Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knausgård: Die Schule der Nacht
Karl Ove Knaus­gård: Die Schu­le der Nacht

Karl Ove Knaus­gårds neu­er Ro­man Die Schu­le der Nacht be­ginnt da­mit, dass der 44jährige Kri­sti­an Hade­land 2010 in ei­nem Haus ir­gend­wo auf ei­ner nor­we­gi­schen In­sel sitzt und über sein Le­ben nach­denkt. Das Haus ge­hört ei­nem rei­chen In­ve­stor, den er vor Jah­ren in Lon­don ken­nen­ge­lernt und der ihm vom Haus, der Ru­he und dem Plätz­chen, an dem sich ein Schlüs­sel fin­det, er­zählt hat­te. Nie­mand weiß, dass er hier ist, au­ßer die Nach­barn, aber die ken­nen ihn nicht. Be­vor er sich das Le­ben neh­men wird, schreibt er es auf.

Ich-Er­zäh­ler Kri­sti­an be­ginnt mit sei­ner Er­in­ne­rung im Au­gust 1985, als er das er­ste Mal von Chri­sto­pher Mar­lo­we ge­hört hat­te, dem eng­li­schen Dra­ma­ti­ker, der 1593 mit ei­nem Mes­ser im Au­ge in Dept­ford um­ge­bracht wur­de. In die­sem Stadt­teil von Lon­don lebt Kri­sti­an in ei­nem Miets­haus (Du­sche auf dem Flur) und stu­diert an ei­ner Aka­de­mie Fo­to­gra­fie. Er lässt es eher ru­hig an­ge­hen, lebt von ei­nem Sti­pen­di­um (und sei­nen El­tern) und ver­bringt die Aben­de in ei­nem Pub. Hier lernt er Hans ken­nen, ei­nen Hol­län­der, den er zwar nicht be­son­ders mag, aber man ist nun zu zweit Aus­län­der in Lon­don und spricht aus­gie­big dem Bier mit Wod­ka zu. Hans ist ein »mo­no­man­er Le­ser« und Be­leh­rer, sieht sich als Künst­ler, ex­pe­ri­men­tiert mit com­pu­ter­ge­steu­er­ten Ap­pa­ra­tu­ren, et­wa ei­ner künst­li­chen Rat­te, die ei­nen Par­cours durch­lau­fen kann oder Schild­krö­ten, die sich wie heu­ti­ge Staub­sauger­ro­bo­ter fort­be­we­gen. Kri­sti­an liest sich lust­los durch Shake­speares frü­he Wer­ke, wäh­rend Hans ihm von Mar­lo­we er­zählt, sein Stück über Dok­tor Faustus, das von ei­ner lo­ka­len Thea­ter­grup­pe, die sich un­ter »School of Night« im Hin­ter­zim­mer des Pub trifft, dem­nächst auf­ge­führt wer­den soll. Er weiß, dass ei­ni­ge Mar­lo­wes Tod nicht ak­zep­tie­ren, son­dern glau­ben, er sei da­mals un­ter­ge­tauscht und ha­be un­ter Shake­speares Na­men die in­zwi­schen welt­be­kann­ten Stücke ge­schrie­ben. Hans zeigt Kri­sti­an auch das ver­mut­lich er­ste Da­guer­re-Bild von 1938, stellt kühn die The­se auf, die ein­zi­ge Fi­gur, die dort zu se­hen sei, wä­re der Teu­fel und man fach­sim­pelt un­ter an­de­rem über Alei­ster Crow­ley.

