Hel­mut Böt­ti­ger: Die Ge­gen­wart durch­lö­chern

Helmut Böttiger: Die Gegenwart durchlöchern
Hel­mut Böt­ti­ger: Die Ge­gen­wart durch­lö­chern

Nach dem ge­wis­sen­haft-hi­sto­ri­schen Auf­riss über die Grup­pe 47, ei­ner eher lau­ni­gen Re­vue über die Li­te­ra­tur der 1970er Jah­re und ei­nem rei­se­re­por­ta­ge­haf­ten Band über Czer­no­witz legt der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger mit Die Ge­gen­wart durch­lö­chern Werk­por­traits über fünf­zehn Dich­ter vor, gar­niert mit sei­ner Re­de zur Li­te­ra­tur­kri­tik, die zwar auch schon mehr als zehn Jah­re zu­rück­liegt, aber nichts von ih­rer Bri­sanz ver­lo­ren hat und auf Samt­pfo­ten, aber den­noch deut­lich, den Un­ter­schied zwi­schen Li­te­ra­tur­jour­na­lis­mus und Li­te­ra­tur­kri­tik auf­zeigt.

Zwar sind zehn der fünf­zehn Au­toren Büch­nerpreis­trä­ger, den­noch fri­sten ei­ni­ge im­mer noch (bzw. wie­der) ihr Los im Ge­heim­tipp-Sta­tus. Ob­wohl auch Jo­han­nes Bobrow­ski (ge­bo­ren in Til­sit) und Paul Ce­lan (Czer­no­witz) vor­ge­stellt wer­den, kann man gu­ten Ge­wis­sens er­klä­ren, dass hier deut­sche Au­toren por­trai­tiert wer­den (Öster­rei­cher und Schwei­zer kom­men nicht vor). Böt­ti­ger weist in ei­nem kur­zen Hin­weis, ver­steckt bei den Nach­wei­sen, dar­auf hin, dass es sich nicht um den Ver­such ei­nes Ka­nons han­deln soll.

Man ent­deckt, dass sich der Kri­ti­ker teil­wei­se mehr­fach mit den ent­spre­chen­den Au­toren be­schäf­tigt hat. Die nun vor­lie­gen­den Auf­sät­ze sei­en aus be­stehen­den Tex­ten (ent­stan­den zwi­schen 1995 und 2023) »al­le­samt er­heb­lich aus­ge­wei­tet« und zu »Au­toren­por­träts aus­ge­stal­tet« wor­den, so Böt­ti­ger. Er­staun­lich, dass acht von die­sen fünf­zehn Au­toren be­reits 2004 in der bei Zsol­nay er­schie­ne­nen Text­samm­lung Nach den Uto­pien vor­ge­stellt wur­den. Auf ei­nen Ver­gleich der Tex­te wur­de ver­zich­tet.

Die Län­ge der ak­tu­el­len Bei­trä­ge va­ri­iert zwi­schen 11 und 23 Sei­ten, aber selbst in den län­ge­ren Tex­ten kämpft Böt­ti­ger zu­wei­len mit dem Ma­te­ri­al. Zum ei­nen ver­zich­tet er weit­ge­hend auf als be­kannt vor­aus­ge­setz­te Le­bens­lauf­füh­run­gen und wid­met sich statt­des­sen den ein­schnei­den­den Prä­gun­gen, und de­ren li­te­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung. Zum an­de­ren ist er aber im­mer wie­der ge­nö­tigt, kur­ze In­halts­an­ga­ben zu Ro­ma­nen oder Er­zäh­lun­gen ab­zu­ge­ben. Ge­löst wird letz­te­res durch die Su­che sich im­mer wie­der­keh­ren­der Mo­ti­ve, die Rück­schlüs­se und Deu­tun­gen er­mög­li­chen und Bö­gen span­nen in­ner­halb ei­nes Wer­kes. Häu­fig das Auf­zei­gen von Par­al­le­len mit an­de­ren Au­toren. Da­bei fällt auf, dass ins­be­son­de­re Franz Kaf­ka mehr­mals ge­nannt wird. Man fragt sich, ob die Tat­sa­che, dass Wolf­gang Hil­big tat­säch­lich Hei­zer war und sein Le­ben der Li­te­ra­tur auf­ging schon gleich­be­deu­tend da­mit, dass er sich an Kaf­ka ori­en­tiert?

