Uwe Tell­kamp: Der Turm

Uwe Tellkamp: Der Turm

Uwe Tell­kamp: Der Turm

Ri­chard Hoff­manns 50. Ge­burts­tag En­de No­vem­ber 1982 in Dres­den – und die Fa­mi­lie, die Freun­de, die Ar­beits­kol­le­gen (ei­ni­ge da­von »Ge­nos­sen«) kom­men zu­sam­men; auch die­je­ni­gen, die man sonst sel­ten oder nie sieht (es gibt Be­such aus Süd­ame­ri­ka). Hoff­mann ist Chir­urg, sei­ne Frau An­ne (ge­bo­re­ne Roh­de) Kran­ken­schwe­ster. Sohn Chri­sti­an ist 17 Jah­re alt, Ro­bert zwei­ein­halb Jah­re jün­ger.

Die Vor­be­rei­tun­gen zu die­ser Fei­er, dann die Fei­er­lich­kei­ten sel­ber (man er­in­nert sich an an­de­re Bü­cher, die so be­gin­nen), dem gro­ssen und teu­ren Buf­fet (mit manch sel­te­nen Zu­ta­ten), dem in­ni­gen Haus­kon­zert von Chri­sti­an und Ez­zo und Reg­lin­de (den Kin­dern von Chri­sti­ans On­kel Ni­klas), den »Feh­den« der Blas- und Streich­in­stru­men­ta­li­sten. Fest­re­den mit po­li­tisch ein­deu­ti­gen oder mehr­deu­ti­gen An­spie­lun­gen. Über­haupt das Ge­plau­der, die Dis­pu­te: man kurz nach dem Tod von Leo­nid Bre­sch­new, die Spe­ku­la­tio­nen um den Nach­fol­ger An­dro­pow sind voll im Gan­ge, in Deutsch­land hat­te es Hel­mut Kohl ge­schafft und man hört von der Hoff­nung, der We­sten wür­de end­lich dem »Neu­en« här­ter ent­ge­gen­tre­ten. Die schrof­fe Ab­leh­nung Hoff­manns der west­deut­schen Ost­po­li­tik ge­gen­über, die als Wan­del durch An­bie­de­rung ver­spot­tet wird – und die Ge­gen­po­si­ti­on der Frie­dens­be­weg­ten. Das Zwi­schen-den-Zei­len-Le­sen in den Wurst- und Käseeinwickelpapier[en] na­mens »Säch­si­sche Neue­ste Nach­rich­ten«, »Säch­si­sches Ta­ge­blatt« und, vor al­lem, »Säch­si­sche Zei­tung«.

Wie er­leb­nis­reich so ein An­ste­hen in der Schlan­ge zum Buf­fet wer­den kann. Mut­ma­ssun­gen über die Zu­sam­men­set­zung der Spei­sen, die po­li­ti­schen Wit­ze und die Vor­sicht, wenn dann der li­ni­en­treue Kli­nik­chef Mül­ler auf die Grup­pe zu­kommt, er, der vor­her im Na­men der Aka­de­mie ein Bild des von Hoff­mann so ver­ehr­ten Ma­lers Curt Quer­ner über­reicht hat (und Jah­re spä­ter, nach sei­ner Pen­sio­nie­rung, Selbst­mord be­geht, weil man ihm jetzt, als man ihn nicht mehr braucht, ob sei­ner Mau­sche­lei­en be­lan­gen will). Schon hier zeigt sich Tell­kamps Kön­ner­schaft im Ver­dich­ten von Stim­mun­gen. Po­li­tik, die un­mit­tel­bar wirkt und nicht im ab­strak­ten Raum ver­or­tet ist (hier der Un­ter­schied zum po­li­ti­schen Dis­kurs zur glei­chen Zeit in West­deutsch­land, der be­stimm­te – vor al­lem öko­no­mi­sche – Po­si­tio­nen nicht be­fra­gen muss­te). Schon auf die­sen er­sten Sei­ten bannt der Au­tor den an­fangs ein biss­chen skep­ti­schen Le­ser oh­ne ihn in fal­sche Kom­pli­zen­schaft zu ver­stricken und in­du­ziert ei­ne Em­pa­thie, die nicht mit Sym­pa­thie gleich­zu­set­zen ist. Von nun an reisst der Stru­del die­ses Bu­ches den Le­ser mit.

Dresd­ner Re­fu­gi­en­bür­ger­tum

Dresd­ner Stadt­teil Wei­ßer Hirsch, Turm­stra­sse, die Be­woh­ner des Turms: des Tau­send­au­gen­hau­ses, der Ka­ra­vel­le, des Haus Abend­stern. Die Hoff­manns, Roh­des, ih­re Freun­de und Be­kann­ten. Sie re­prä­sen­tie­ren das, was Mar­cel Bey­er neu­lich tref­fend als »Re­fu­gi­en­bür­ger­tum« be­zeich­ne­te: ein re­gime­kri­ti­sches, aber nicht op­po­nie­ren­des Bil­dungs­bür­ger­tum, wel­ches sich als Ab­gren­zung zur tum­ben »so­zia­li­sti­schen« Gleich­heits­ideo­lo­gie (die eh mei­sten­teils nur Fas­sa­de war, wo­von in die­sem Buch aus­führ­lich die Re­de ist) Rück­zugs­räu­me ge­schaf­fen hat und dort ei­ne Art Frei­geist ver­such­te, der ent­fernt ein biss­chen an Struk­tu­ren des (west­deut­schen) evan­ge­li­schen Pfarr­hau­ses er­in­nert (oh­ne die­ses zu ko­pie­ren).

