oft vom En­de die Re­de war. Und im­mer wie­der kam es an­ders.

Ich ge­ste­he, dass ich des Ti­tels des Bu­ches von Sa­bi­ne M. Gru­ber we­gen Pro­ble­me hat­te, es vor­ur­teils­frei auf­zu­schla­gen. Das Buch heißt »Bezieh­ungs­reise« und es geht um das Wort »Be­zie­hung« dar­in. In ei­ner Zeit, in der 12jährige in Face­book be­ken­nen »in ei­ner Be­zie­hung« zu sein, fällt es mir schwer, die­ses Wort Ernst zu neh­men, so aus­ge­höhlt er­scheint es mir in­zwi­schen. Und hier in­ter­agie­ren er­wach­se­ne Men­schen; So­phia ist am En­de 44, Mar­cus 51. Aber auf ei­ne be­son­ders per­fi­de Art cha­rakterisiert das tech­no­kra­ti­sche Wort »Be­zie­hung« die­se Bin­dung kon­ge­nia­ler als das schö­ne, al­ter­tüm­li­che »Lieb­schaft«, die aristo­kratische Be­zeich­nung »Li­ai­son« oder das ver­rucht kon­no­tier­te Wort von der »Af­fä­re«.

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