Kri­sti­an ge­riet in den Bann von Hans, we­ni­ger der Thea­ter­grup­pe. Das Weih­nachts­fest 1985 ver­brach­te er je­doch bei den El­tern in Nor­we­gen. Es en­de­te ab­rupt in ei­ner Ka­ta­stro­phe. Sei­ne Schwe­ster Liv hat­te ei­nen Selbst­mord­ver­such un­ter­nom­men, der je­doch im letz­ten Mo­ment ent­deckt wur­de. Abends hör­te Kri­sti­an die El­tern im Ge­spräch. Der Va­ter, ein eher schweig­sa­mer Groß­bau­er mit ei­ser­nen Re­geln, be­zeich­ne­te Kri­sti­an als »Voll­blut-Nar­ziss­ten«. Die Mut­ter, ei­ne »Ar­chi­va­rin der Sen­ti­men­ta­li­tät«, be­schwich­tig­te ver­geb­lich. Das konn­te Kri­sti­an nicht auf sich sit­zen­las­sen. Er pack­te in al­ler Heim­lich­keit und ver­ließ das El­tern­haus oh­ne je­der Nach­richt Rich­tung Lon­don. Am mei­sten be­trüb­te ihn, dass er nicht sei­ne gan­ze Plat­ten­samm­lung mit­neh­men konn­te. Er schwor, mit den El­tern für im­mer zu bre­chen. In Lon­don an­ge­kom­men, er­geht er sich in Selbst­be­spie­ge­lun­gen und ‑be­schwö­run­gen. Ans Te­le­fon geht er nicht, weil es die El­tern sein könn­ten. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter wird ei­ne An­ge­stell­te der nor­we­gi­schen Bot­schaft bei ihm klin­geln. Ei­nen Brief und ei­ne Post­kar­te der Mut­ter, die er vie­le Mo­na­te spä­ter er­hal­ten wird, warf er (nach Lek­tü­re) in den Müll.

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Da­nie­la Stri­gl: Zum Trotz

Daniela Strigl: Zum Trotz
Da­nie­la Stri­gl: Zum Trotz

Er­kun­dung ei­ner zwie­späl­ti­gen Ei­gen­schaft un­ter­ti­telt die re­nom­mier­te öster­rei­chi­sche Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Da­nie­la Stri­gl ih­re nun in Schrift­form vor­ge­leg­ten Vor­le­sun­gen Zum Trotz vom No­vem­ber 2024. Es be­ginnt mit ei­nem kur­zen ety­mo­lo­gisch-ge­schicht­li­chen Aus­flug über den Be­griff »Trotz«. Erst im 19. Jahr­hun­dert ver­än­der­te sich die Be­wer­tung und Trotz galt als eher ne­ga­ti­ve Ei­gen­schaft, be­son­ders bei Frau­en. Der Zwie­spalt, der sich zwi­schen »kin­disch« und »Mo­vens des Wi­der­stands« auf­tut, zeigt zahl­rei­che Fa­cet­ten. Be­vor die Ty­po­lo­gie der Trotz‑, Rap­pel- oder Quer­köp­fe in der Li­te­ra­tur (mit Sei­ten­blicken aufs rich­ti­ge Le­ben) er­folgt, wird die so­ge­nann­te »Trotz­pha­se« des Kin­des un­ter­sucht. Hier er­lebt »das Kind den Kon­flikt zwi­schen Wol­len und Kön­nen als Quel­le der Fru­stra­ti­on.« Vor ein­hun­dert Jah­ren wur­de die­ses Ver­hal­ten ne­ga­tiv be­ur­teilt und mit Au­to­ri­tät be­kämpft, in­zwi­schen neigt man da­zu, es als wich­ti­ge Ent­wick­lung zu se­hen, und emp­fin­det neu­er­dings nur den Ter­mi­nus als dis­kri­mi­nie­rend. Er heißt jetzt auf neu­kor­rekt »Au­to­no­mie­pha­se«, was Stri­gl kri­ti­siert. Aber viel­leicht hat »Trotz« in an­de­ren Zu­sam­men­hän­gen doch et­was mit »Au­to­no­mie« zu tun?