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B. Tra­ven: Das To­ten­schiff

B. Traven: Das Totenschiff
B. Tra­ven: Das To­ten­schiff

Zum er­sten Mal er­schien B. Tra­vens Das To­ten­schiff 1926 im Rah­men der Bü­cher­gil­de Gu­ten­berg, ei­nem »ge­werk­schaft­li­chen Buch­club« (Vol­ker Kut­scher). Es wur­de ein Rie­sen­er­folg für ei­nen Au­tor, des­sen Iden­ti­tät nie­mand kann­te, der je­doch zu­vor be­reits im so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Vor­wärts mit dem Fort­set­zungs­ro­man Der Baum­woll­pflücker für Auf­se­hen ge­sorgt hat­te. Die Fra­ge, wer die­ser B. Tra­ven war, ist bis heu­te nicht ein­deu­tig ge­klärt. Es ist wohl­tu­end, dass Vol­ker Kut­scher in sei­nem Nach­wort zur ak­tu­el­len Neu­auf­la­ge die­ses Ro­mans nicht die un­ter­schied­li­chen Ver­sio­nen der Iden­ti­tät auf­drö­selt. Mehr­heit­lich glaubt man, dass es sich um den An­ar­chi­sten und Schau­spie­ler Ret Ma­rut ge­han­delt ha­be, der in den 1920er Jah­ren nach Me­xi­ko ge­flo­hen oder, freund­li­cher for­mu­liert, emi­griert war. Ma­rut soll wie­der­um ein Pseud­onym für den Ge­werk­schafts­se­kre­tär Ot­to Fei­ge ge­we­sen sein. Der Ein­fach­heit hal­ber wer­den nun mehr­heit­lich die Le­bens­da­ten die­ses Ot­to Fei­ge für B. Tra­ven ver­wen­det.

Tra­vens Ge­dan­ke war, dass der Au­tor nicht zu viel Auf­merk­sam­keit be­kom­men soll­te. Tat­säch­lich trat das Ge­gen­teil ein. Es ist er­staun­lich, wie be­reits in den 1920er Jah­ren die Un­si­cher­heit der Au­toren­iden­ti­tät bzw. die Ab­we­sen­heit des Au­tors die Öf­fent­lich­keit der­art auf­wüh­len konn­te. Dar­an hat sich we­nig ge­än­dert. Vor ei­ni­gen Jah­ren brü­ste­ten sich Pseud­onym-In­spek­teu­re mit per­ver­sem Stolz, Ele­na Ferran­te ent­tarnt zu ha­ben – als wür­de sich da­mit der Blick auf das Werk ent­schei­dend än­dern.

Nicht zu­letzt durch ei­ni­ge Ver­fil­mun­gen sei­ner Bü­cher haf­tet B. Tra­ven das Eti­kett des Aben­teu­er­schrift­stel­lers an. Aber be­reits zu Be­ginn stellt der See­mann Ga­les, der Ich-Er­zäh­ler aus Das To­ten­schiff, klar: »Die Ro­man­tik der See­ge­schich­ten ist längst vor­bei.« Kut­scher führt zu recht aus, dass Das To­ten­schiff kein klas­si­scher Aben­teu­er­ro­man sei und mit ei­ner Idea­li­sie­rung des See­fahr­erle­bens nichts zu tun ha­be. Auf den rund 400 Sei­ten be­tritt Ga­les erst auf Sei­te 142 die »Yo­rik­ke«, je­nes »To­ten­schiff«, das oh­ne Na­tio­na­li­tä­ten­flag­ge un­ter an­de­rem falsch de­kla­rier­te Wa­ren (Waf­fen in Schmug­gel­gut) ver­frach­tet. Dort ar­bei­ten nur See­män­ner, die un­ter ei­nem »Schiffs­not­ge­setz« ste­hen. Sie ha­ben kei­ne oder nur ob­sku­re Pa­pie­re, mit de­nen sie auf kei­nem se­riö­sen Schiff an­heu­ern kön­nen. Zu den Not­män­nern ge­hört jetzt auch der ame­ri­ka­ni­sche »Deck­ar­bei­ter« Ga­les. Als er nach ei­nem Land­gang in Ant­wer­pen zu­rück­kommt, ist sein Schiff oh­ne ihn ab­ge­fah­ren. Un­glück­li­cher­wei­se blie­ben See­manns­kar­te und Pass an Bord. Von nun an ist er ein Nie­mand. »Pa­pie­re ha­ben et­was Un­mensch­li­ches«, kon­sta­tiert Ga­les, der ein ähn­li­ches Schick­sal durch­macht wie Zuck­may­ers Schu­ster Voigt. Oh­ne Pa­pie­re kann er nicht auf den »Ei­mern« an­heu­ern. Und oh­ne Heu­er kann er ei­gent­lich nicht le­ben.

