Ma­nue­la Fuel­le: Fen­ster auf, Fen­ster zu

Manuela Fuelle: Fenster auf, Fenster zu

Ma­nue­la Fuel­le:
Fen­ster auf, Fen­ster zu


An­fangs denkt man es geht um Wal­ter, Elas Va­ter. Der Va­ter, der »Mut­ter und Va­ter in ei­nem war«. Der Va­ter und sei­ne Schrul­len. »Epi­ku­reisch« nennt ihn Ela, die Ich-Er­­zäh­le­rin. Das stimmt nur be­dingt. Ob­wohl: Die Sparsam­keit geht schein­bar in skur­ril-krea­ti­vem Geiz über. Die Bröt­chen sind ihm zu teu­er. Nach ei­nem Ge­spräch mit dem Bäcker holt er für Klein­geld die »al­ten« Bröt­chen ab. Und steht ab so­fort um 2 Uhr mor­gens da­für auf. Dumm ist er auch nicht. Er be­schäf­tigt sich mit Spi­no­za oder He­gel. Hil­fe kann er nicht aus­hal­ten; die Rücken­schmer­zen wer­den ver­tuscht.

Aber es bleibt nicht bei den An­ek­do­ten. 1968 ist Ela fünf Jah­re alt, als sich die El­tern schei­den las­sen. Sie und ih­re Ge­schwi­ster soll­ten sich ent­schei­den – für den Va­ter oder die Mut­ter. Jetzt und so­fort. Dass die El­tern zu­sam­men­blei­ben soll­ten – ihr Wunsch – war nicht vor­ge­se­hen. Sie, die Äl­te­ste, ent­schied sich für den Va­ter. Jahr­zehn­te spä­ter wohnt Ela in Tü­bin­gen und er­hält mah­nen­de Brie­fe von ih­ren Ge­schwi­stern: Der Va­ter sei ver­wirrt, be­dür­fe der Hil­fe. Und weil sie, Ela, die­sem Ur­teil über ih­ren Va­ter im­mer wi­der­spro­chen ha­be, soll sie ihn su­chen. Denn er ist spur­los ver­schwun­den – we­der in der Stadt noch auf sei­nem Hof im Groß­raum Ber­lin auf­find­bar; kein Le­bens­zei­chen. Da­bei hat­ten die Ge­schwi­ster Pro­ble­me Ela tele­fonisch zu er­rei­chen. Die ging nicht an den Ap­pa­rat. Der Ap­fel, der nicht all­zu weit vom Stamm fällt. Wei­ter­le­sen

An­drzej Sta­si­uk: Hin­ter der Blech­wand

Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand

An­drzej Sta­si­uk:
Hin­ter der Blech­wand

    Ich konn­te mich wirk­lich nicht er­in­nern, wann ich ihn zum er­sten Mal ge­trof­fen ha­be. Er war wie der Geist die­ser Stadt. Er ver­kör­per­te sie: grau, un­schein­bar, fast durch­sichtig. Der erst­ge­bo­re­ne Sohn der All­täg­lich­keit, von Ge­burt an im Schei­tern be­wan­dert. Aber man muß­te ihn nur an­schau­en, den Blick auf ihn hef­ten, um nicht durch ihn hin­durch­zu­se­hen, und schon war er ein an­de­rer. Wenn je­mand ihn wahr­nahm, wur­de er sicht­bar. Er sam­mel­te sich, ge­riet in Span­nung, sei­ne Ge­gen­wart ver­dich­te­te sich. Er war über­all, sah und wuß­te al­les, den Rest ahn­te er.

Die Re­de ist von Wła­dek. Er und der Er­zäh­ler, Pa­wel, kau­fen und ver­kau­fen haupt­säch­lich Tex­ti­li­en (Pa­ris – Lon­don – New York) auf den Wo­chen- und Jahr­märk­ten Ost­eu­ro­pas. Sie sind die (selbst­er­nann­ten) Kö­ni­ge des Plun­ders. Da­bei müs­sen sie sich zu­se­hends mit den An­bie­tern der asia­ti­schen Pro­duk­te mes­sen, die­sem Ramsch und Tand von er­bärm­li­cher Qua­li­tät. Klei­dungs­stücke, die schon nach kur­zer Zeit nur noch als Putz­lap­pen tau­gen. In den be­sten Mo­men­ten ver­nimmt man im Hin­ter­grund die­ser zum Teil rü­den Be­schimp­fun­gen des asia­ti­schen Bil­lig­krams ein zwi­schen Ehr­furcht und Fe­ti­schis­mus chan­gie­ren­des Sen­ti­ment zum das Ding, das, trotz al­ler kom­mer­zi­el­len At­ti­tü­den, mehr ist als nur schnö­des Han­dels­ob­jekt. (Oder ist man jetzt schon auf die Władek’sche Wer­bung rein­ge­fal­len?) Wei­ter­le­sen