Vor­kriegs­wa­re ist hier kei­ne de­spek­tier­li­che Be­zeich­nung für ei­nen Ge­gen­stand der sech­zig Jah­re oder äl­ter ist, son­dern Aus­druck von Wert­schät­zung (neu­deutsch: Qua­li­tät), von Im­mer-noch-Funk­tio­nie­ren, von Lie­be zum De­tail (wie wort­reich dies ze­le­briert wird, et­wa beim Be­schrei­ben des Ba­ro­me­ters, wel­ches Ri­chard von der Fa­mi­lie ge­schenkt be­kommt, die­ses Schnitz­werk aus Ei­chen­holz […] »An­e­ro­id-Ba­ro­me­ter«, stand in Frak­tur­schrift auf der wei­ssen Ska­lie­rung…). Man hört im Haus die Plat­ten der Co­me­di­an Har­mo­nists, Me­lo­dien vol­ler Weh­mut und tap­fe­rer Sen­ti­men­ta­li­tät (wohl ge­merkt: man schreibt die 80er Jah­re).

So scheint die Zeit ste­hen­ge­blie­ben, ob­wohl die Uhr im Tau­send­au­gen­haus al­le zehn Mi­nu­ten schlägt. Aber der »Nach­schub« ist längst ver­siegt (Mu­sik, Li­te­ra­tur, Phi­lo­so­phie – aber auch all­täg­li­che Ge­gen­stän­de). Das, was man ha­ben möch­te, gibt es nicht und das, was man be­kommt, ist un­zu­läng­lich (wenn nicht gar un­brauch­bar); so­zu­sa­gen be­schmutzt, wenn nicht so­gar (im manch­mal fast wört­li­chen Sinn) ver­gif­tet. Ei­ne herr­lich-wil­de Phil­ip­pi­ka Ri­chards auf die Au­to­mo­bi­le, die es in der DDR gibt, il­lu­striert das: …was ha­ben wir? Ei­nen fah­ren­den Hut na­mens Da­cia, ei­ne in ei­nen Frosch ver­wan­del­te Sar­di­nen­büch­se na­mens Sa­po­ros­hez, ei­nen Klein­bür­ger­traum mit der Ae­ro­dy­na­mik ei­nes Schnee­pflugs na­mens Wart­burg; wir ha­ben ein stot­tern­des Ko­miß­brot, ge­hei­ßen Pol­ski Fi­at, ei­ne heu­len­de Zu­mu­tung na­mens Tra­bant, ge­nannt Renn­pap­pe […] nicht se­ri­en­mä­ssig die Oh­ren­schüt­zer, die wir tra­gen müss­ten, wenn wir mit Tem­po 70 an die Ost­see knat­tern und glau­ben, uns im In­ne­ren ei­nes schrei­en­den Ba­by­ra­chens zu be­fin­den!

We­der rück­wärts­ge­wand­te Idyl­le noch Vi­si­on

Re­fu­gi­en­bür­ger­tum als Ni­schen­exi­stenz in der Stadt der Ni­schen. So­weit es mög­lich ist, den »so­zia­li­sti­schen« All­tag nicht her­an­kom­men las­sen. Wäh­rend der Staat sich und sei­ne Bür­ger ein­ge­mau­ert hat, mau­ern sich die Tür­mer vom Staat (und vor dem Staat) ein, wah­ren zwar nach au­ssen Kon­for­mi­tät, sind je­doch ma­xi­mal neu­tral und le­ben in ei­ner Welt ir­gend­wo zwi­schen Goe­the und Tho­mas Mann. Was aber auch nicht ge­schieht: die Ver­klä­rung des Ver­gan­ge­nen. Es gibt we­der Sen­ti­ment noch ei­ne ir­gend­wie ge­ar­te­te Per­spek­ti­ve und schon gar kei­ne »Vi­si­on«; Vor­bil­der sind Klas­si­ker.

Al­ler­dings wird die­se »Türmer«-Gesellschaft, die durch Wohn­raum­zu­tei­lun­gen mit li­ni­en­treu­en Bür­gern von Amts we­gen »un­ter­wan­dert« zu wer­den droht (was je­doch weit­ge­hend ver­pufft) we­der als Idyl­le ei­ner sich hart­näckig Zwi­schen­räu­me er­ar­bei­ten­den Bil­dungs­bür­ger­schicht (die ja im ideo­lo­gi­schen Kos­mos der DDR gar nicht vor­ge­se­hen war) er­zählt, noch he­roi­siert als »Wi­der­ständ­ler«, die um ih­re in­tel­lek­tu­el­le Red­lich­keit kämp­fen (und da­bei im­mer wie­der Pro­blem be­kom­men, nicht in di­rek­te Op­po­si­ti­on zu ver­fal­len). Bei Ri­chard Hoff­mann, der un­vor­sich­ti­ge und manch­mal so­gar cho­le­ri­sche Chef­arzt, we­nig spä­ter zum Me­di­zi­nal­rat er­nannt (ge­konnt ver­steht es Tell­kamp das merk­wür­di­ge, aber nach ge­wis­sen wenn auch un­durch­sich­ti­gen Re­geln struk­tu­rier­te Po­sten­ge­scha­che­re zu skiz­zie­ren), ent­deckt man im Fas­sa­den­le­ben sei­nes Re­fu­gi­en­da­seins ei­ne zu­sätz­li­che Fas­sa­de.