Stri­gl er­nennt Hein­rich von Kleists Mi­cha­el Kohl­haas zum »Ar­che­typ des Trot­zes«. Er ist ei­ner, der »su­spekt, recht­schaf­fen und ent­setz­lich« han­delt, der nicht ak­zep­tiert, dass man ihm die bei­den an der Zoll­sta­ti­on zum Pfand über­ge­be­nen Pfer­de in ei­nem er­bärm­li­chen Zu­stand ent­schä­di­gungs­los zu­rück­ge­ben will. Die Ra­di­ka­li­sie­rung von Kohl­haas ent­wickelt sich. Die er­ste Stu­fe ist der Tod (ge­nau­er: die Tö­tung) sei­ner Frau durch die Re­gie­rungs­macht des Kur­fürsts, als sie ei­ne Bitt­schrift ih­res Ehe­manns über­brin­gen woll­te. Kohl­haas über­nimmt nun das »Ge­schäft der Ra­che«, re­kru­tiert Söld­ner, wird zum Plün­de­rer und Mord­bren­ner, oh­ne die un­mit­tel­bar Ver­ant­wort­li­chen di­rekt zu tref­fen. Glück­li­cher­wei­se er­läu­tert Stri­gl die Ge­schich­te über das hin­läng­lich be­kann­te er­ste Vier­tel der No­vel­le hin­aus und ent­wickelt die ein­zel­nen Pha­sen des (ju­ri­sti­schen) Fal­les und der Es­ka­la­tio­nen. Ist doch die »wei­te­re Hand­lung ist…von Hoff­nungs­schim­mern, Bei­na­he-Lö­sun­gen, Um­schwün­gen, Zu­fäl­len, Wie­der­ho­lun­gen und Va­ria­tio­nen be­stimmt.« Das Ge­spräch mit Mar­tin Lu­ther, der Kohl­haas ins Ge­wis­sen re­det, lässt Kohl­haas in­ne­hal­ten. Die An­ge­le­gen­heit scheint nach ei­ni­gen Ver­hand­lun­gen kurz vor ei­nem halb­wegs ver­söhn­li­chen En­de zu ste­hen, aber Kohl­haas’ Auf­ent­halt in Dres­den wan­delt sich zum Haus­ar­rest, schließ­lich zur Haft. Am En­de »wird der Ge­rech­tig­keit rund­um ge­nü­ge ge­tan«. Der klei­ne Schön­heits­feh­ler: Kohl­haas wird ge­henkt.

Im wei­te­ren Ver­lauf der Er­kun­dun­gen Stri­gls wird Kohl­haas auch un­ter an­de­re Ty­pen des Trot­zes ein­ge­ord­net. Je nach Stand der Ge­schich­te be­kommt er dann Zü­ge des Re­bel­len, Ter­ro­ri­sten, De­spe­ra­dos, Amok­läu­fers oder Que­ru­lan­ten. Nicht im­mer glücken da­bei die Trans­for­ma­tio­nen auf Phä­no­me­ne der Ge­gen­wart. So ist es schwie­rig, Kohl­haas’ »Rebellion…gegen ade­li­ge Will­kür«, die in Selbst­ju­stiz und Raub­zü­gen mün­de­te, mit Trumps Ver­hal­ten nach der ver­lo­re­nen Wahl 2020 zu ver­glei­chen, und zu kon­sta­tie­ren, Trump ha­be mit sei­ner Bil­li­gung der Stür­mung des Ka­pi­tols am 6. Ja­nu­ar 2021 den bür­ger­li­chen Un­ge­hor­sam in Miss­kre­dit ge­bracht. Trump als »trot­zi­gen Po­li­ti­ker« zu be­zeich­nen ist ein Eu­phe­mis­mus, weil da­mit die Mo­ti­ve Trumps un­ter­schätzt wer­den.

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Mar­tin Mit­tel­mei­er: Heim­weh im Pa­ra­dies

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies
Mar­tin Mit­tel­mei­er:
Heim­weh im Pa­ra­dies

»Goe­the in Hol­ly­wood« über­schreibt der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Mit­tel­mei­er das er­ste Ka­pi­tel sei­nes Bu­ches Heim­weh im Pa­ra­dies über Tho­mas Manns Jah­re in Ka­li­for­ni­en. Nach fünf Jah­ren im Exil in der Schweiz über­sie­del­te die Fa­mi­lie 1938 in die USA. Und na­tür­lich darf er nicht feh­len, der Satz, mit dem er sich sel­ber zur zen­tra­len Fi­gur des Deut­schen im Exil ge­gen das Na­zi-Re­gime mach­te: »Wo ich bin, ist Deutsch­land«. Ei­ne Mi­schung aus An­ma­ßung, Trotz und Selbst­be­haup­tung.

