Ro­man Ehr­lich: Das kal­te Jahr

Roman Ehrlich: Das kalte Jahr
Ro­man Ehr­lich: Das kal­te Jahr

Wenn man den Sound der Le­sung zum Bach­mann­preis Mit­te Ju­ni noch im Ohr und Kopf hat, dann gibt es jetzt bei der Lek­tü­re von Ro­mans Ehr­lichs Ro­man »Das kal­te Jahr« lau­ter klei­ne ein Dé­jà-vu-Er­leb­nis­se. Tat­säch­lich be­steht der Text, den Ehr­lich in Kla­gen­furt vor­ge­le­sen hat­te, aus sechs ver­schie­de­nen Stel­len im Buch (die Sei­ten 91–94, 100f, 24f, 112–114, 97, 127ff), die ge­schickt mon­tiert wur­den. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler lebt im Haus sei­ner El­tern in ei­nem nicht nä­her be­zeich­ne­ten Kü­sten­ort. Dort wohnt über­ra­schen­der­wei­se wie selbst­ver­ständ­lich ein ihm un­be­kann­tes (et­wa 12jähriges) Kind mit dem Na­men Ri­chard. Die ent­schei­den­den Fra­gen (Wo sind die El­tern? Was macht er in dem Haus?) blei­ben aus ei­ner Art Rück­sichtnahme ge­gen­über dem Kind un­be­ant­wor­tet; Ri­chard wird be­reits bei An­deu­tun­gen ner­vös. Der Ort zeich­net sich durch ei­ne durch­drin­gen­de, dau­er­haf­te Käl­te mit zu­meist ex­zes­si­vem Schnee­fall aus. Das Ta­ges­licht ist nur ei­ne et­was hel­le­re Däm­me­rung. Le­bens­mit­tel­punkt im Haus ist ein Ofen, der mit Holt ge­heizt wird. Um Geld zu ver­die­nen, be­gibt sich der Er­zäh­ler in die Elektro­werkstatt des Or­tes. Pro­blem­los wird er ein­ge­stellt und da­mit be­auf­tragt, aus den aus dem Äther ge­fisch­ten Fern­seh­si­gna­len (schlech­tes Bild; kaum Ton) ein Pro­gramm aufzuzeich­nen und zu­sam­men­zu­stel­len, das sich die Be­woh­ner am näch­sten Tag ge­gen ei­ne ge­rin­ge Ge­bühr auf Kas­set­te an­se­hen kön­nen. Abends trägt der Er­zäh­ler Ri­chard Ge­schich­ten vor. Es sind Ge­schich­ten von Na­tur­ka­ta­stro­phen, Ver­bre­chen, Hin­rich­tun­gen oder ein­fach nur Schick­sa­len, ins­be­son­de­re aus dem 19. oder 20. Jahr­hun­dert aus den USA.

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»Was wird mit Dir?« – Der Dich­ter Di­mit­ri T. Ana­lis

Am 22.9. auf dem »Poe­sie­wo­chen­en­de« in Düs­sel­dorf, or­ga­ni­siert u.a. mit der Buch­hand­lung Mül­ler & Böhm, im Hei­ne-Haus, mit­ten in der Düs­sel­dor­fer Alt- und Lärm­stadt, aus­ge­la­gert im Trin­kaus-Au­di­to­ri­um in der Kunst­samm­lung NRW, Grabbe­platz: Rund 300 Be­su­cher sind bei die­ser Ma­ti­née da­bei. Ein warm aus­ge­leuch­te­ter Raum. Vier Ses­sel (ein biss­chen an egg-chairs er­in­nernd), ein Tisch mit vier Glä­sern Was­ser. Dann nah­men Platz Pe­ter Hand­ke, Žar­ko Rad­ako­vić und Nor­bert Wehr zum Ge­spräch »über Dich­tung, das Über­set­zen und Freund­schaf­ten«. So­phie Se­min, Hand­kes Ehe­frau, nahm in der er­sten Rei­he Platz.