Er hat ein Ver­hält­nis mit der In­sti­tuts­se­kre­tä­rin Jo­sta und mit ihr ei­ne drei­jäh­ri­ge Toch­ter, die er (schein­bar) ab­göt­tisch liebt (das gro­sse Glück). Die Be­zie­hung zu den bei­den re­du­ziert sich auf den Don­ners­tag Nach­mit­tag. Er ist aber nicht be­reit, sei­ne Fa­mi­lie zu Gun­sten von Jo­sta auf­zu­ge­ben. Man ver­sucht, ihn mit die­sem Ver­hält­nis zu er­pres­sen. Hoff­mann hat­te schon ein­mal, als 19jähriger für die Fir­ma ge­ar­bei­tet. Er be­ruft den Fa­mi­li­en­rat ein, will zum Schein auf das »An­ge­bot« ein­ge­hen, was die Fa­mi­lie em­pört ab­lehnt. Und An­ne ahnt, dass da noch et­was sein muss (»mit ei­ner Frau«), aber Ri­chard leug­net es ihr ge­gen­über. Erst spä­ter wird al­les pu­blik (Chri­sti­an er­fährt in der Ar­mee da­von) und man ar­ran­giert sich (ganz zum Schluss wird An­ne noch po­li­tisch ak­tiv, wäh­rend Ri­chard sei­nen zer­stör­ten Old­ti­mer be­trau­ert).

»Ost­rom«

Oder der Lek­tor Me­no Roh­de, Jahr­gang 1940, vor­mals Zoo­lo­ge (aus »kom­mu­ni­sti­scher Fa­mi­lie«). Sei­ne fast schon ver­zwei­fel­ten Ver­su­che, in­mit­ten die­ser ni­vel­lier­ten Ge­sell­schaft so et­was wie Kul­tur zu pfle­gen. Aber auch er kann (und mag) sich bei­spiels­wei­se dem ehr­ab­schnei­den­den Pro­ze­de­re, wel­ches ei­ne ge­plan­te Buch­pu­bli­ka­ti­on zu über­ste­hen hat, nicht ent­zie­hen. Vom Gut­ach­ten des Lek­tors (das war er), über das Au­ssen­gut­ach­ten ei­nes nicht im Ver­lag tä­ti­gen Lek­tors mit Pu­bli­ka­ti­ons­emp­feh­lung Ja oder Nein nebst Be­grün­dung der Ent­schei­dung, dann ging das Gan­ze zum Zen­sor, und wenn der sich un­si­cher war…ging das Kon­vo­lut bis zum Bü­cher­mi­ni­ster. Me­no wur­de von sei­nem Chef, dem Ver­lags­lei­ter, be­auf­tragt, im Ge­spräch mit dem Au­tor an­klin­gen zu las­sen, wel­che Stel­len man bes­ser ver­än­de­re, ab­schwä­che und zu klä­ren, in­wie­weit er zu Zen­sur, das heisst: zur Selbst­zen­sur, be­reit war. Nun al­so sein Aus­flug nach Ost­rom zum Schrift­stel­ler Ge­org Alt­berg (ge­bo­ren 1922; Sol­dat un­ter den Na­tio­nal­so­zia­li­sten). Ost­rom, die Ka­ser­nen­stadt der No­men­kla­tu­ra für die man ei­nen Pas­sier­schein braucht und die mi­li­tä­risch ge­si­chert ist. Me­no ist dort bei den di­ver­sen Funk­tio­närs­grö­ssen ge­le­gent­lich zu Gast; kommt da den »Raub­tie­ren« sehr na­he, ver­sucht ih­re Ge­schich­ten zu ver­ste­hen und merkt schliess­lich, dass ih­re Le­gi­ti­ma­ti­on, die sie – Mit­läu­fer oder Wi­der­ständ­ler des Na­zi-Re­gimes – ins Feld füh­ren, längst auf­ge­braucht ist, dass es nur noch hoh­le Recht­fer­ti­gun­gen sind.

Ei­ne Fahrt mit dem Zug »Schwar­ze Mat­hil­de« durch Ost­rom. Viel Ko­lo­rit, ei­ni­ges an Ost­al­gie (es gibt ei­ne ris­si­ge, mit Heft­pfla­ster ge­si­cher­te Klin­gel), aber auch viel Dreck, viel Mut­lo­sig­keit und viel Heu­che­lei. Und am En­de sind es die ge­stutz­ten, zen­sier­ten, nicht ver­öf­fent­lich­ten oder gar aus­ge­sto­sse­nen Schrift­stel­ler, die ih­re Lek­to­ren, Ober­lek­to­ren und Zen­so­ren fast noch trö­sten müs­sen und da fast je­der gleich­zei­tig zen­siert und ge­stutzt wird, aber auch sel­ber wie­der an­de­re zen­siert und stutzt, ent­steht ein fast un­durch­dring­li­ches Knäu­el von Be­gün­sti­gun­gen, Vor­teils­nah­men, Er­nied­ri­gun­gen und De­mü­ti­gun­gen.