Da­bei war es ein »an­de­res« Land, dass sich dem Dich­ter zeig­te; nicht nur die an­de­re Spra­che, die der 63jährige müh­sam lern­te. Ein Land mit Film­stu­di­os, Ein­la­dun­gen, Re­den, Le­se­rei­sen, Zu­sam­men­künf­ten mit den an­de­ren Exi­lan­ten, die schon län­ger in den USA leb­ten. Die Welt­an­schau­un­gen la­gen zum Teil weit aus­ein­an­der und ei­ni­ge ver­stan­den et­wa den Bru­der Hit­ler nicht. Tho­mas Mann zog rasch Auf­merk­sam­keit auf sich; es kam zu Be­geg­nun­gen mit dem ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt. Viel Neu­es für je­man­den, den ei­ni­ge be­reits da­mals für ei­nen Mann des 19. Jahr­hun­derts hiel­ten. Nach ei­ner Gast­pro­fes­sur in Prin­ce­ton prä­fe­rier­te er den Osten, ging ins Um­land von Los An­ge­les, dort, wo das »Mo­vie-Ge­sin­del« leb­te, schließ­lich Pa­ci­fic Pa­li­sa­des, ab Fe­bru­ar 1942 in ei­nem ei­gens er­rich­te­ten Haus.

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Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Henning Ziebritzki: Brand
Hen­ning Zie­britz­ki: Brand

Brand ist der Na­me ei­nes fik­ti­ven Or­tes, ein Dorf, ir­gend­wo in der Re­gi­on Han­no­ver und es ist der Ti­tel des er­sten Ro­mans des Schrift­stel­lers und Es­say­isten Hen­ning Zie­britz­ki. Es be­ginnt mit Au­gust, der an­ders ist, was der Er­zäh­ler aber schon wuss­te, be­vor es ihm die El­tern er­zählt hat­ten. Au­gust ist schweig­sam, ein »Ta­ch« be­ant­wor­tet er ent­spre­chend, an­son­sten spricht er sel­ten und träumt ger­ne. Er ist »Greis und Kind zu­gleich«, ein Döll­mer, wie man dort sagt und das ist nicht her­ab­set­zend ge­meint, denn Au­gust hat ei­ne wich­ti­ge Auf­ga­be im Dorf. Er muss im Früh­ling die im Win­ter un­ter dem Schnee her­vor­ge­kom­me­nen Stei­ne aus dem Bo­den her­aus­su­chen, die an­son­sten die Mes­ser des Pflugs be­schä­di­gen könn­ten. Und er macht das mit Akri­bie und spie­le­ri­schem Ver­gnü­gen zu­gleich, baut, wenn es ge­lingt, klei­ne Py­ra­mi­den mit den aus­sor­tier­ten Stei­nen.

Die Er­zäh­lung von Au­gusts Le­ben und Ar­bei­ten ist das er­ste von elf Ka­pi­teln die­ses klei­nen Büch­leins mit knapp 140 Sei­ten. Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler er­in­nert sich an sei­ne Er­in­ne­run­gen aus Kind­heit und Ju­gend, von Mit­te der 1960er Jah­re an. Es ist we­ni­ger der an­non­cier­te Ro­man als ei­ne No­vel­len­samm­lung.

Er­zählt, ja: wie­der-holt wird ei­ne Kind­heit, die tief ver­wur­zelt ist im länd­li­chen Le­ben Mit­te der 1960er Jah­re. Das Jahr war noch be­stimmt durch den Wech­sel der Jah­res­zei­ten. Die Jah­re wur­den un­ter­teilt in »vor«, »wäh­rend« und »nach« dem Krieg. Drei Ge­ne­ra­tio­nen der Fa­mi­lie müt­ter­li­cher­seits des Er­zäh­lers leb­ten im Dorf. Es gab Zei­ten, als Ur­groß­mutter, Groß­mutter und Mut­ter zu­sam­men­ar­bei­te­ten, bei­spiels­wei­se beim Ern­ten und Ein­wecken von Obst. Das Kind war ent­bun­den vom Mit­hel­fen, schau­te zu, be­kam mit et­was Glück ei­nen Kom­pott nicht ver­wer­te­ter Früch­te.

