Von Ären

Gibt es ei­ne Ge­mein­sam­keit zwi­schen dem Tod von Gün­ter Grass und dem Weg­gang von Jür­gen Klopp von Bo­rus­sia Dort­mund?

Zu­nächst er­scheint die­ser Zu­sam­men­hang ver­rückt: Hier der Tod ei­nes 87jährigen Schrift­stel­lers, der mehr als 50 Jah­re gro­ße An­er­ken­nung ge­noß aber auch gleich­zei­tig po­la­ri­sier­te. Und dort ein ver­gleichs­wei­se tri­via­les Er­eig­nis: Ein Fuß­ball­trai­ner ver­lässt den Ver­ein. Zwar nicht in den üb­li­chen an­dert­halb-Jahr-Rhyth­men und nicht per Ent­las­sung – ins­be­son­de­re ist das et­was Un­ge­wöhn­li­ches – aber es ist und bleibt eben Fuß­ball.

Den­noch: Bei­de Er­eig­nis­se be­en­den ei­ne Ära in ih­rem je­wei­li­gen Be­reich. In bei­den Fäl­len en­den je­weils un­ge­wöhn­lich lan­ge Zeit­span­nen der (me­dia­len) Prä­senz (die bis zur Do­mi­nanz gin­gen). Da­bei sind Schrift­stel­ler­kar­rie­ren von 50 und mehr Jah­ren kaum mehr die Re­gel. Der Be­trieb spuckt Ta­len­te aus – und ver­schlingt sie beim zwei­ten, spä­te­stens drit­ten Buch wie­der. Je eu­pho­ri­scher heu­te der me­dia­le Tsu­na­mi aus­fällt, um­so tie­fer spä­ter der Sturz.

Im Li­te­ra­tur­be­trieb sind die Kar­rie­ren der äl­te­ren, im­mer noch pro­duk­ti­ven Schrift­stel­ler im­mer noch von ent­spre­chen­der Auf­merk­sam­keit be­glei­tet. Man kann dies mit me­dia­len Tak­ti­ken der Au­toren in Ver­bin­dung brin­gen oder, wie Ca­ro­lin John-Wenn­dorf dies an­hand von Grass, Hand­ke und Je­li­nek in ih­rem Buch macht, auch de­nun­zie­ren. Da­bei ver­gisst man oft, dass die Me­ta­mor­pho­sen und Stra­te­gien der Prot­ago­ni­sten des Li­te­ra­tur­be­triebs von den Me­di­en mit größ­tem In­ter­es­se ver­brei­tet wer­den. Äs­the­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen, d. h. Dis­kus­sio­nen um die Li­te­ra­tur sel­ber, tre­ten da­bei im­mer mehr zu­gun­sten ei­nes Even­tis­mus zu­rück. Dies dem Au­toren, der Au­torin, vor­zu­wer­fen, greift zu kurz. Viel­mehr herrscht ei­ne Art von ge­gen­sei­ti­ger Ab­hän­gig­keit zwi­schen Kul­tur­schaf­fen­den und Me­di­en.

Die­se Si­tua­ti­on ist beim Mas­sen­phä­no­men Fuß­ball ist noch stär­ker aus­ge­prägt, weil es mas­sen­taug­li­cher ist. Nach­wuchs­spie­ler, die ein, zwei gu­te Spie­le zei­gen, wer­den so­fort von Me­di­en um­ju­belt und schnell von grö­ße­ren Ver­ei­nen um­wor­ben. Ent­wick­lun­gen wer­den nicht ab­ge­war­tet, son­dern man ver­sucht sie, zu be­schleu­ni­gen. Ähn­li­ches gilt für Trai­ner: Ein un­er­war­te­ter Mit­tel­platz am Sai­son­ende in der Ta­bel­le mit ei­nem bis­her eher als Ab­stiegs­kan­di­da­ten ge­han­del­ten Ver­ein – und schon wer­den »Phä­no­me­ne« ent­decken und Le­gen­den er­son­nen.