Der Ein­blick in die (fik­ti­ve) Dresd­ner Li­te­ra­tur- und In­tel­lek­tu­el­len­sze­ne: Er­nüch­ternd ob ih­rer Pro­fa­ni­tät, ih­res Op­por­tu­nis­mus, ih­rer Blind­heit, ih­rer Welt­ab­ge­wandt­heit, ih­res pseu­do­eli­tä­ren Ge­ba­rens. Nicht ein­mal Mit­leid kommt da noch auf (und auch das, die­ses Nicht-Mit­leid-Ha­ben ist viel­leicht auch schon eli­tär; »bil­dungs­bür­ger­lich«?). Nein, man möch­te kei­nen die­ser Men­schen nä­her ken­nen­ler­nen.

All dies per­so­nal aus der Sicht Me­no Roh­des er­zählt – ei­nes Be­trach­ters par ex­cel­lence, je­mand, der sich sei­nen Teil denkt (und ihn im Ta­ge­buch auf­schreibt – an­de­re schrei­ben prin­zi­pi­ell nichts auf, aus Furcht vor – ja, vor was wohl?), aber letzt­lich pas­siv bleibt (sein En­ga­ge­ment für die jun­ge Ju­dith Sche­vo­la, die spä­ter aus dem Schrift­stel­ler­ver­band aus­ge­schlos­sen wird, ist rein de­fen­si­ver Na­tur).

Nur ein­mal ein Ins-Ge­richt-ge­hen von Me­no Roh­de mit den »Tür­mern« (und sich sel­ber), die­se Höh­len­be­woh­ner in ih­rer fu­gen­dich­ten Welt:

Goe­the ist ihm der wich­tig­ste, aber nur, weil er al­len hier oben der wich­tig­ste ist, und er ist ih­nen der wich­tig­ste nicht, weil sie sich mit ihm aus­ein­an­der­ge­setzt, ihn stu­diert und ge­prüft, sei­ne manch­mal wohl­fei­len Sprüch­lein an ih­rer Wirk­lich­keit und Le­bens­er­fah­rung ge­mes­sen ha­ben, son­dern weil er an­er­kannt und sank­tio­niert, weil er des Bür­gers, der sie im Grund ih­res Her­zens hier oben al­le sind, lieb­ster Ja­sa­ger, ober­ster Rats­herr, Ge­ne­ra­lis­si­mus der Mei­nun­gen und Ge­müts­fürst; weil er der Prä­ge­kö­nig ih­rer Zi­ta­ten-Mün­ze ist. […] Und so sind sie al­le hier oben, am lieb­sten wür­den sie im Al­ten Dres­den le­ben, die­ser fein-ba­rocken Pup­pen­stu­be und pseu­do­ita­lie­ni­schen Zucker­bäcke­rei, sie seuf­zen »Frau­en­kir­che!« und »Ta­schen­berg­pa­lais!« und »Hach, die Sem­per­oper!«, aber nie »Au­ßen­toi­let­ten! Die herr­lich cho­le­ra­be­för­dern­den Sa­ni­tär­be­din­gun­gen« oder »Die Syn­ago­ge!« oder »Die be­frei­en­den Wohn­ver­hält­nis­se frü­her, zehn Mann auf ei­ne Miets­ka­ser­nen­woh­nung!«, sie sa­gen nie »die Na­zis«, son­dern »die Tief­flie­ger«, re­den von »Mor­gen­stern der Ju­gend« und »wer das Wei­nen ver­lernt hat, der lernt es wie­der beim Un­ter­gang Dres­dens«, und dann schlug Me­no vor Un­mut mit der Faust ge­gen ei­nen Baum. Es stimm­te, und doch war er un­ge­recht.

»Wis­sen, der ge­hü­te­te Schatz«

In­mit­ten die­ser Am­bi­va­len­zen: die Haupt­fi­gur die­ses Bu­ches Chri­sti­an Hoff­mann. Ein Träu­mer, der sich als To­nio Krö­ger sieht und dann wie­der (mit­tels sei­ner Post­kar­ten­samm­lung) auf Rei­sen ins klas­si­sche Kon­stan­ti­no­pel, je­mand mit ei­ner schar­fen Wahr­neh­mung, ei­nem ge­nau­en Blick. Et­wa zu Be­ginn des Bu­ches, als er in das Tau­send­au­gen­haus kommt, die­sem Haus zwi­schen Stil­le und Un­stil­le, dem Ka­ter Cha­ka­man­ka­bu­di­baba (be­nannt nach ei­ner Hauff­schen Mär­chen­fi­gur [drun­ter geht’s nicht]), den Pa­pie­ren Me­nos auf dem Schreib­tisch, den Fo­to­gra­fien an den Wän­den (un­ter an­de­rem ei­nes von Dö­nitz). Mu­se­al. Und die schla­gen­de Uhr wie ei­ne Ver­ge­wis­se­rung, dass die Zeit doch nicht ste­hen­ge­blie­ben ist in die­sem Haus, in dem Öfen früh mor­gens an­ge­macht wer­den müs­sen. Wo­bei Koh­len knapp sind und Holz­fäl­len ge­fähr­lich ist. Wo­mit wie­der die All­täg­lich­keit ein­kehrt.