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Mar­tin Mo­se­bach: Die Rich­ti­ge

Martin Mosebach: Die Richtige
Mar­tin Mo­se­bach:
Die Rich­ti­ge

Weiß je­mand, wie Mar­tin Mo­se­bach die­ses häss­li­che »Spie­gel Best­sel­ler-Au­tor« Eti­kett auf dem Co­ver sei­nes neu­en Ro­mans Die Rich­ti­ge ge­fal­len hat? Ob­wohl nur auf dem tur­quoi­sen Hin­ter­grund plat­ziert und das Mo­tiv nicht di­rekt tan­gie­rend, muss es doch je­man­dem mit sei­nem äs­the­ti­schen Emp­fin­den ein Graus ge­we­sen sein.

Die Lek­tü­re kann erst nach der vor­sich­ti­gen, rück­stands­frei­en Ent­fer­nung des Eti­ketts be­gin­nen. Und sie­he: Es ist wie so oft bei Mo­se­bach ein klei­ner Kreis, der hier vor­ge­stellt wird. An­lass ist ei­ne Aus­stel­lungs­er­öff­nung der Ga­le­rie Grün­haus, in der neue Ge­mäl­de von Lou­is Creutz ge­zeigt wer­den. Der Mei­ster wird so­fort als »In­be­griff der Un­be­ein­druck­bar­keit« vor­ge­stellt und bleibt da­her osten­ta­tiv dem Be­ginn der Ver­an­stal­tung mit der Re­de des Kunst­kri­ti­kers fern und kom­po­niert in sei­nem nicht weit ent­fernt lie­gen­den Ate­lier tra­di­ti­ons­ge­mäß sein neu­es In­kar­nat. Der Le­ser er­fährt rasch die Ge­wohn­hei­ten. So malt Creutz nur in sei­nem Ate­lier, fast aus­schließ­lich Frau­en, frei­wil­lig nie Por­traits (nur im Auf­trag ge­gen ein hor­ren­des Ho­no­rar: Hö­he mal Brei­te mal fünf­und­zwan­zig), nur Ak­te, die er aber als sol­che nur un­gern be­zeich­net. Er malt auf Bo­lus und pflegt »ei­ne fein­po­ri­ge Ma­le­rei von luft­lo­ser Schwe­re«. Sei­ne Ob­ses­si­on ist die mensch­li­che Haut. »Die ei­gent­li­che Auf­ga­be der Ma­le­rei [ist] die Schil­de­rung der Haut«, so Creutz. Hier zei­ge sich die ho­he Schu­le der Öl­ma­le­rei.

Im­mer bei sol­chen Ver­an­stal­tun­gen da­bei sind die »Ge­treu­en«: Ru­dolf und Bea­te, Samm­ler der er­sten Stun­de (ne­ben­bei er­fährt man, dass sie län­ger nicht mehr ge­kauft ha­ben und die Wert­stei­ge­rung der frü­hen Wer­ke ab­war­ten). Im Schlepp­tau Ru­dolfs Bru­der Diet­rich, ein stil­ler, freund­li­cher Mensch. Die Brü­der füh­ren die von den El­tern ge­erb­te Fa­brik fort, mit gro­ßem Er­folg, wie es heißt und der be­ruht vor al­lem auf Diet­rich. Im Schlepp­tau der drei neu da­bei ist ei­ne blon­de Frau mit et­was un­or­dent­li­chen Haa­ren, Astrid Thor­blén, 35 Jah­re, »aus dem Nor­den«, ge­nau­er: Schwe­den, kom­mend. Die zän­ki­sche Bea­te lässt schon jetzt kein gu­tes Haar an Astrid, die aber für Hö­he­res vor­ge­se­hen ist: Sie soll die Ehe­frau des schüch­ter­nen, bra­ven Diet­rich wer­den. Sie sei, so hat wohl Ru­dolf be­schlos­sen, »die Rich­ti­ge«.

