TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN MÄRZ 1984
Montag, 19. März 1984
Bekomme ein Schlafwagenabteil für mich allein, im Abteil neben mir Arik Brauer, aber wir sprechen nicht. Trinke Rotwein in meinem oberen Bett, bin selig, lese Eichendorffs »Marmorbild«, das in und um Lucca spielt – träume dann wirr + leicht + ernst zugleich. Um 9h40 in Venedig, eine halbe Stunde Aufenthalt. Verlasse den Zug, stehe dort herum, mit meinem Gepäck – und beobachte die Menschen. Hasse Wien und mein Dortsein mit Inbrunst. Fühle mich BELASTET durch Wien. (…) Dieses »Fort-von-Wien«-Gefühl selten so stark empfunden. Bloß: wohin? Nach Abschluss der FW-Arbeit1 muß ich für längere Zeit ganz woanders leben, nicht in dieser Blei-Stadt bleiben! Die alle Freude tötet, die alle Leichtigkeit zunichte macht. / Via Bologna und Pistoia nach Lucca. Lucca overwhelming – umschlossen von unzerstörten Mauern, rundherum, alles unberührt sozusagen, traumwandle durch die Stadt, lege Kilometer um Kilometer zurück, kommt mir vor. (…) Herrlicher Ort! Ganz unwirklich – und verträumt – und untouristisch. Suche nach einem Hotel, lege wiederum enorme Strecken zurück, hin, her, links, rechts, im Kreis und zurück. Entscheide mich für Hotel Universo, großer, alter Kasten. Hole mein Gepäck am Bahnhof – das Durchqueren der Stadtmauer als Erlebnis. Finde den schönsten Platz der Stadt, Piazza Amfiteatro, entdecke ‘Baralla’, bekomme dort eines der besten Essen seit Menschengedenken, unvergesslich gut. Und offener Rotwein aus einem Faß abgezapft. Das imponiert mir so, wenn Menschen ihren Beruf so ausüben, so ERNST nehmen, wie die ‘Baralla’-Besitzer. Schwankend in mein Hotel…
Gemeint ist die Arbeit an der Lebensgeschichte Franz Werfels, 1987 bei S. Fischer erschienen. ↩