In den Dresd­ner Ta­gen, die »Tür­mer« be­su­chend, sei­nen Lieb­lings­on­kel Ni­klas (nicht Me­no!), der sich im Ver­lauf des Bu­ches im­mer mehr ein­ge­spon­nen hat – in »sei­ner« Mu­sik, zu­sam­men mit sei­ner af­fek­tier­ten Frau Gud­run. Die »Un­ter­rich­te« dort, die­ses Auf­sau­gen von all dem Wis­sen, was es in der Schu­le nicht gibt, denn Wis­sen hiess der ge­hü­te­te Schatz die­ser hier oben, wo »Ba­nau­se« ein Schimpf­wort ist. Chri­sti­ans Au­ssen­sei­ter­tum; er ist un­ter den Au­ssen­sei­tern ein Au­ssen­sei­ter; im­mer noch ei­ne Ab­schot­tung, noch ei­ne Mau­er mehr (ein Grund­the­ma die­ses Bu­ches).

Chri­sti­an, der ir­gend­wann Le­se­süch­ti­ge (Mit 500 Sei­ten be­gan­nen die wirk­li­chen Ro­ma­ne. Mit 500 Sei­ten be­gann der Oze­an, drun­ter war Bach­pad­deln) im In­ter­nat der Er­wei­ter­ten Ober­stu­fe, er, das Dresd­ner Groß­stadt­kind mit der pu­ber­täts­ge­plag­ten Haut in Wald­brunn, der Haupt­stadt des Ost­erz­ge­bir­ges. Und na­tür­lich die Mit­schü­ler dort. Die li­ni­en­treue Swet­la­na (Jah­re spä­ter er­fährt er von ih­rer Zu­nei­gung ihm ge­gen­über), die hüb­sche Ve­re­na (lei­der an Sieg­bert ver­ge­ben; der ein­zi­ge, der um Chri­sti­ans Freund­schaft buhlt), die im Staats­bür­ger­kun­de­un­ter­richt ein­mal ein lee­res Blatt statt ei­nes Auf­sat­zes ab­gab und nur mit Mü­he auf der Schu­le blei­ben konn­te (sie wird spä­ter ei­nen Aus­rei­se­an­trag stel­len und ins Nir­wa­na ei­ner per­so­na-non-gra­ta fal­len) und na­tür­lich Rei­na (wie ero­ti­sie­rend kann für ei­nen 17jährigen ei­ne ra­sier­te Ach­sel­höh­le sein), die Chri­sti­an zu mö­gen scheint, aber vor der man ihn warnt (und da­her bleibt er re­ser­viert). Chri­sti­ans Ar­ro­ganz, die Ge­ring­schät­zung ge­gen­über an­de­ren, die er ih­nen zu ver­ste­hen gibt, sei­ne eli­tär an­mu­ten­den At­ti­tü­den – man ab­sen­tiert sich von ihm, dem Schwei­ger, den sie »Mon­te­chri­sto« nen­nen, aber im­mer­hin re­spek­tie­ren.

Dann das »Vor­komm­nis« im zwei­wö­chi­gen Wehr­la­ger, als er bei der Lek­tü­re ei­nes Bu­ches ei­nes Na­zi-Kom­man­deurs »er­tappt« wird. Nur mit Mü­he ge­lingt es, un­an­ge­neh­me Fol­gen mit­tels des An­walts Sper­ber zu ver­hin­dern (Sper­ber ent­schei­det sich für das Man­dat mit ei­nem Münz­wurf). Das Vor­komm­nis hat aber den­noch ei­ne Wir­kung: Sei­nen drei­jäh­ri­gen »frei­wil­li­gen Dienst« (oh­ne die Ver­pflich­tung zu die­sem Eh­ren­dienst wä­re die Zu­sa­ge zum Stu­di­en­platz für Me­di­zin nie er­teilt wor­den) muss er in ei­ner Pan­zer­ein­heit an­tre­ten. Und hier wird ihm sein Ver­hal­ten zum Ver­häng­nis, weil sei­ne »Ka­me­ra­den« kaum Re­spekt vor dem In­tel­lekt ei­nes Men­schen zei­gen. Er, das »Mut­ter­söhn­chen« wird häss­li­chen, wi­der­li­chen In­itia­ti­ons­ri­ten aus­ge­setzt – und Chri­sti­an er­lebt am ei­ge­nen Leib, wie das Be­ob­ach­ten und Pas­si­vi­tät als Pro­vo­ka­ti­on wahr­ge­nom­men wird (und nicht ge­schätzt ist), sieht, wie an­de­re noch häss­li­che­ren De­mü­ti­gun­gen aus­ge­setzt sind und ahnt gleich­zei­tig die Ver­lockun­gen des Pei­ni­gers: den an­de­ren zu be­herr­schen; Macht.

