Auf der Wel­len­couch (1)

TAGEBUCHEINTRAGUNGEN ZWISCHEN 23. AUGUST 1983 UND 11. SEPTEMBER 1983 – 1. Teil

23.8., Diens­tag

Die An­kunft in Los An­ge­les – um 13h20 L.A.-Zeit – mit dem üb­li­chen Glücks­ge­fühl. Der Flug­ha­fen wird um­ge­baut, ei­ne Höl­le, al­les im­pro­vi­siert, ein­ein­halb Stun­den bis zum Ein­stieg in den Bus nach Hol­ly­wood. Die er­staun­lich ge­nau­en Fra­gen des Zoll­be­am­ten, ob­wohl er doch mei­nen ame­ri­ka­ni­schen Pass sieht – die sel­ben Fra­gen, die man Aus­län­dern stellt: wie viel Geld tra­gen Sie bei sich? War­um sind Sie hier? Wie lan­ge blei­bend? War­um? War­te ewig auf das Ge­päck, da­nach noch­mals die glei­chen Fra­gen wie zu­vor. Ich möch­te wis­sen: war­um? Kei­ne ech­te Erklärung...»Zum Schutz...«; viel­leicht auch we­gen mög­li­cher Steu­er­hin­ter­zie­hung? den­ke ich...Fahre zum Roo­se­velt-Ho­tel, mei­nes Buchs1 we­gen vor al­lem, aber auch, weil ich vor­läu­fig nichts An­de­res zum Woh­nen ha­be. Bin über­rascht: es ko­stet nur $ 45, er­war­te­te viel mehr. Be­kom­me ein schö­nes, gro­ßes Zim­mer im 8. Stock, 822; füh­le mich selt­sam, wie im Traum. Der Hei­mat­lo­se in Per­son. Um halb acht le­ge ich mich be­reits schla­fen, wa­che um halb 2h wie­der auf, schla­fe wei­ter, bis es um ca. 7h nicht mehr geht.

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  1. "Stechpalmenwald", 12 Kurzgeschichten aus Hollywood, Collection S.Fischer, 1978 

Li­te­ra­tur und li­te­ra­risch. Ver­such ei­ner Nä­he­rung.

Li­te­ra­tur ist Spra­che, ist durch die Spra­che und die­se wie­der­um: ei­ne An­ord­nung von Zei­chen oder Lau­ten: So tri­vi­al die­ser Aus­gangs­punkt er­schei­nen mag, man stol­pert ge­ra­de­wegs ei­ner er­sten Dif­fe­renz in die Ar­me: Mit Li­te­ra­tur be­zeich­nen wir nicht je­de Art von Spra­che, son­dern ei­ne, die ge­wis­se Cha­rak­te­ri­sti­ka in sich trägt, de­ren Ei­gen­schaf­ten un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen ent­stan­den sind.

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Avant­gar­de als Nörg­ler

Or­na­men­ta­le Wort­kunst reicht nicht. »Der Plu­ri­mi-Fak­tor« von Bo­tho Strauß schwä­chelt an sei­nem ei­ge­nen An­spruch

Im Herbst 2007, ein Jahr nach den Tur­bu­len­zen um den Hei­ne-Preis der Stadt Düs­sel­dorf und sein Ju­go­sla­wi­en-En­ga­ge­ment, sag­te Pe­ter Hand­ke in ei­nem In­ter­view An­dré Mül­ler er wol­le sich aus der Öf­fent­lich­keit zu­rück­zie­hen und be­kann­te in ei­ner Mi­schung aus Re­si­gna­ti­on und Trotz: »Ich bin ein Idi­ot im grie­chi­schen Sin­ne, ein Nicht-Da­zu­ge­hö­ri­ger.« Um­gangs­sprach­lich steht Idi­ot syn­onym für Dumm­kopf. Hand­ke be­nutz­te den Aus­druck je­doch nicht in die­sem Sin­ne, son­dern nimmt ihn so­zu­sa­gen wört­lich. Für ihn ist der Idi­ot ein Pri­vat­mann, je­mand, der sich der Öf­fent­lich­keit ent­zieht, weil er nicht da­zu ge­hört. Der »Pri­vat­mann« Hand­ke hat­te sich jen­seits des ihm (von an­de­ren) zu­ge­wie­se­nen litera­rischen Re­fu­gi­ums in die Öf­fent­lich­keit be­ge­ben – und blieb un­ver­stan­den. Das Wit­t­­gen­stein-Wort aus dem Trac­ta­tus (6.43) pa­ra­phra­sie­rend könn­te man sa­gen: Die Welt des Idio­ten ist ei­ne an­de­re als die des­je­ni­gen, der in der Öf­fent­lich­keit steht.