Ob­szö­ne Durch­hal­ter­he­to­rik

In­zwi­schen kommt kaum noch ei­ne Dis­kus­si­on über den Eu­ro und die ent­spre­chen­den (so­ge­nann­ten) Sta­bi­li­sie­rungs­maß­nah­men oh­ne war­nen­de Hin­wei­se aus. Be­reits vor ei­ni­gen Mo­na­ten be­schwor der Vor­sit­zen­de der Eu­ro-Grup­pe Jean-Clau­de Jun­cker (der auch gleich­zei­tig Mi­ni­ster­prä­si­dent ei­ner eu­ro­päi­schen Steu­er­oa­se ist), wenn der Eu­ro schei­te­re, wür­de Eu­ro­pa wie­der dro­hen, in die Bar­ba­rei des Krie­ges zu­rück­zu­fal­len (»Ein Tag Krieg in Eu­ro­pa ist teu­rer als uns die gan­ze Eu­ro-Ret­tungs­ak­ti­on je­mals ko­sten wird«). Als hät­te man bis 2000 im Kriegs­zu­stand mit Frank­reich ge­lebt und ak­tu­ell deut­sche Trup­pen an den dä­ni­schen und schwei­zer (Nicht-EU!) Gren­zen ste­hen wür­den. Die­se Dro­hung wird in un­ter­schied­li­chen Nu­an­cen ar­ti­ku­liert. Wenn der Eu­ro schei­te­re, so die noch harm­lo­se­ste Va­ri­an­te, schei­te­re die eu­ro­päi­sche In­te­gra­ti­on. Darf man dar­an er­in­nern, dass die Grün­der der EWG ei­ne ge­mein­sa­me Wäh­rung gar nicht in­ten­dier­ten? Wei­ter­le­sen

Bil­dung und bil­den. Ge­dan­ken.

Im Un­ter­schied zu Wis­sen und In­for­ma­ti­on, die als sta­tisch oder fest­ge­fügt an­ge­se­hen wer­den, as­so­zi­iert man „bil­den“ und „Bil­dung“ mit ei­nem Vor­gang kon­ti­nu­ier­li­cher Ver­än­de­rung. Es ist sinn­voll, von ei­nem der­zei­ti­gen Stand des Wis­sens aus­zu­ge­hen, je­doch nicht von ei­ner ak­tu­el­len, zeit­ge­mä­ßen Form von Bil­dung, die im­mer über das blo­ße Sam­meln und Ord­nen in ei­ner Art Setz­ka­sten, ei­ner Kar­tei oder ei­nem Le­xi­kon, hinaus­geht, aber oh­ne den Er­werb von Wis­sen nicht denk­bar ist: Bil­dung liegt ei­ne be­stimmte Art und Wei­se der Hand­ha­bung von In­for­ma­ti­on und Wis­sen zu Grun­de, die sie erst kon­sti­tu­iert. Die In­hal­te des Bil­dungs­pro­zes­ses, die Art und Re­le­vanz des be­tei­lig­ten Wis­sens, kön­nen (und soll­ten) un­ter dem Aspekt des Ver­falls und der Er­neue­rung be­trach­tet wer­den.

Es liegt na­he, Bil­dungs­pro­zes­se als vor­läu­fi­ge, nie ab­ge­schlos­se­ne For­mung und Ge­stal­tung auf­zu­fas­sen. Aber was ver­än­dert sich ei­gent­lich, wor­in nimmt es sei­nen Aus­gang und wel­chen Zie­len dient es? In wel­chen Re­la­tio­nen muss ein Wis­sens­er­werb ste­hen, um Bil­dung ge­nannt zu wer­den? Und was macht das zwei­te ge­gen­über dem er­sten be­son­ders? Wei­ter­le­sen

Leif Randt: Schim­mern­der Dunst über Co­by Coun­ty

Ein sil­ber­nes Fast-Qua­drat und grau-sil­ber­far­be­ne, ver­tief­te Buch­sta­ben auf wei­ßem Grund: Sel­ten hat ein Co­ver die Stim­mung ei­nes Bu­ches der­art kon­ge­ni­al be­bil­dert. Denn der­art asep­tisch er­scheint das Le­ben in der fik­tiv-uto­pi­schen Stadt Co­by­Coun­ty in Leif Randts Ro­man.

Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County

Leif Randt: Schim­mern­der Dunst über Co­by Coun­ty

Tat­säch­lich heißt es auf den Ti­tel­sei­ten noch »Co­by Coun­ty« – im Buch gibt es dann über­all die­se schicken Bin­nen­ma­jus­keln, vom Ku­chen­bring­dienst Bak­ery­Ex­press über das Mu­se­um Cony­Coun­ty­Art­house, ei­ner ehe­ma­li­gen Fa­brik (Coleman&Aura), den Hü­geln der Stadt (Co­lem­anHills) und der Ei­sen­bahn­ge­sell­schaft CC.MetroExpress. Und na­tür­lich heißt es jetzt Co­by­Coun­ty, die­ser im geo­gra­fi­schen Nie­mands­land an­ge­sie­del­te Ort, we­der USA noch Eu­ro­pa. Ein Ort, in dem der Früh­ling En­de Fe­bru­ar be­ginnt und ei­ne ganz spe­zi­el­le Jah­res­zeit zu sein scheint – warm, mit vie­len Tou­ri­sten und Un­men­gen von Par­tys und Ver­an­stal­tun­gen. Wei­ter­le­sen

Ju­dith Schal­an­sky: Der Hals der Gi­raf­fe

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Ju­dith Schal­an­sky:
Der Hals der Gi­raf­fe


In­ge Loh­mark ist Leh­re­rin am »Charles-Dar­win-Gym­na­si­um« in ei­nem nicht nä­her ge­nann­ten Ort in Vor­pom­mern – schein­bar ei­ne Re­gi­on zwi­schen Wild­ostphantasien und deut­schem Mez­zo­gior­no. Loh­mark gibt als Klas­sen­leh­re­rin Bio­lo­gie und Sport in der neun­ten Klas­se – für nur noch zwölf Schü­ler – fünf Jun­gen, sie­ben Mäd­chen. Es gibt kei­ne Kin­der mehr; erst recht kei­ne Gym­na­si­um-Taug­li­chen. Es ist die letz­te neun­te Klas­se die­ser Schu­le, die in ei­ni­gen Jah­ren ge­schlos­sen wer­den soll. Nach­mit­tags be­her­bergt das Ge­bäu­de heu­te schon die Volks­hoch­schu­le (was von tei­len des Kol­le­gi­ums nicht gern ge­se­hen ist).

In­ge Loh­mark ist seit drei­ßi­ge­in­halb Jah­ren Leh­re­rin und vom al­ten Schlag. Wenn sie »Set­zen« sagt, set­zen sich die Schü­ler; die Sport­stun­de be­ginnt sie mit ei­nem zünf­ti­gen »Still­ge­stan­den«. Ihr Un­ter­richt ist krei­de­la­stig und fron­tal. Sie kennt kei­ne zärt­li­che Nach­gie­big­keit, denn es lohnt sich nicht, die Schwa­chen mit­zu­schlei­fen. Sie wa­ren nur Bal­last, der das Fort­kom­men der an­de­ren be­hin­der­te. Ge­bo­re­ne Wie­der­ho­lungs­tä­ter. Pa­ra­si­ten am ge­sun­den Klas­sen­kör­per. Nach we­ni­gen Sei­ten er­kennt man, wie der Na­me der Schu­le et­was mit dem Welt­bild von In­ge Loh­mark zu tun ha­ben soll (er­ste Skep­sis). Wei­ter­le­sen

Das gro­ße Ver­sa­gen

Char­lot­te Ro­ches Schlam­pen­pa­la­ver »Schoß­ge­be­te«, der neue Neo-Rea­lis­mus der Li­te­ra­tur­kri­tik und ein klei­ner Aus­flug

»Schoß­ge­be­te« be­rich­tet von drei Ta­gen aus dem Le­ben der Eliza­beth Kiehl (33), die mit ih­rem Mann Ge­org (50) und 7jähriger Toch­ter Li­za in ei­ner »anale[n] Woh­nung« in ei­ner deut­schen Groß­stadt in der »Jo­na­than-Sa­fran-Foer-Ära« (d. i. die Ge­gen­wart) lebt. Li­zas Va­ter ist Eliza­beths Fast-Ehe­mann Ste­fan. Fast-Ehe­mann, weil drei Brü­der von Eliza­beth bei der An­rei­se zur Hoch­zeit töd­lich ver­un­glück­ten; die Mut­ter wur­de schwer­ver­letzt. Die Hoch­zeit wur­de ab­ge­sagt; die Be­zie­hung zer­brach. Li­za wur­de, wie Eliza­beth er­zählt, prak­tisch als letz­tes Mit­ein­an­der zwi­schen den bei­den ge­zeugt. Fast gleich­zei­tig lern­te Eliza­beth den Ga­le­ri­sten Ge­org ken­nen, der da­mals noch mit ei­ner an­de­ren Frau ver­hei­ra­tet war und Va­ter vom fast gleich­alt­ri­gen Max ist. (Die Verwandtschaftsver­hältnisse von Eliza­beth sind noch kom­pli­zier­ter, weil ih­re Mut­ter Liz mit drei Män­nern ver­hei­ra­tet war.) Wei­ter­le­sen