Mau­er um Mau­er

Bei ei­ner Ge­fechts­übung be­kommt Chri­sti­an kurz­fri­stig ei­nen an­de­ren, un­er­fah­re­nen Sol­da­ten zu­ge­teilt, der töd­lich ver­un­glückt. Er ver­liert dar­auf­hin die Fas­sung, greift den Kom­pa­nie­chef mit ei­ner Axt an (der ru­sti­ka­le Kretz­schmer kann ihn im letz­ten Mo­ment zu­rück­hal­ten – stimmt Chri­sti­an aber öf­fent­lich zu), schreit sei­ne Wut über den Scheiß­staat her­aus, be­kommt da­für zu­sam­men mit Kretz­schmer (der ein­zi­ge, der am En­de über­ra­schen­der­wei­se so et­was wie ein Freund wird, viel­leicht weil bei­de so un­ter­schied­lich sind) auf­grund Straf­ge­setz­buch §220 (»Öf­fent­li­che Her­ab­wür­di­gung«), trotz Sper­bers In­ter­ven­ti­on (Jah­re spä­ter als Lohn für sei­ne Dien­ste lässt er sich An­ne »zu­füh­ren«), zwölf Mo­na­te Haft und der Ver­lust des Stu­di­en­plat­zes. In der Haft aber­mals Ein­zel­haft (im so­ge­nann­ten »U‑Boot«) und Tell­kamps Mau­er­mo­tiv er­fährt hier die höch­ste Per­fek­ti­on:

Er war in der DDR, die hat­te be­fe­stig­te Gren­zen und ei­ne Mau­er. Er war bei der Na­tio­na­len Volks­ar­mee, die hat­te Ka­ser­nen­mau­ern und Kon­troll­durch­läs­se. Er war In­sas­se der Mi­li­tär­straf­voll­zugs­an­stalt Schwedt, hin­ter ei­ner Mau­er und Sta­chel­draht. Und in der Mi­li­tär­straf­voll­zugs­an­stalt Schwedt hock­te er im U‑Boot, hin­ter Mau­ern oh­ne Fen­ster.


Chri­sti­an, er­zo­gen wie der Feind zu den­ken, die Wahr­heit zu sa­gen, aber den­noch mit Übungs­stun­den im Lü­gen und Täu­schen ge­rü­stet (sinn­los bei sei­nem Jäh­zorn), bei Me­no aufs Be­trach­ten ge­schult – er, der die­sen Staat nicht ver­steht ka­pi­tu­liert nun, re­si­gniert: Jetzt war er al­so ganz da, jetzt muss­te er an­ge­kom­men sein. […] Er hock­te nackt auf dem Fuss­bo­den, aber die ein­zi­ge Er­kennt­nis die kam, war, dass man fror, wenn man ei­ni­ge Zeit nackt auf den Stei­nen hock­te. Was half all das Ler­nen, Wis­sen, Be­trach­ten und Nach­den­ken, wenn man auf ar­chai­sches Über­le­ben zu­rück­ge­wor­fen wird? Dass man Hun­ger und Durst hat­te, dass man den Puls zäh­len kann, dass man auch in der Dun­kel­heit mü­de wird, dass man ei­ne Wei­le nichts hö­ren kann au­sser dump­fer Stil­le, und dass dann das Ohr be­ginnt, sich selbst Ge­räu­sche her­zu­stel­len, dass das Au­ge ver­sucht, stän­dig Feu­er­zeug­flämm­chen zu ent­zün­den, hier und dort und dort, und dass man in der Dun­kel­heit ver­rückt wird, auch wenn man noch so viel Ge­dich­te kennt, Ro­ma­ne ge­le­sen, Fil­me ge­se­hen und Er­in­ne­run­gen hat.

Ex­em­pla­risch für das Di­lem­ma ei­nes Staa­tes, der nur dres­sier­te Phra­sen­dre­scher will (ob­wohl – das war ein­mal in ei­nem Auf­satz Chri­sti­ans – drosch man die Phra­sen zu ein­deu­tig, merk­ten das die Leh­rer auch). Wie­der das Mau­er­the­ma: Ent­we­der man ver­kriecht sich hin­ter im­mer neu­en Mau­ern und mau­ert sich so­zu­sa­gen in ei­nem ein­ge­mau­er­ten Staat sel­ber ein (die Bei­spie­le ge­hen von sei­nem Va­ter über die No­men­kla­tu­ra in Ost­rom – auch hier dop­pel­te Ab­schir­mung – oder in der bil­dungs­bür­ger­li­chen Flucht der Tür­mer) – oder man wird vom Staat ein­ge­mau­ert. Chri­sti­an re­si­gniert, er wird ge­bro­chen; ist ein­ver­stan­den mit der Au­to­ri­tät des Staa­tes, die die­ser nur mit phy­si­scher und psy­chi­scher Ge­walt durch­zu­set­zen ver­mag. Re­si­gniert wie auch ei­ni­ge an­de­re Sol­da­ten, die zu­nächst noch mit Schwe­jkia­den oder pas­si­ver Sub­ver­si­on Kon­tra­punk­te set­zen woll­ten. Und ir­gend­wann scheint dann die Zwangs­ar­beit in der Kar­bidfa­brik fast als Er­lö­sung und spä­ter rei­nigt er Schau­fel­rad­bag­ger.

Opu­lenz und Stren­ge

In­ter­mit­tie­ren­de Er­zähl­wech­sel: Me­nos Ta­ge­buch, Chri­sti­an auf der EOS oder spä­ter in der Ar­mee und im Ge­fäng­nis, Ri­chards Er­leb­nis­se an der Kli­nik, die de­sa­strö­se, auf Günst­lings­wirt­schaft ba­sie­ren­de Ver­sor­gungs­la­ge (Vor­teils-Aus­nut­zer), Jo­stas Selbst­tö­tungs­ver­such, den sie über­lebt und ih­re Tren­nung von Ri­chard, die Ka­ba­le im Dresd­ner Schrift­stel­ler­ver­band, die spä­ter im­mer zu­neh­men­den Strom­aus­fäl­le in der Stadt, die Fe­ste und Ein­la­dun­gen der No­men­kla­tu­ra.