Suk­zes­si­ve ver­liert die deutsch­spra­chi­ge Nach­kriegs­li­te­ra­tur ih­re Groß­vä­ter. Mit dem Tod von Sieg­fried Lenz im letz­ten Jahr und nun Gün­ter Grass stellt sich ver­mehrt die Fra­ge: Was bleibt von die­sen Schrift­stel­lern? Was bleibt über­haupt von den »Kahlschlagliter­aten« der Grup­pe 47? Wer liest heu­te noch Al­fred An­dersch, Wolf­diet­rich Schnur­re, Hein­rich Böll? Ket­ze­risch ge­fragt: Wer kennt sie über­haupt noch – au­ßer als Zi­ta­te?

Si­cher­lich: Das Werk von Grass wird noch auf Ge­ne­ra­tio­nen Ger­ma­ni­sten be­schäf­ti­gen und zu in­tel­lek­tu­el­len Hö­hen­flü­gen be­we­gen kön­nen. Aber dar­über hin­aus? Wer wird in 20 oder 30 Jah­ren be­stimm­te hi­sto­ri­sche Ent­wick­lun­gen in den Ro­ma­nen der ge­nann­ten oh­ne Hil­fe noch nach­voll­zie­hen kön­nen? »Dan­tons Tod« von Ge­org Büch­ner kann man zur Not auch noch ver­ste­hen, wenn man die Prot­ago­ni­sten der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on nicht kennt. Aber man kann es dann nur als Lehr­stück ver­ste­hen – ein wei­ter­ge­hen­der Sinn er­schließt sich erst, wenn man ei­ni­ge hi­sto­ri­sche De­tails kennt bzw. her­an­zieht. Zeit­ge­nös­si­sche Thea­ter­in­sze­nie­run­gen des Stückes ver­wei­gern sich meist die­ser hi­sto­ri­schen Kon­tex­tua­li­sie­rung. Am En­de bleibt nur das Ge­rüst des Stückes er­hal­ten. Pro­sa kann aber nicht auf die­se Art und Wei­se »be­ar­bei­tet« wer­den. Sie kann noch nicht ein­mal durch ei­ne neue Über­set­zung auf­ge­peppt wer­den, so­fern es sich um deutsch­sprachige Li­te­ra­tur han­delt. Aber die Pro­sa, um die es hier geht, bleibt ur­tüm­lich. Ihr Vor­teil kann auch ihr Nach­teil sein: Sie ist ein­ge­bet­tet in ei­ne Zeit. Aber was, wenn sich die­se Zeit von den po­ten­ti­el­len Re­zi­pi­en­ten im­mer mehr ent­fernt?

Wenn man sagt, dass mit Grass’ Tod eben auch ei­ne Ära zu En­de ge­gan­gen ist, dann ist ab­seh­bar, dass sich die Re­zep­ti­on von Grass’ Werk oh­ne ihn sel­ber als ver­füg­ba­re Fi­gur ver­flüch­ti­gen wird. Na­tür­lich wird es noch Jah­res­ta­ge, Ju­bi­lä­en und Fei­er­stun­den ge­ben. Viel­leicht ent­deckt man auch das ein oder an­de­re ver­schol­le­ne Ma­nu­skript noch. Aber wer mag sich für die­se li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen De­tails noch in­ter­es­sie­ren, wenn das Werk als sol­ches ei­ner be­stimm­ten Epo­che zu­ge­wie­sen wur­de?

Fuß­ball­trai­ner-Groß­vä­ter wer­den an ih­ren Er­fol­gen ge­mes­sen. Sie hei­ßen bei­spiels­wei­se Sepp Her­ber­ger, Hen­nes Weis­wei­ler oder Udo Lat­tek. Aber wer schaut sich heu­te noch frei­wil­lig Fuß­ball­spie­le die­ser Jah­re an? Sie wir­ken wie aus ei­ner weit ent­fern­ten Ver­gan­gen­heit; fast ein we­nig put­zig. Was bleibt ist der Nim­bus der er­folg­rei­chen Klubs, Spie­ler, Trai­ner, Ma­na­ger. Die Spiel­wei­sen sind über­holt. Die Ti­tel, die außerge­wöhnlichen, un­ver­gess­li­chen Er­eig­nis­se, die »Dra­men« – sie blei­ben.