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Wel­ten und Zei­ten III

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»Die Wahr­heit der Lü­gen«: mit die­sem viel­leicht doch et­was bil­li­gen Pa­ra­dox im Buch­ti­tel faß­te Ma­rio Var­gas Llosa einst sei­ne Es­says zur Li­te­ra­tur zu­sam­men. Fik­ti­on ist et­was Ähn­li­ches wie Lü­gen, aber doch nicht ganz, denn der Lüg­ner gibt vor, die Wahr­heit zu sa­gen, der Ro­man­cier aber nicht, je­den­falls sagt er sie nicht un­mit­tel­bar mit sei­nen Er­fin­dun­gen. Al­len­falls tut er das in ei­nem tie­fe­ren Sinn, wo im­mer der lie­gen mag. So auch Var­gas Llosas in sei­nen ei­ge­nen Ro­ma­nen, die dem Le­ser die Il­lu­si­on »le­bens­na­her« Fi­gu­ren und Hand­lun­gen zu ver­mit­teln su­chen, was ih­nen auch her­vor­ra­gend ge­lingt, zum Bei­spiel in dem groß­an­ge­leg­ten und groß­ar­ti­gen Ge­spräch in der Ka­the­dra­le, wo sehr viel schwa­dro­niert wird.

In ei­nem wört­li­che­ren Sinn ar­bei­te­te der Ar­gen­ti­ni­er Ma­nu­el Pu­ig mit Lü­gen. Aber auch bei ihm wä­re nach­zu­fra­gen: Wel­che Art von Lü­gen sind das? Sehr oft kei­ne Lü­gen im stren­gen Sinn, son­dern Il­lu­sio­nen, Aus­weich­ma­nö­ver ge­gen­über Tat­sa­chen, Angst vor de­ren Fol­gen, wenn man ih­nen ins Au­ge blickt. Es sind Selbst­täu­schun­gen, klei­ne Be­trugs­ma­nö­ver, ein Klam­mern an den ver­meint­li­chen Sinn (des Le­bens usw.). Und oft auch Ideo­lo­ge­me, mehr oder min­der bil­li­ge Über­zeu­gun­gen, ver­mit­telt durch Mas­sen­me­di­en, durch Pop­kul­tur, durch – in Ar­gen­ti­ni­en – schmal­zi­ge Tan­gos und auch durch Li­te­ra­tur, vor al­lem durch tri­via­le, die dem Mas­sen­pu­bli­kum sei­ner­zeit, als es noch kein Fern­se­hen gab, aus dem Ra­dio zu­ström­te.

Aber wie kann sich dann in Li­te­ra­tur Wahr­heit zei­gen? Zum Bei­spiel durch Col­la­ge, durch die Viel­falt der Stim­men, die sich be­geg­nen und über­la­gern, durch die Äqui­di­stanz des Er­zäh­lers oder des Au­tors, der sich nicht ein­mischt, son­dern die Stim­men ne­ben- und ge­gen­ein­an­der­stellt. Ge­nau dar­in be­steht sei­ne Kunst und sein Wahr­heits­an­spruch. Ein sehr spe­zi­fi­scher, künst­le­ri­scher Wahr­heits­an­spruch. Pu­igs Ro­man – La traición de Ri­ta Hay­worth, zu deutsch (wenn ich nicht ir­re): Der schön­ste Tan­go der Welt – ist wahr, weil gut ge­macht.