Ja, ums Über­set­zen ging es, um Ralph Man­heim, Hand­kes Über­set­zer ins Eng­li­sche, der 1992 ge­stor­ben ist und ihm, Hand­ke, durch das Über­set­zen sei­ne Bü­cher noch ein­mal na­he­ge­bracht ha­be. Und es ging um Hand­kes so zahl­rei­che Über­set­zun­gen. Und ei­gent­lich woll­te er kei­ne Über­set­zer­ar­beit mehr ma­chen. Aber dann, als er die Nach­richt vom Tod von Di­mit­ri T. Ana­lis ge­hört ha­be, sei er an die Ar­beit ge­gan­gen und ha­be sei­ne letz­ten Ge­dich­te über­setzt.

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Joa­chim Zel­ter: Ei­nen Blick wer­fen

Joachim Zelter: Einen Blick werfen
Joa­chim Zel­ter: Ei­nen Blick wer­fen
Der Ich-Er­zäh­ler in Joa­chim Zel­ters No­vel­le, ein Schrift­steller, be­kommt ei­nen Brief ei­nes ihm voll­kom­men unbe­kannten Men­schen mit dem Na­men Se­lim Ha­co­pian. Er re­det von sich in der drit­ten Per­son, hat ein Buch ge­schrieben und möch­te, dass man ei­nen Blieck dar­auf wer­fen mö­ge. Er fügt ei­nen im­po­san­ten Le­bens­lauf bei – ge­bo­ren in Us­be­ki­stan, lan­ge in Ägyp­ten ge­lebt, di­ver­se Tä­tig­kei­ten wie Bau­ar­bei­ter, Na­po­le­on­dar­stel­ler, Schäch­ter, Koch, Ele­fan­ten­domp­teur oder Kam­mer­jä­ger aus­ge­führt – und nun in Deutsch­land. Mehr als Mit­leid als aus Neu­gier ant­wor­tet der Schrift­stel­ler Se­lim, der, wie sich her­aus­stellt, in der glei­chen Stadt wohnt und in ei­ner Bü­che­rei ar­bei­tet. Von nun an wird er, der von Se­lim en­thu­si­as­miert Herr Schrieft­stel­ler ge­ru­fen wird, die­sen Se­lim nicht mehr los. Er be­geg­net ihm auf Schritt und Tritt. Se­lim dehnt sei­ne Mit­tags­pau­sen groß­zü­gig in den Abend hin­ein (bis er ent­las­sen wird). Die bei­den sit­zen in Ca­fés und im­mer wie­der schafft es Se­lim aus sei­nem Ruck­sack Ma­nu­skrip­te her­aus­zu­zie­hen. Nur ei­nen kur­zen Blieck wünscht er von dem Schrift­stel­ler, der mal ab­wei­send, mal wie ein Wü­te­rich die un­zäh­li­gen Rechtschreib‑, Gram­ma­tik- und Sinn­feh­ler in Se­lims Ma­nu­skrip­ten an­streicht und kor­ri­giert, die Sät­ze um­stellt und ver­sucht, die­sen Dschun­gel ir­gend­wie an­nä­he­rungs­wei­se les­bar zu ma­chen.

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Auf der Wel­len­couch (3)

TAGEBUCHEINTRAGUNGEN ZWISCHEN 23. AUGUST 1983 UND 11. SEPTEMBER 1983 – 3. Teil [hier Teil 1 und hier Teil 2]