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Wel­ten und Zei­ten XXI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Mu­sil hat ei­nen gro­ßen Denkauf­wand be­trie­ben, um die Form des Es­says in den Ro­man ein­zu­füh­ren. In Wirk­lich­keit hat­te der Es­say im­mer schon ein Hei­mat­recht in den Ge­fil­den des Ro­mans, denn je­de er­wei­ter­te Re­fle­xi­on ei­ner Fi­gur (z. B. über ihr Han­deln) oder des Au­tors (z. B. über den Text, über Pro­ble­me, die er auf­wirft, oder über ei­ne Fi­gur) nä­hert sich der Form des Es­says. Was sind die gro­ßen re­fle­xi­ven Pas­sa­gen in Tho­mas Manns Zau­ber­berg, des­sen Nie­der­schrift er et­wa gleich­zei­tig mit Mu­sils un­voll­ende­tem Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­gann und – an­ders als Mu­sil den sei­nen – in re­gel­mä­ßi­gem Ar­beits­tem­po mehr oder min­der plan­ge­mäß zu En­de brach­te, an­de­res als Es­says? Auch die Dia­lo­ge ten­die­ren bei Ge­sprächs­part­nern wie Naph­ta und Set­tem­b­ri­ni zum Es­say­is­mus, ein­fach des­halb, weil je­der der bei­den so viel zu sa­gen hat. Nur hat es Tho­mas Mann nie der Mü­he wert ge­fun­den, die es­say­isti­schen Merk­ma­le sei­ner Ro­ma­ne be­son­ders her­vor­zu­he­ben und mit theo­re­ti­schen Er­läu­te­run­gen zu ver­se­hen. Wo­zu auch, er hat­te ge­nug da­mit zu tun, Fi­gu­ren zu schaf­fen und re­den zu las­sen. Auch Mu­sil hat­te ge­nug da­mit zu tun, und viel­leicht wä­re es bes­ser ge­we­sen, er hät­te sich dar­auf be­schränkt. Viel­leicht, viel­leicht nicht. So ist er als Theo­re­ti­ker des Es­say­is­mus be­rühmt ge­wor­den.

Tho­mas Manns Ro­ma­ne sind als Lek­tü­re für alt ge­wor­de­ne Leu­te mit ei­ner lan­gen Le­ser­ge­schich­te be­stens ge­eig­net – vor­aus­ge­setzt, man will noch ein we­nig Le­bens­zeit da­für auf­wen­den. Sol­che Le­ser brau­chen nichts Auf- und An­re­gen­des mehr, wohl aber Bal­sam für ih­re ge­schun­de­nen Ner­ven. Zum Bei­spiel Lot­te in Wei­mar, die­ser es­say­isti­sche Plau­der­ro­man, wo mehr oder min­der un­ge­be­te­ne Be­su­cher ei­nem al­ten Weib­lein die Oh­ren mit ih­ren Pro­blem­chen und Pro­jek­ten, Ent­täu­schun­gen und Be­schwer­den voll­quat­schen – à pro­pos Es­say­is­mus, die gu­te Frau braucht kaum Fra­gen zu stel­len, schon ge­hen die Ser­mo­ne los, je­der und je­de hat sein oder ihr Scherf­lein zur Ge­schich­te vom gro­ßen Mann, sei­ner Ex­zel­lenz, dem Ge­hei­men Rat Goe­the bei­zu­tra­gen. Ein mehr­stim­mi­ger Es­say, ei­ne Ana­ly­se je­ner »Grö­ße«, die Tho­mas Mann so sehr be­gehr­te, de­ren Me­cha­nis­men er er­for­schen woll­te.

Da lob ich mir Kaf­ka, die­sen klein­sten al­ler Schrift­stel­ler, der am lieb­sten ei­nen Bau be­wohnt hät­te. Ei­nen un­ter­ir­di­schen, wohl­ge­merkt: Wir bau­en den Schacht von Ba­bel. Ist noch wer üb­rig von die­sem Wir? Kaf­ka schrieb kei­ne Es­says, das hat­te er nicht nö­tig. Sei­ne Fi­gu­ren plau­dern auch nicht so viel, und meist er­hal­ten sie kei­ne Ant­wort.