Bo­tho Strauß’ vor ei­ni­gen Wo­chen im »Spie­gel« ab­ge­druck­ter Es­say heißt »Der Plu­ri­mi-Fak­tor«. Den Be­griff »Plu­ri­mi« er­klärt Strauß nicht di­rekt. Er steht für »die vie­len«, »die mei­sten«. Der sagt nicht »Mas­se«, ob­wohl dies ge­meint ist. Strauß’ be­ginnt sei­nen Es­say mit De­fi­ni­tio­nen des Idio­ten. Er sei »der Un­ver­bun­de­ne, der an­de­ren Un­be­greif­li­ches spricht.« Bo­tho Strauß ver­wen­det den Idio­ten­be­griff, aber er lässt ihn kurz dar­auf wie­der fal­len; er taucht dann nur am En­de wie­der auf. »An­mer­kun­gen zum Au­ßen­sei­ter« ist sein Text un­ter­ti­telt. Folgt man dem An­spruch des Au­tors ist be­reits der Be­griff des »Außen­seiters« ein Zu­ge­ständ­nis. Er ist ei­gent­lich zu un­ge­nau, zu mil­de. Der Au­ßen­sei­ter be­fin­det sich im­mer noch in ei­ner Ge­mein­schaft – er steht nur »au­ßen«. Das Außenseiter­sein ist durch­aus Be­stand­teil ei­nes Ge­mein­schafts­le­bens. Erst der Idi­ot ist der Ver­sto­sse­ne, der Ver­bann­te, der nicht Sa­tis­fak­ti­ons­fä­hi­ge.

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Nils Ha­ve­mann: Sams­tags um Halb 4

Nils Havemann: Samstags um Halb 4
Nils Ha­ve­mann:
Sams­tags um Halb 4
Zu Be­ginn klärt Nils Ha­ve­mann, dass es sich bei »Sams­tags um Halb 4« nicht um ein ver­klä­rend-sen­ti­men­ta­les Nost­al­gie­buch zum 50. Jah­res­tag der Fuß­ball-Bun­des­li­ga han­delt, wel­ches »um­ge­stürz­te Tor­pfo­sten«, fal­sche Schieds­rich­ter­ent­schei­dun­gen, Mei­ster­schaf­ten in letz­ter Mi­nu­te und »ku­rio­se Phan­tom­tref­fer« zum x‑ten Mal Re­vue pas­sie­ren lässt. Statt­des­sen soll ei­ne Kul­tur­ge­schich­te der Fuß­ball-Bun­des­li­ga prä­sen­tiert wer­den und be­reits in der Ein­leitung wun­dert sich der Au­tor, dass es bis­her kei­ne »his­torische Ge­samt­be­trach­tung« die­ser Bun­des­li­ga gä­be, was nun schein­bar nach­ge­holt wer­den soll. Aber nur we­ni­ge Sei­ten wei­ter re­la­ti­viert Ha­ve­mann den An­spruch wie­der: »Oh­ne­hin strebt die­ses Buch in sei­ner Mi­schung aus chro­no­lo­gi­scher und the­ma­ti­scher Er­zähl­wei­se kei­ne Dar­stel­lung im en­zy­klo­pä­di­schen Sin­ne an.« Gut, so­weit geht man noch mit. Aber fast ver­bor­gen folgt dann: »Ins­be­son­de­re für die Zeit nach 1989 wä­re dies schlicht­weg un­mög­lich, weil man sich hier zu stark der Ge­gen­wart nä­hert, die sich ei­ner eben­so um­fas­sen­den wie un­be­fan­ge­nen hi­sto­ri­schen Be­trach­tung ent­zieht.«

Blät­tert man dar­auf­hin zum In­halts­ver­zeich­nis zu­rück wird tat­säch­lich deut­lich, dass Ha­ve­mann prak­tisch mit dem Jahr 1989 sei­ne Stu­die be­en­det. Im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches wird auch der Grund hier­für be­nannt: Die Ar­chi­ve der Ver­ei­ne und Ver­bän­de ge­ben die für Ha­ve­manns Vor­ge­hens­wei­se not­wen­di­gen Do­ku­men­te ein­fach noch nicht frei. Die aus­ge­spro­che­ne Ein­schrän­kung be­deu­tet ein­fach nur: Es gibt kei­ne In­nen­an­sich­ten, de­rer sich Ha­ve­mann für die Zeit nach 1989 be­die­nen kann.