Rück- und Über­blen­den, die ein un­prä­ten­tiö­ses, un­ge­schön­tes, da­bei je­doch nicht per se de­nun­zie­ren­des Bild über das Le­ben die­ser Leu­te in der DDR die­ser UddSR (Uni­on der deutsch­spra­chi­gen So­wjet­re­pu­bli­ken) zeich­nen. Die an­fangs durch­aus vor­han­de­ne Eu­pho­rie, dann die Des­il­lu­sio­nie­run­gen, Ent­frem­dun­gen bis hin zum Zorn und schliess­lich Re­si­gna­ti­on, in Zy­nis­mus und Pri­va­tis­mus (so­weit mög­lich) mün­dend; ein­ge­schüch­ter­te Men­schen, die Me­no ein­mal Ver­sehr­te nennt, in ei­nem kran­ken Land (viel­mals fällt die­se Vo­ka­bel, häu­fig in seuf­zen­dem Ton).

Es stört kaum, dass der Er­zähl­ton von Me­no und Chri­sti­an ähn­lich klingt; manch­mal viel­leicht zu ähn­lich (spä­ter er­hält Chri­sti­an in der Ar­mee den Spitz­na­men Ne­mo [Nie­mand] – da wird die Nä­he zu Me­no arg auf­fäl­lig). Und auch dass ei­ni­ge Fi­gu­ren ein biss­chen sta­ti­sten­haft auf- und wie­der weg­tau­chen (bei­spiels­wei­se Chri­sti­ans Bru­der Ro­bert oder auch Jo­sta) und an­de­re trotz viel­ver­spre­chen­der Ein­lei­tung nur ein Mau­er­blüm­chen­da­sein fri­sten, sei nur am Ran­de er­wähnt.

Der Spach­duk­tus des Bu­ches ist er­staun­li­cher­wei­se ei­ner­seits aus­la­dend, opu­lent, ge­le­gent­lich mul­ti­per­spek­ti­visch ge­spie­gelt und po­ly­phon (da­bei je­doch nie­mals red­un­dant oder gar ge­schwät­zig) – an­der­seits in der Opu­lenz fast streng, un­auf­ge­regt und da­bei nie­mals pe­jo­ra­tiv; si­ne ira et stu­dio.

Tell­kamps ge­konn­te, mit­rei­ssen­de Tem­po- und Er­zähl­wech­sel. Und be­son­ders die­ses In­ne­hal­ten und Ver­ge­wis­sern (zwi­schen ada­gio und an­dan­te). Die wun­der­bar episch er­zähl­te Ab­rei­se Chri­sti­ans zu sei­ner Pan­zer­ein­heit; sein Auf­sau­gen der Bil­der – als sä­he er al­les zum letz­ten Mal (»Laß uns ein we­nig se­hen üben« – so Me­no zu Chri­sti­an und spä­ter er­fah­ren wir, dass Me­no dies von sei­nem Va­ter über­nom­men hat). Laut­ma­le­ri­sches von Hid­den­see im Ost­see­wind. Oder das Tau­wet­ter im Erz­ge­bir­ge (…der Schnee war krank, un­ter dem Harsch sin­ter­te, sicker­te es, bil­de­ten sich Was­ser­dru­sen, queck­sil­ber­ten, leck­ten Ste­ge dünn zwi­schen Firn­höh­len, such­ten ein­an­der, fan­den ein­an­der, floch­ten Rinn­sa­le.).

Viel­stim­mig, kraft­voll, sprach­ge­wal­tig: ein epi­sches Wun­der­werk

Das Her­auf­be­schwö­ren von Ge­rü­chen (auch und be­son­ders de­nen der Ar­bo­gast­schen Che­mie­fa­brik, de­ren Ge­stank so gar nicht mit des­sen Sa­lon­spie­le­rei­en – Si­mu­la­ti­on ei­nes Bil­dungs­bür­ger­tums – kor­re­spon­die­ren). Manch­mal auch Ko­mi­sches, et­wa wie die Fa­mi­lie ver­sucht, ei­ne Ko­kos­nuss zu öff­nen (es ge­lingt nicht; kein Werk­zeug er­weist sich als stark ge­nug) oder der Tan­nen­baum­wett­be­werb in der Kli­nik. Die Orts­er­zäh­lung von Leip­zig. Weih­nach­ten 1986. Ri­chard in sei­ner Werk­statt. Und im­mer wie­der Dres­den: das Al­te Dres­den, des­sen Re­si­du­en beim Spa­zie­ren­ge­hen ima­gi­nie­rend, das Me­lan­cho­lisch-Ein­sa­me der al­ten Vil­len, aber auch die krank­haf­te At­mo­sphä­re der Häu­ser rings­rum, ihr schwei­gen­der Ver­fall und dann der (um­fas­sen­de) Zie­gel­krebs, al­len­falls ge­stützt von (brü­chi­gen) Ge­rü­sten – das »rea­le« Dres­den­grad. Und, und, und. Klei­ne Epo­pö­en; Ru­he­inseln im Mahl­strom des Er­zäh­lens (dem man sich dann um­so be­rei­ter hin­gibt).