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Szc­ze­pan Twar­doch: Die Null­li­nie

Szczepan Twardoch: Die Nulllinie
Szc­ze­pan Twar­doch:
Die Null­li­nie

Koń ist 45, Hi­sto­ri­ker, leb­te in War­schau und wie er in der an­de­ren Welt, »die es nicht mehr gibt«, ge­hei­ßen hat, wer­den wir nie er­fah­ren. Er hat­te sei­ne Woh­nung der gro­ßen Schwe­ster Ewa über­ge­ben und war auf­ge­bro­chen in den Krieg. Da war er 43. Koń liegt zu Be­ginn des Ro­mans Die Null­li­nie von Szc­ze­pan Twar­doch zu­sam­men mit je­man­dem, der Rat­te ge­ru­fen wird. Den Na­men kennt der auf­merk­sa­me Twar­doch-Le­ser aus ei­ner Re­por­ta­ge, die im Ok­to­ber 2023 in der NZZ er­schie­nen war. Koń und Rat­te sit­zen in ei­nem Erd­loch, eu­phe­mi­stisch Un­ter­stand ge­nannt, auf der »fal­schen Sei­te« von »Va­ter Dnipro«, we­ni­ge Ki­lo­me­ter ent­fernt von der Null­li­nie. Dort sind sie, die »Rus­sacken«, oder, ver­ächt­li­cher: »Pä­do­rus­sen«. Ei­ne Kam­mer­spiel­sze­ne zu Be­ginn, mit dem er­zäh­len­den Koń, dem lust­los am to­ten Han­dy dad­deln­den Rat­te. Dem er­zählt Koń von sei­nem Groß­va­ter, der ukrai­ni­sche Wur­zeln hat­te und un­be­dingt woll­te, dass der En­kel ukrai­nisch sprach und, der, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, bei der SS-Ga­li­zi­en war. Er er­zählt von sei­nem pol­ni­schen Va­ter, der sich als Eu­ro­pä­er fühl­te, die Na­tio­na­lis­men ab­le­gen woll­te und sei­ner ver­knö­cher­ten Mut­ter. 2016 war Koń, der da­mals noch nicht Koń war, zum er­sten Mal in der Ukrai­ne, ein »ci­ty break« in Kiew, hier: Ky­jiw (was merk­wür­dig ist, zwi­schen den Lem­bergs und Kra­kaus). Ei­ne Stadt »wie ein Frei­licht­mu­se­um«, er schau­te sich noch die Spu­ren vom Mai­dan an und mach­te Be­kannt­schaft mit ei­nem all­ge­gen­wär­ti­gen Na­tio­na­lis­mus.

Wer ist hier Ro­bert Jor­dan?

Spä­ter, kurz vor der Un­ter­schrift, der Ver­pflich­tung, wie­der in Ky­jiw, sah er die um­trie­bi­gen Ge­schäfts­leu­te in den Lu­xus­ho­tels in ih­ren »gro­ßen, ge­pan­zer­ten Land Crui­sern«, wäh­rend er we­nig spä­ter in ei­nem al­ten, klapp­ri­gen Nis­san Na­va­ra zu den Stel­lun­gen fah­ren muss­te, was nicht ein­fach ge­we­sen war. Vor dem Ein­satz ein Be­such in ei­nem Lu­xus­re­stau­rant, das »Pic­co­li­no«, nichts Ukrai­ni­sches war hier, au­ßer auf den Kra­wat­ten der Kell­ner, dort war ein »auf­ge­stick­tes Folk­lo­re­mo­tiv« zu se­hen, an­son­sten blieb hier der Na­tio­na­lis­mus, der Pa­trio­tis­mus, drau­ßen und man ras­pel­te am Tisch dem Gast den Trüf­fel auf das »ide­al ge­hack­te Rind­fleisch«.

Und nun sitzt im an­de­ren, im »gu­ten Kel­ler« die­ser Stel­lung, Ja­go­da, der auch nicht Ja­go­da heißt, der meh­re­re Spra­chen spricht, ein Le­ser, mit Kind­le im Ruck­sack, mehr­spra­chig, der fünf Jah­re in Ber­lin ge­lebt und stu­diert hat­te, da­vor und da­nach dann je­weils die Ver­wand­lung zum Krie­ger, in­klu­si­ve drei­mo­na­ti­ger Ge­fan­gen­schaft bei den Rus­sen in Do­nezk. Ja­go­da ist es, der an He­ming­ways Wem die Stun­de schlägt denkt, an Ro­bert Jor­dan, der ei­ne Brücke spren­gen soll, »da­mit die Fa­schi­sten nicht durch­kom­men«. We­nig­stens wä­re das et­was Sinn­vol­les ge­we­sen, meint er, wäh­rend sie hier in ei­nem Loch sit­zen, fest­sit­zen, nur dass »Se­len­skyj mit sei­ner Sor­gen­mie­ne im kack­grü­nen Hemd auf den Kon­fe­ren­zen da­von fa­seln kann, dass ihr ei­nen Brücken­kopf auf die­ser Sei­te eu­res Va­ters Dnipro hal­tet, oh­ne ge­nau­er zu er­klä­ren, wo­zu das gut sein soll.«