Der Nim­bus bei Schrift­stel­lern ist et­was für Nicht-Le­ser. Le­ser dür­fen sich von Ka­no­ni­sie­run­gen nicht be­ein­flus­sen las­sen. Ei­ne Er­folgs­ge­schich­te, wie es sie im Fuß­ball gibt, ent­fällt hier weit­ge­hend. Was gleich ist, ist die Emo­tio­na­li­sie­rung des Le­sers, des Fuß­ball­zu­schau­ers. Er weiß noch Jahr­zehn­te spä­ter die Aus­wir­kun­gen sei­nes Kon­sums (der Lek­tü­re, des Fuß­ball­ereig­nis­ses) zu evo­zie­ren.

So wird der Le­ser wie der Fuß­ball­fan zum Ve­te­ra­nen sei­ner Er­in­ne­rung. Hier­in liegt das Ge­heim­nis von Ären – sei es die Ära Grass, die Ära Rad­datz oder eben die Ära Klopp bei Dort­mund. (Es lie­ße sich be­lie­big fort­set­zen auch mit Po­li­ti­kern, Mu­si­kern, Fern­seh­stars oder Schau­spie­lern.) Die Ära setzt den Er­in­ne­rungs­pflock (der nicht zwin­gend po­si­tiv kon­no­tiert sein muss). Das kann die er­ste Lek­tü­re ei­nes Bu­ches sein oder ei­ne Fernseh­serie, ei­ne Hoch­zeit ei­nes Fuß­ball­ver­eins oder ein Mu­sik­fe­sti­val. Ei­ne Ära wird fast nie als sol­che emp­fun­den, so­lan­ge sie noch be­steht. Erst ihr En­de macht die Ära zur Ära.1 Erst dann ent­steht das Ge­fühl, et­was Be­son­de­res mit­er­lebt zu ha­ben und da­bei­ge­we­sen zu sein. Da­her klin­gen die Chro­ni­sten ei­ner Ära im­mer nost­al­gisch, zu­wei­len sen­ti­men­tal.

Die Ära ver­klärt im­mer. Aber oh­ne Ver­klä­rung gä­be es kei­ne Ära.


  1. Vom Ende einer Ära zu sprechen ist also eigentlich ein Pleonasmus. 

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Könn­te es viel­leicht sein, dass Sie ein Al­ter er­reicht ha­ben, in dem der Rück­spie­gel im­mer brei­ter wird? Als Sie Hand­ke ge­le­sen ha­ben, wel­che Schrift­stel­ler wa­ren da in Grass’ heu­ti­gem Al­ter? Wer liest die noch? Ich ha­be ge­ra­de Bahn­wär­ter Thiel ge­le­sen, wenn man das über­haupt noch zu­ge­ben darf. Über den No­bel­preis­trä­ger Haupt­mann wird heu­te doch eher mil­de ge­lä­chelt. Ob Grass das auch pas­sie­ren wird? Sich das Werk al­so nicht nur ver­flüch­tigt, son­dern ein­fach nicht mehr ernst ge­nom­men wird.

    Be­son­ders ist mir das Pro­blem der ab­ge­schlos­se­nen Sphä­ren üb­ri­gens auf­ge­fal­len, als Rad­datz sich wei­ger­te Chri­sti­an Kracht über­haupt noch zur Kennt­nis zu neh­men.

  2. Ich ver­su­che, den Rück­spie­gel nicht brei­ter wer­den zu las­sen, in­dem ich nach wie vor li­te­ra­ri­sche Neu­erschei­nun­gen le­se.