8.9., Don­ners­tag

Nach dem Mit­tag­essen mit Al­brecht Jo­seph nach San­ta Mo­ni­ca ge­fah­ren, im Rücken mei­nes Ge­burts­hos­pi­tals St. John’s Hos­pi­tal liegt ein Ster­be­heim, da ist Gi­na Kaus1 seit ca. 1 Wo­che un­ter­ge­bracht. (...) Gi­nas Haus­häl­te­rin, die als Er­bin ein­ge­setzt ist, will schon end­lich er­ben, will den Ster­be­pro­zeß ein­lei­ten, nahm ei­ne un­wich­ti­ge Be­ge­ben­heit zum An­laß, Gi­na in die­se Höl­le ein­lie­fern zu las­sen. Ihr Sohn, Ot­to Kaus, gab sein Ja-Wort, be­vor er für 3 Wo­chen nach Eu­ro­pa flog, auch er will Gi­na los sein, of­fen­bar. Wie arm sie dort ist, ei­ne Er­nied­ri­gung! Herr­li­che Ro­sen, wie zu je­dem jü­di­schen Neu­jahr: von Ar­thur Cohn2. Und hier, im Ster­be­heim, rollt »Hed­da« aus Wer­fels »Barbara«-Roman3 im Roll­stuhl um­her, rund­her­um die Ske­let­te mit auf­ge­ris­se­nem Mund, man sieht in al­le Räu­me hinein...Ein Ne­ben­zim­mer hat ein Schild an der Tür: aus­ge­stri­che­ne Ohr­mu­scheln, das soll hei­ßen: die In­sas­sin­nen hö­ren kaum bzw. gar nicht...Die Halb­to­ten sind in ei­nem Mu­sik­zim­mer ver­sam­melt, sin­gen zu Kla­vier­be­glei­tung »God Bless Ame­ri­ca!« Ca. 1 Stun­de dort, Gi­na macht mir Lie­bes­er­klä­run­gen, fleht gleich­zei­tig, man mö­ge sie von hier los­be­kom­men, viel­leicht kann Friedl Hacker4 hel­fen? Fah­re zu ihm, neu­es Of­fice, am Wilshire Bou­le­vard, häß­li­che Ge­gend. Er­zäh­le ihm ad Gi­na, er wird nichts ma­chen kön­nen – aber sie viel­leicht be­su­chen ge­hen.

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  1. Gina Kaus, 1893 – 1985, österreichische Schriftstellerin und Drehbuchautorin 

  2. Schweizer Filmproduzent und sechsfacher Oscar-Gewinner  

  3. Gemeint ist der 1929 erschienene Schlüsselroman "Barbara oder die Frömmigkeit", in dem Gina Kaus eine Protagonistin ist 

  4. Friedrich Hacker, Psychoanalytiker aus Wien, 1914 – 1989, hatte seine Praxis in Los Angeles, die sogenannte "Hacker-Clinic" 

Mer­kels schmut­zi­ger Coup

Es exi­stiert schon lan­ge, bricht im­mer wie­der auf. Jetzt ist es wie­der da, das Trau­ma der SPD. Es ist das Trau­ma der Un­zu­ver­läs­sig­keit, der man­geln­den, feh­len­den Staats­treue. Be­trach­tet man nur ein­mal die Ent­wick­lung nach dem Zwei­ten Welt­krieg. Mit unglaub­licher Frech­heit ge­lang es den re­stau­ra­ti­ven und kon­ser­va­ti­ven po­li­ti­schen Kräf­ten in der neu­en Bund­e­re­pu­blik die SPD als Kom­mu­ni­sten, min­de­stens je­doch Staats­fein­de hin­zu­stel­len. Dass es die SPD-Ab­ge­ord­ne­ten wa­ren, die den Er­mäch­ti­gungs­ge­set­zen der Na­zis nicht zu­ge­stimmt hat­ten – das wur­de ver­ges­sen. Die SPD als ver­kapp­te Kom­mu­ni­sten – Goeb­bels’ Pro­pa­gan­da mo­bi­li­sier­te im­mer noch. »Kei­ne Ex­pe­ri­men­te« warn­te man im Wahl­kampf 1957 – es gab nie wie­der ei­nen grö­ße­ren Sieg der CDU/CSU. Mit der so­zi­al-li­be­ra­len Ko­ali­ti­on 1969 und dem Macht­ver­lust fand man sich nicht so oh­ne Wei­te­res ab. Wil­ly Brandt wur­de durch sei­ne so­ge­nann­te Ost­po­li­tik wie­der ein­mal zum va­ter­lands­lo­sen Ge­sel­len de­nun­ziert, nach­dem er be­reits in den 50er Jah­ren ob sei­nes Exils von Ade­nau­er dif­fa­miert wur­de. Und das ein ehe­ma­li­ger Kom­mu­nist wie Her­bert Weh­ner ge­läu­tert sein könn­te, das trau­ten die­je­ni­gen, die ein christ­li­ches At­tri­but in ih­rem Par­tei­na­men führ­ten, nur ih­ren ei­ge­nen ehe­ma­li­gen NSDAP-Mit­glie­dern und Mit­läu­fern zu.