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Wel­ten und Zei­ten II

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Die kar­gen Ro­ma­ne Pa­trick Mo­dia­nos, aber auch die opu­len­te­ren von Ka­zuo Ishi­gu­ro, un­ter­schei­den sich we­sent­lich von de­nen der Ge­ne­ra­ti­on Flau­berts, aber auch von Joy­ce oder Dö­b­lin, in­dem sie stets ei­nen Hof des Un­ge­sag­ten um das Er­zähl­te oder An­ge­deu­te­te mit­füh­ren, d. h. »kon­stru­ie­ren« (das aber oft ganz un­merk­lich). »Much is left un­said«. Ich weiß nicht, wo­her mir der der eng­li­sche Satz zu­fliegt, den­ke aber nicht un­be­dingt an He­ming­way und sei­ne Spit­ze-des-Eis­bergs-Theo­rie. Es ist ein star­kes Bild, das der sicht­ba­ren Spit­zen, doch pas­sen­der scheint mir das ei­ner Au­ra, ei­nes »ha­lo« (wie die Fran­zo­sen sa­gen). Cel­ans »Licht­hof Be­deu­tung«, al­so wie in der Ly­rik. Im­mer nur klei­ne Er­hel­lun­gen, da­zwi­schen Dun­kel­heit. Das al­les nicht im altro­man­ti­schen Sinn, son­dern, wenn man so sa­gen kann, in er­zähl­tech­nisch Hin­sicht. Wie funk­tio­niert ein Ro­man? In­dem mit Wor­ten ein Raum oh­ne Wor­te ge­schaf­fen wird, gleich­sam sein Un­be­wuß­tes, das der Au­tor weiß und uns aus stra­te­gi­schen Grün­den nicht ver­rät. Wir, die Le­ser, kön­nen, wenn wir wol­len, sel­ber her­um­rät­seln.

Weiß er es wirk­lich? Sind sol­che Au­toren »all­wis­send«? Ver­schwei­gen sie et­was (vie­les)? Für die Au­toren, die ich hier im Au­ge ha­be, gilt das eher nicht. Sie ar­bei­ten viel­mehr mit ih­rer Un­wis­sen­heit. Sie ge­hen aus vom Nicht­ver­ste­hen, wol­len den Be­reich des Nicht­ver­ste­hens wo­mög­lich re­du­zie­ren, wis­sen aber auch, daß das nie voll­stän­dig ge­lin­gen wird. Sie ar­bei­ten mit Ah­nun­gen. Viel­leicht sind sie nicht ein­mal wis­sen­der als der Le­ser. Viel­leicht ist manch ein Le­ser wis­sen­der als der Au­tor des Buchs, das er liest.

Kaf­ka ist das Non­plus­ul­tra des er­zäh­len­den Schrei­bens im 20., viel­leicht noch im 21. Jahr­hun­dert. An die­se The­se glau­ben vie­le, aber sel­ten wird die Fra­ge ge­stellt, was Kaf­ka denn be­wirkt hat, ob er Bre­schen ge­öff­net hat in der Li­te­ra­tur, oder bes­ser: im Be­reich li­te­ra­ri­scher, poe­ti­scher, ima­gi­na­ti­ver Sen­si­bi­li­tät (an dem ge­nau­so der Le­ser teil­hat). Eher wirkt Kaf­kas Werk mo­no­li­thisch, sei­ne gan­ze Schrift­stel­ler­exi­stenz ist ein be­son­de­res, her­aus­ra­gen­des, aber ab­ge­schlos­se­nes Ka­pi­tel. Bei Joy­ce ist das ganz an­ders, auf ihn kann man sich ein­las­sen, mit sei­nem Werk mit­ge­hen, wach­sen, zum Fan wer­den, zum Spe­zia­li­sten. In der New York Times stand un­längst ein Be­richt über ei­nen Le­se­kreis zum (prin­zi­pi­ell un­ver­ständ­li­chen) Fin­ne­gans Wa­ke, der über Jahr­zehn­te ging und kürz­lich zu ei­nem glück­li­chen (?) En­de kam.