»Gruß aus dem Zeit­al­ter der Gleich­ma­chung«

In Ge­or­ge Or­wells Ro­man »1984« gibt es im Wahr­heits­mi­ni­ste­ri­um, dass sich dem Le­ser durch die Sicht auf den Prot­ago­ni­sten Win­s­ton Smith lang­sam er­schließt, ei­ne Fi­gur mit dem Na­men Am­ple­forth. Er ist ein »ver­träum­ter« Mensch mit »stark be­haar­ten Oh­ren«. Sei­ne Auf­ga­be be­steht dar­in, ge­än­der­te Tex­te von Ge­dich­ten hin zu » ‘end­gül­ti­gen Fassun­gen’ « zu er­stel­len. Er be­saß bei al­ler Un­tüch­tig­keit, die ihm at­te­stiert wird, immer­hin das Ta­lent, »mit Rei­men und Vers­ma­ßen zu jon­glie­ren«. Der­art ver­än­dert konn­ten Ge­dich­te, die »ideo­lo­gisch an­stö­ßig« ge­wor­den wa­ren, in den Ge­dicht­samm­lun­gen bei­be­hal­ten wer­den. Mit Zei­tun­gen und al­len an­de­ren li­te­ra­ri­schen Tex­ten ver­fuhr man ähn­lich: Sie wa­ren ei­nem »dau­ern­den Um­wand­lungs­pro­zeß« un­ter­zo­gen. »Auch Bü­cher wur­den im­mer wie­der aus dem Ver­kehr ge­zo­gen und neu ge­schrie­ben und oh­ne je­den Hin­weis auf die vor­ge­nom­me­nen Ver­än­de­run­gen neu auf­ge­legt.«

Bei Or­well heißt das »Wirk­lich­keits­kon­trol­le«. Win­s­ton führt ein Ta­ge­buch, wel­ches er vor den all­ge­gen­wär­ti­gen Ap­par­tu­ren der Über­wa­chung ver­stecken muss. Win­s­ton will die­ser Kon­trol­le et­was ent­ge­gen­set­zen. Da­bei ist das Füh­ren des Ta­ge­buchs ei­gent­lich sinn­los, da es nie­mand je­mals le­sen wird. Der »Gruß aus dem Zeit­al­ter der Gleich­ma­chung«, den er dort ei­nes Ta­ges nie­der­schreibt, wird mit größ­ter Wahr­schein­lich­keit ver­hal­len – oder so­gar be­straft wer­den.

Or­well schrieb sei­ne Dys­to­pie be­kann­ter­ma­ßen um 1948. 1951 ver­öf­fent­lich­te Ray Brad­bu­ry die Er­zäh­lung »Der Feu­er­wehr­mann«, aus der zwei Jah­re spä­ter der Ro­man »Fah­ren­heit 451« her­vor­ging. Bei Brad­bu­ry wer­den die Bü­cher nicht mehr um­ge­schrie­ben und der je­wei­li­gen Ideo­lo­gie an­ge­passt. Sie wer­den ver­bo­ten und von Feu­er­wehr­leu­ten mit Flam­men­wer­fern ver­nich­tet. Die ver­ein­zel­ten Wi­der­ständ­ler ge­gen die­se Ty­ran­nei sind die­je­ni­gen, die sie aus­wen­dig ler­nen, be­vor sie ver­nich­tet wer­den.

In bei­den fik­ti­ven Ge­schich­ten (aber nicht nur in die­sen) gibt es ei­nen em­pha­ti­schen Glau­ben an die Wir­kung des ge­schrie­be­nen, frei­en Wor­tes. Da­her muss es von den je­wei­li­gen Macht­ha­bern wenn nicht un­ter­drückt, so doch min­de­stens im Sin­ne des Sy­stems ma­ni­pu­liert wer­den.

Or­wells Wahr­heits­mi­ni­ste­ri­um ist da­bei zum In­be­griff ei­nes im ver­bor­ge­nen agie­ren­den ma­ni­pu­la­ti­ven Pro­pa­gan­da­ap­pa­ra­tes ge­wor­den. Ana­tol Ste­fa­no­witsch ist zwei­fel­los nicht für ei­nen sol­chen Ap­pa­rat tä­tig. Er ist Sprach­for­scher, was man sei­nen Ar­ti­keln an­sieht. Er be­schäf­tigt sich in sei­nem Auf­satz »Pip­pi Lang­strumpf, Ne­ger­prin­zes­sin und Über­setzungs­problem« mit Pas­sa­gen aus Astrid Lind­grens Bü­chern »Pip­pi Lang­strumpf geht an Bord« und »Pip­pi in Ta­ka-Tu­ka-Land«. Wei­ter­le­sen