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Auf der Wel­len­couch (2)

TAGEBUCHEINTRAGUNGEN ZWISCHEN 23. AUGUST 1983 UND 11. SEPTEMBER 1983 – 2. Teil [hier Teil 1]

26.8., Frei­tag

(...) Mei­ne er­ste Nacht im »Mo­bi­le Home«, der Nach­bar Bar­ney hat sei­nen Wohn­wa­gen zur Ver­fü­gung ge­stellt, ken­ne den Mann nicht, je­den­falls An­nas Idee, mich dort nur schla­fen zu las­sen, aber in ih­rem Haus das Du­schen, Es­sen, Spre­chen. Bin na­tür­lich ein­ver­stan­den – ob­wohl mir das Schla­fen auf der Wel­len­couch bei­na­he lie­ber war. Im Wohn­wa­gen Lärm von der Stra­ße – und er steht ab­schüs­sig: Fü­ße um Ei­ni­ges tie­fer als der Kopf. Le­se noch kurz, es gibt Licht im Wa­gen – füh­le mich ei­gen­ar­tig ein­sam.

30.8., Diens­tag

(...) Abends zu mei­nen Al­ten – be­kom­me Cham­pa­gner, der mich tod­mü­de macht. Als es bes­ser wird, sit­ze ich mit An­na al­lein, Al­brecht J. nicht bei uns. Wir trin­ken Rot­wein. Und An­na er­zählt ad Wer­fel, Al­ma, Ernst Kře­nek1, etc., ma­che No­ti­zen, wie­der kein Ta­pe­re­cor­der, sie will das nicht...ich versteh’s. Ali­ce Her­dan-Zuck­may­ers An­ga­ben ad Wer­fel-Haus auf der Ho­hen War­te wa­ren falsch. So wird Ge­schich­te ge­schrie­ben – auf NICHTS ist Ver­laß. Al­le Quel­len DOUBTFUL. Dar­an wer­den Film- und Ton- und Pho­to­do­ku­men­te nicht viel än­dern kön­nen. Nur das äu­ße­re Bild wird prä­zi­ser, kei­nes­wegs das INNERE.

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  1. Der Komponist Ernst Křenek (1900 – 1991) war Anna Mahlers zweiter Ehemann 

...die glei­chen Lü­gen...

Ge­ra­de­zu ver­blüf­fend ak­tu­ell:

»So­oft ich ei­ne po­li­ti­sche Re­de hö­re, oder le­se, was die uns Re­gie­ren­den schrei­ben, bin ich ent­setzt, seit Jah­ren nichts zu ver­neh­men, was ei­nen mensch­li­chen Klang hät­te. Es sind im­mer die glei­chen Wor­te, die die glei­chen Lü­gen be­rich­ten. Und daß die Men­schen sich da­mit ab­fin­den, daß der Zorn des Vol­kes die­se Ham­pel­män­ner noch nicht zer­schmet­tert hat, ist für mich der Be­weis, daß die Men­schen ih­rer Re­gie­rung kei­ner­lei Be­deu­tung zu­messen und daß sie spie­len, ja wahr­haf­tig mit ei­nem gan­zen Teil ih­res Le­bens und ih­rer so­ge­nann­ten le­bens­wich­ti­gen In­ter­es­sen spie­len.«

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