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Wel­ten und Zei­ten XX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Wie­so sagt man im Deut­schen ei­gent­lich »Ro­man«, wenn man »Ro­man« meint? War­um nicht »No­vel­le«, no­vel, no­ve­la wie im Eng­li­schen oder Spa­ni­schen? Ei­gent­lich ist es egal, die Spra­che bzw. die Be­deu­tun­gen, mit de­nen in ihr jon­gliert wird, sind so­wie­so ge­prägt durch ih­ren Ge­brauch. Der Ro­man ist in der (ro­ma­ni­schen) Volks­spra­che ge­schrie­ben, und die No­vel­le stellt ei­ne Neu­ig­keit dar. Aber dann be­ginnt erst die Ge­schich­te, und der Ro­man wird das, was er eben ge­wor­den ist und heu­te noch ist. Im Ja­pa­ni­schen ur­sprüng­lich mo­no­ga­ta­ri, in den bei­den Schrift­zei­chen 物語 ver­bin­den sich die Din­ge und das Re­den, al­so ei­gent­lich ist es nur ein Ge­plau­der über dies und das. Die­se De­fi­ni­ti­on trifft recht gut auf das Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri zu, das manch­mal als er­ster Ro­man der Li­te­ra­tur­ge­schich­te be­zeich­net wird (man hat schon so man­chen Ro­man zum »er­sten« er­ko­ren). Heu­te sagt man in Ja­pan eher shou­setsu, 小説, das heißt: klei­ne Er­klä­rung, oder auch klei­ne Er­zäh­lung, Er­klä­run­gen sind ja im­mer auch Er­zäh­lun­gen; je­den­falls steht vor­ne das Zei­chen für »klein« wie bei Kind, 小人, klei­ner Mensch. In al­len die­sen ur­sprüng­li­chen Be­zeich­nun­gen wird der Text­gat­tung Ernst­haf­tig­keit ab­ge­spro­chen, sie ist ge­wis­ser­ma­ßen nicht er­wach­sen, nicht La­tei­nisch, nicht son­der­lich ge­lehrt. Ei­ne locke­re Form, dient auf je­den Fall der Un­ter­hal­tung. Ich glau­be, das trifft im­mer noch zu. Ei­ne freie Form, man kann, wie ich hier schon mehr­mals sag­te, al­les mög­li­che in sie hin­ein­stop­fen (auch wenn viel­leicht hin­zu­zu­fü­gen ist, daß man da nicht über­trei­ben soll­te: Zu viel ist zu viel, wir brau­chen auch Lücken).

Als ich vor un­ge­fähr zehn Jah­ren Kenzabu­ro Oe be­such­te, nann­te er al­le sei­ne Wer­ke »shou­setsu«, egal ob sie groß oder klein, lang oder kurz, mehr oder we­ni­ger un­ter­halt­sam wa­ren. An­to­nio Ta­buc­chi, ein an­de­rer Mei­ster des Ro­mans, will zwi­schen Er­zäh­lung und Ro­man gar nicht un­ter­schei­den, ob­wohl er dann wie­der be­tont, die Er­zäh­lung be­fol­ge stren­ge Re­geln, für den Ro­man gel­te das nicht. Trotz­dem, er glaubt nicht an die »rei­nen Gen­res«, son­dern an die Ver­mi­schung der Gen­res: Cre­do nella mes­co­lan­za dei ge­ne­ri. Ei­nem um­fang­rei­chen, durch das qua­si ari­sto­te­li­sche 24-Stun­den-Kor­sett müh­sam im Zaum ge­hal­te­nen Ro­man wie dem Ulysses zieht er die Er­zähl­samm­lung Dub­li­ner vor.

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