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Ka­tha­ri­na Pek­tor (Hrsg.): Re­né Char und Pe­ter Hand­ke – Gu­te Nach­barn

Bis­lang hat Pe­ter Hand­ke seit 1980 33 Bü­cher ins Deut­sche über­setzt. Nicht ein­ge­rech­net drei ei­ge­ne Thea­ter­stücke, die er vom Fran­zö­si­schen sel­ber über­tra­gen hat­te. Hand­ke hat im­mer dar­auf hin­ge­wie­sen, den pro­fes­sio­nel­len Über­set­zern nicht die Ar­beit weg­ge­nom­men zu ha­ben. Sei­ne Über­tra­gun­gen dien­ten auch (wenn nicht so­gar vor­dring­lich) da­zu, die Auf­merk­sam­keit auf an­de­re, bis da­hin un­be­kann­te Au­toren zu ...

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Wel­ten und Zei­ten I

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

Nichts ge­gen Na­me­drop­ping. Man be­geg­net mal die­sem, mal je­nem, in der Li­te­ra­tur und Gei­stes­welt wie im rich­ti­gen Le­ben, mal flüch­ti­ger, mal ernst­haf­ter, es ent­ste­hen Ver­bin­dun­gen, Ge­mein­sam­kei­ten wer­den ent­deckt, Ver­bin­dun­gen wer­den ge­löst, neu ge­knüpft, oder auch nicht: Un­ter­schie­de fest­ge­stellt, Ab­gren­zun­gen vor­ge­nom­men. Freund­schaf­ten und Be­kannt­schaf­ten. Und eben auch Feind­schaf­ten. Nicht al­les paßt zu­sam­men, nicht im­mer. Na­tür­lich wün­schen wir uns, daß mehr fällt als der Na­me. Viel­leicht der Gro­schen, im­mer wie­der ein­mal.

Al­ter­na­ti­ve Tra­di­ti­ons­li­ni­en auf­zei­gen, nicht im­mer das­sel­be wie­der­käu­en. Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Wie je­ne, die jetzt über­all Frau­en am Werk se­hen in der Kunst, Mu­sik etc. Frei­lich, das lohnt nicht im­mer, oft ist das ideo­lo­gie­ge­lenkt. Wie bei der »wie­der­ent­deck­ten« Ba­rock­ly­ri­ke­rin Si­byl­la Schwarz, die 17-jäh­rig ver­stor­ben war. Nein, sie war eben kein weib­li­cher Rim­baud des 17. Jahr­hun­derts, son­dern be­sten­falls Main­stream, al­so mit­tel­mä­ßig, hat halt die Re­gel­poe­tik ei­nes Mar­tin Opitz an­ge­wen­det wie so vie­le an­de­re, die man des­we­gen aber nicht »wie­der­ent­decken« muß. Dich­ten war da­mals nichts an­de­res als ei­ne Schul­übung. Nur we­ni­ge ra­gen aus dem Main­stream, Gry­phi­us, Fle­ming, Gün­ther. Das al­les, wirk­lich al­les, zu le­sen, war mei­ne Be­schäf­ti­gung, als ich un­ge­fähr 23, 24 war. So­gar Si­byl­la Schwarz ist mir da­mals un­ter­ge­kom­men, in der Her­zog Au­gust-Bi­blio­thek zu Wol­fen­büt­tel.