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Schlag­zei­len-Do­ping

Jetzt liegt sie al­so vor: die lan­ge un­ter Ver­schluss ge­hal­te­ne Stu­die zum Do­ping im west­deut­schen Spit­zen­sport. Am Wo­chen­en­de hat­te die »Süd­deut­sche Zei­tung« auf die­se Stu­die hin­ge­wie­sen und seit­dem ist in der Sport-Welt kein Hal­ten mehr: Es gab – wel­che Über­ra­schung! – auch Do­ping in West­deutsch­land.

Be­reits die er­sten Mel­dun­gen über­schlu­gen sich in Su­per­la­ti­ven. Da half es auch we­nig, dass Pro­fes­sor Gi­sel­her Spit­zer von der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät in Ber­lin (ei­ner der Au­toren der Stu­die) im »Ak­tu­el­len Sport­stu­dio« von Struk­tu­ren von »sy­ste­mi­schem« Do­ping in der Bun­des­re­pu­blik sprach (und die Un­ter­schie­de zum »Staats-Do­ping« in der DDR deut­lich be­nann­te). Die Jour­na­li­sten küm­mer­ten sich we­nig um den Un­ter­schied zwi­schen »sy­ste­misch« und »sy­ste­ma­tisch«. Um die Stim­mung ein biss­chen an­zu­hei­zen, ti­tel­te man mehr als nur ein­mal »sy­ste­ma­tisch«, was na­tür­lich präch­ti­ger und vo­lu­mi­nö­ser klang (bei­spiel­haft: »Spie­gel On­line«).

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LOOK! (III)

[hier Teil II]

3

In Deutsch­land gibt es ei­ne Par­tei, die ih­ren An­fangs­schwung aus der de­mo­kra­ti­schen Er­wei­te­rung nahm, die das In­ter­net zu er­mög­li­chen schien. Die Pi­ra­ten ha­ben ih­ren Ur­sprung im Geist des WWW. Von Mai 2011 bis Ja­nu­ar 2012 stand die aus der Ukrai­ne stam­men­de, noch in der So­wjet­uni­on ge­bo­re­ne Ma­ri­na Weis­band an der Spit­ze die­ser Par­tei, die kei­ne Be­rufs­po­li­ti­ker ha­ben will. Ei­ni­ge Be­weg­grün­de für Weis­bands Rück­zug er­fährt man in ih­rem Buch »Wir nen­nen es Po­li­tik«. Ei­ner­seits hält sie an neu­en techno­logischen Werk­zeu­gen wie Li­quid­Feed­back zur Um­ge­stal­tung der De­mo­kra­tie fest, ande­rerseits ha­ben ih­re Er­fah­run­gen sie zur Ein­sicht be­wo­gen, Po­li­tik sei nun mal Kampf unterschied­licher In­ter­es­sen, der im­mer wie­der per­sön­lich und oft ge­nug lä­cher­lich wird. »Wer auch im­mer sei­ne Na­se in ‚die Öf­fent­lich­keit’ steckt, be­gibt sich in ei­nen Sturm aus Feind­se­lig­kei­ten.« Man hört hier das In­ter­net­wort Shits­torm durch, und tat­säch­lich nennt Weis­band di­ver­se Rea­li­täts- und Ir­rea­li­täts­ebe­nen in ei­nem Atem­zug: Ob im In­ter­net, im Zug oder am In­fo­stand, »in letz­ter Zeit schei­nen die Men­schen to­tal am Rad zu dre­hen.« Am Rad zu dre­hen? Wahr­schein­lich meint sie »durch­zu­dre­hen«. Oder wört­lich, so, wie es da steht: am Rad dre­hen wie Mäu­se im Ver­suchs­la­bor. Die Leu­te... »Wißt ihr was«, ruft Weis­band ih­nen – uns – zu, »der of­fe­ne Po­li­ti­ker hat kei­ne Chan­ce, er wird fer­tig­ge­macht. Wenn es ihm nicht scheiß­egal ist, was ihr von ihm hal­tet, wird er fer­tig­ge­macht. Von euch. Ei­ne bes­se­re De­mo­kra­tie ist nicht mög­lich. We­gen euch.«

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Giu­sep­pe Un­ga­ret­ti: Süd­ita­lie­ni­sche Rei­se

Wie wä­re das ei­gent­lich: Ein Le­ser, der nie von Giu­sep­pe Un­ga­ret­ti ge­hört hat, nichts von ihm weiß (we­der li­te­ra­ri­sches noch sonst­was) schlägt die­ses Buch mit dem Ti­tel »Süd­ita­lie­ni­sche Rei­se« auf und liest un­ter »Sa­ler­no, 12. April 1932«:

»Und plötz­lich sind die Ber­ge nicht mehr zu se­hen, pres­sen uns den­noch die Flan­ken, wäh­rend wir auf­bre­chen, um ent­lang der Kü­ste wei­ter­zu­fah­ren. Die Stil­le ist jetzt fast furcht­ein­flö­ßend und eben­so die Ein­sam­keit und die Grö­ße, in der ich mich abge­sondert füh­le.«

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LOOK! (II)

[hier Teil I]

2

LOOK! Das sagt, ganz tra­di­tio­nell, seit Jahr­hun­der­ten, das Dirndl­kleid, das sich seit ei­ni­gen Jah­ren wie­der gro­ßer Be­liebt­heit er­freut, nach­dem es lan­ge Zeit (und zu un­recht) als Sym­bol erz­kon­ser­va­ti­ver Sit­ten ver­pönt war.

»Schau mich nicht an!« sagt die deut­sche Jour­na­li­stin Lau­ra Him­mel­reich in ih­rem Ar­ti­kel über ei­nen, nun ja, kon­ser­va­ti­ven oder li­be­ra­len oder egal­was Po­li­ti­ker; wahr­schein­lich ist er nur Mit­tel­maß, Pro­dukt ei­ner öden po­li­tisch-mo­ra­li­schen Kul­tur. Der Po­li­ti­ker hat sie an­ge­schaut; mit den Wor­ten der Jour­na­li­stin: »Brü­der­les Blick wan­dert auf mei­nen Bu­sen.« Der Kom­men­tar des ge­sprä­chi­gen Man­nes, der wohl schon ein paar Glä­ser ge­trunken hat: »Sie könn­ten ein Dirndl aus­fül­len.« Die Be­mer­kung, durch­aus ein we­nig geist­reich, ist ihm ver­mut­lich des­halb ein­ge­fal­len, weil die Jour­na­li­stin kurz zu­vor ge­meint hat­te, auf dem Ok­to­ber­fest wür­de sie schon mal Al­ko­hol trin­ken; in der Ho­tel­bar, wo die Sze­ne spielt, trinkt sie – fi­gur­be­wußt? – Co­la Light. Der Flirt, den der Mann in der Fol­ge ver­sucht, ist ziem­lich müh­sam, für die Frau wohl un­an­ge­nehm, das kann ich gut nachvoll­ziehen, zu­mal der Al­ters­un­ter­schied zwi­schen den bei­den fast vier Jahr­zehn­te be­trägt. Him­mel­reich könn­te gut und gern Brü­der­les En­ke­lin sein.

Die Sze­ne in der Ho­tel­bar und der Be­richt dar­über, der Pri­va­tes öf­fent­lich macht und die po­li­ti­schen Qua­li­tä­ten oder Män­gel des Po­li­ti­kers auf sich be­ru­hen läßt, wur­de in den Me­di­en und in der deut­schen Be­völ­ke­rung end­los kom­men­tiert, und auch Über­druß an­ge­sichts des me­dia­len Bla­blas wur­de un­er­müd­lich ge­äu­ßert. Im In­ter­net be­rich­ten Frau­en seit­dem ton­nen­wei­se – ach ja, das In­ter­net hat gar kein Ge­wicht – von Erfah­rungen, die sie dem gras­sie­ren­den Se­xis­mus zu­ord­nen. Mei­stens zu recht, aber in man­chen Wort­mel­dun­gen kommt ein mehr oder min­der star­kes Maß an Pa­ra­noia zum Aus­druck. Wo Men­schen ver­bal, mit­un­ter auch tät­lich ver­folgt wer­den, lau­ert un­wei­ger­lich die Ver­fol­gungs­angst. Die männ­li­chen Sät­ze und Ge­sten, von de­nen die­se Frau­en er­zäh­len, sind un­glaub­lich dumm, be­schä­mend, mei­stens wohl auch kon­tra­pro­duk­tiv. In ei­nem Buch der ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­li­stin Han­na Ro­sin, über das ich spä­ter noch ei­ni­ges sa­gen wer­de, tre­ten Kar­rie­re­frau­en auf, die, nach Se­xis­mus am Ar­beits­platz be­fragt, mei­nen, die­se Din­ge sol­le man ein­fach igno­rie­ren, das Ver­hal­ten sol­cher Män­ner sei ein­fach nur lä­cher­lich. Nicht je­de ist frei­lich so ei­ne star­ke, selbst­be­wuß­te Frau, und auf der Stra­ße, in Um­ge­bun­gen, die man nicht so ge­nau ein­schät­zen kann, ist es viel schwie­ri­ger, die Sät­ze und Ge­sten ein­fach an sich ab­pral­len zu las­sen.

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