    Die Sa­che mit Rad­datz ist in­ter­es­sant. Das Phä­no­men, sich mit neu­er Li­te­ra­tur nicht mehr aus­ein­an­der­set­zen zu wol­len, ist ja nur re­zi­prok da­zu, Haupt­mann nicht mehr für »sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig« zu hal­ten. In bei­den Fäl­len ver­bleibt man in sei­ner Bla­se. Die ei­ne ist rück­wärts­ge­wandt (Rad­datz), die an­de­re das, was man »pro­gres­siv« nennt.

    Bei Rad­datz kam ja da­zu, dass er et­li­che sei­ner ka­no­ni­sier­ten Lek­tü­ren im Al­ter nur noch fa­de fand. So­gar der »Krull« von Tho­mas Mann fand nicht mehr sei­ne Gna­de (die »Bud­den­brooks« al­ler­dings blie­ben).

  3. Glück­lich ist der, der sei­nen Le­se­ka­non nicht recht­fer­ti­gen muss. Die Lenz-Wal­ser-Frisch-Bla­se mei­ner Ju­gend konn­te ich glück­li­cher­wei­se im Lau­fe der Zeit kon­zen­trisch er­wei­tern (ja, spä­ter auch durch Sei­ten wie die­se). Viel­leicht des­halb, weil ich zum En­de der Ära der Nach­kriegs­li­te­ra­tur zu le­sen be­gann und von die­ser gro­ßen Pha­se der deut­schen Li­te­ra­tur ge­wapp­net, in die Welt der frem­den Bü­cher zog.

    Ich kann mir aber gut vor­stel­len, dass die Grup­pe-47-Zeit­ge­nos­sen tat­säch­lich ei­ne Zä­sur emp­fun­den ha­ben, die nicht al­le über­win­den woll­ten oder konn­ten. Das war ei­ne Ära, die von Li­te­ra­tur be­glei­tet, viel­leicht teil­wei­se so­gar ge­formt wur­de. Das gibts es heu­te nicht mehr. Ich glau­be nicht, dass man zum To­de Krachts o.Ä. vom En­de der Ära der Pop­li­te­ra­tur spre­chen wird. An­de­re Au­toren, die man spä­ter als stil­bil­dend nen­nen könn­te, fal­len mir schon gar nicht mehr ein. Wenn ein Lenz-Le­ser der er­sten Stun­de al­so sen­ti­men­tal zu­rück­blickt, will ich das nicht Ver­klä­rung nen­nen.

  4. Ich glau­be nicht, dass man zum To­de Krachts o.Ä. vom En­de der Ära der Pop­li­te­ra­tur spre­chen wird.
    In­ter­es­san­ter Ge­dan­ke. Ab­ge­se­hen da­von, dass ich die Be­zeich­nung »Pop-Li­te­rat« bzw. »Pop-Li­te­ra­tur« für ein biss­chen feuil­le­to­ni­stisch hal­te: Das kommt am En­de auf die Ent­wick­lung von Kracht als Schrift­stel­ler an. Man kann mit 60 nicht mehr »Pop« schrei­ben. Die Fra­ge wird dann sein, in­wie­fern er sich bis da­hin wei­ter­ent­wickelt hat. Man den­ke an Koep­pen, der Jahr­zehn­te kein si­gni­fi­kan­tes Buch mehr ge­schrie­ben hat­te als er starb. Al­len­falls das Ge­rücht ei­ner bal­di­gen Neu­erschei­nung hielt ihn ein biss­chen im Small­talk des Be­triebs. Der Haupt­grund für Schrift­stel­ler auch noch in ho­hem Al­ter zu schrei­ben dürf­te auch dar­in lie­gen, nicht vor­zei­tig ver­ges­sen zu wer­den. Nicht je­dem ist das Pri­vi­leg zu­teil, früh zu ver­ster­ben und dann als My­thos so­zu­sa­gen »ewi­ges Le­ben« zu ha­ben...

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