Aber hier geht es um den Ro­man und dar­um, was von ihm bleibt. Trans­ver­sa­le Blicke, Sei­ten­blicke auf be­schei­de­ne­re Wer­ke, nicht im­mer nur die groß­spu­ri­gen, groß­mäch­ti­gen. Nicht der Groß­ro­man, eher die klei­ne­ren. Gad­dis, Faul­k­ner, Joy­ce, Proust, Mu­sil, Da­vid Fo­ster Wal­lace… all die Ge­walt­anstren­gun­gen be­ein­drucken mich nicht mehr. Auch nicht die spie­le­ri­sche Ge­walt ei­nes Pe­rec in La vie mo­de d‘emploi. Statt des­sen die zu­gäng­li­che­ren Wer­ke, et­wa Le Grand Me­aul­nes von Alain-Fou­rier. Oder Pa­trick Mo­dia­no (na ja, ein No­bel­preis­trä­ger…).

Sol­che Trans­ver­sa­li­tät be­deu­tet na­tür­lich nicht, sich ein­fach ei­ne Li­te­ra­tur­li­ste zu­sam­men­zu­wür­feln und dann die Bü­cher der Rei­he nach zu le­sen. Es be­deu­tet eher, sie »gleich­zei­tig« zu le­sen, wo­bei gleich­zei­tig nicht im chro­no­me­tri­schen Sinn zu ver­ste­hen ist, son­dern in ei­nem or­ga­ni­schen: Man liest sie al­le in ei­nem Zeit-Raum, der da­mit ei­ne be­son­de­re Qua­li­tät an­nimmt. Es geht 1. dar­um, Ähn­lich­kei­ten über hi­sto­ri­sche Epo­chen, un­ter­schied­li­che Spra­chen und Kul­tu­ren fest­zu­stel­len, 2. dar­um, im sel­ben Sinn Un­ter­schie­de fest­zu­stel­len, 3. dar­um, sich Über­ra­schun­gen zu öff­nen und un­vor­her­ge­se­he­ne Er­kennt­nis­se zu­zu­las­sen. Es ist al­so nicht das wis­sen­schaft­li­che Prin­zip des Auf­stel­lens ei­ner Hy­po­the­se, die dann be­stä­tigt, er­gänzt oder ver­wor­fen wird, und auch kein sta­ti­stisch-quan­ti­ta­ti­ves Prin­zip, bei dem Kor­re­la­tio­nen, Wie­der­ho­lun­gen, Nach­bar­schaf­ten be­rech­net wer­den, son­dern ein qua­li­täts­ori­en­tier­tes und nur be­dingt steu­er­ba­res Prin­zip, das Krea­ti­vi­tät in der Lek­tü­re, als clo­se re­a­ding und her­me­neu­ti­scher Vor­gang mit star­ker sub­jek­ti­ver Kom­po­nen­te ver­stan­den, er­lau­ben und för­dern soll­te.

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An­ne We­ber: Bann­mei­len

Bann­mei­len – Ei­nen Ro­man in Streif­zü­gen nennt die seit vie­len Jah­ren in Pa­ris le­ben­de An­ne We­ber ihr neu­es Buch. Nach dem »rück­blicken­den Vor­spiel« fol­gen 18 Ka­pi­tel, in de­nen (bis auf ei­ne Aus­nah­me) ei­ne na­men­los blei­ben­de Ich-Er­­zäh­­le­rin zu­sam­men mit dem be­freun­de­ten Film­re­gis­seur Thier­ry durch die Pa­ri­ser Ban­lieues, die Vor­städ­te, streift. Ge­nau­er: Es ist das Dé­part­ment Sei­­ne-Saint-De­­nis, ...

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Ju­lia Jost: Wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken...

2019 ge­wann die 1982 ge­bo­re­ne Kärnt­ne­rin Ju­lia Jost im Kla­gen­fur­ter Bach­­man­n­­preis-Wet­t­­be­­werb für ih­re Er­zäh­lung Scha­kal­tal den Ke­lag-Preis (das war da­mals ähn­lich ei­ner Bron­ze­me­dail­le). Nor­ma­ler­wei­se wer­den der­art er­folg­rei­che Tex­te rasch in fer­ti­ge Bü­cher über­führt, aber bei Jost muss­ten po­ten­ti­el­le Le­ser fast fünf Jah­re war­ten, bis heu­er der fer­ti­ge Ro­man vor­liegt. Er trägt den zu­nächst schreck­li­chen, nach ...

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