Na­tür­lich kommt ir­gend­wann das Ver­glei­chen. Und da ist ja auch was vom Roth­mann­schen Ruhr­ge­biet­blues, al­ler­dings oh­ne des­sen nost­al­gi­sche Me­lan­cho­lie, und jeg­li­che Idyl­li­sie­rung bei­na­he ver­bis­sen mei­dend. Der Chri­sti­an­sche So­lip­sis­mus oder der Me­no Roh­de­sche Stoi­zis­mus er­in­nern bis­wei­len an Her­mann Lenz’ Eu­gen Rapp (frei­lich oh­ne des­sen manch­mal auf­flackern­den Fa­ta­lis­mus); das Er­zähl­prin­zip (nicht nur die Hy­po­ta­xen) lässt an Uwe John­son den­ken (der gleich­na­mi­ge Preis er­scheint kon­ge­ni­al ver­ge­ben) und in den Dia­lo­gen er­kennt man stel­len­wei­se die Schrul­lig­keit von »Ta­dellöser & Wolff«-Figuren, oh­ne al­ler­dings de­ren Pos­sier­lich­keit zu imi­tie­ren.

Bei all den Par­al­le­len (der Ver­lag und Tei­le der Kri­tik zie­hen auch Tho­mas Manns »Bud­den­brooks« her­an; in der Kon­struk­ti­on des Bu­ches gibt es An­lei­hen bei Do­de­rer): Tell­kamps Familien‑, Orts‑, Land- und Ge­schichts­pan­ora­ma, die­se viel­stim­mi­ge, kraft­vol­le und sprach­ge­wal­ti­ge Er­zäh­lung, lässt sich nicht so ein­fach ein­ord­nen. Hier wer­den kei­ne simp­len Sto­ries ge­schrie­ben, die bil­li­ge Au­then­ti­zi­tät sug­ge­rie­ren sol­len. Oder ver­klä­ren­de DDR-Er­in­ne­rungs­pro­sa (Sie konn­te zum My­thos wer­den, weil ihr das Schei­tern er­spart wor­den ist ra­sön­niert Alt­berg über die Du­bček-Be­we­gung der Tsche­cho­slo­wa­kei 1968 – man muss die­ses Buch auch ver­ste­hen als Ver­such, die DDR zu ent­my­sti­fi­zie­ren), die nach­träg­lich das Gu­te in Schlech­ten sucht (oder um­ge­kehrt).

Hier wer­den (wie es bei Me­no ein­mal heisst) die Phä­no­me­ne er­zeugt und nicht bloss be­schrie­ben. Tell­kamp schafft das mit ei­ner wuch­ti­gen Spra­che, die er mit gro­sser Vir­tuo­si­tät ein­setzt. Da­bei di­stan­ziert er sich durch­aus von den Prot­ago­ni­sten, oh­ne sie zu de­nun­zie­ren, ver­fällt aber nicht in den Feh­ler ei­ner be­rich­ten­den Spra­che. »Der Turm« ist so­mit we­der kunst­vol­le Re­por­ta­ge noch blo­sse Dia­show ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit. »Die Ge­schich­te aus ei­nem ver­sun­ke­nen Land« (so der Un­ter­ti­tel) geht tie­fer. Das ist, im wört­li­chen Sin­ne, Welt-Li­te­ra­tur.

Das En­de des kur­zen 20. Jahr­hun­derts

Zu­ord­nun­gen der zahl­rei­chen Prot­ago­ni­sten mit tat­säch­lich exi­stie­ren­den Per­so­nen sind mü­ßig. Vie­le sind ver­frem­det bzw. ver­mischt; Ek­lek­ti­zis­mus von (Schriftsteller-)Biografien wur­de da be­trie­ben (und man dankt Tell­kamp da­für). Nur die Rand­fi­gu­ren ha­ben ih­re mehr oder we­ni­ger klei­nen Ca­me­o­auf­trit­te (wie et­wa der west­deut­sche Ver­le­ger »Mun­der­loh«, der na­tür­lich un­schwer als Sieg­fried Un­seld zu er­ken­nen ist). Die boh­ren­den Fra­gen der Nicht-Le­ser und Eti­ket­ten­kle­ber, die­ses Ger­ma­ni­sten-Me­mo­ry des »Who Is Who?« wird es wohl den­noch ge­ben. Man soll­te sich hier­mit nicht den Blick trü­ben las­sen; es bleibt (wie fast im­mer) frucht‑, ja be­lang­los.

In­klu­si­ve Haft- und Nach­dien­zeit ver­lässt Chri­sti­an Hoff­mann nach rund fünf Jah­ren die Ka­ser­ne, hat sei­nen »Dienst« ab­ge­lei­stet, …aber dann auf einmal…schlugen die Uh­ren, schlu­gen den 9. No­vem­ber, »Deutsch­land ei­nig Va­ter­land«, schlu­gen ans Bran­den­bur­ger Tor: – und mit die­sem Dop­pel­punkt en­det die­ses Buch und (folgt man dem bri­ti­schen Hi­sto­ri­ker Eric Hobs­bawm) es ist der An­fang vom En­de des »kur­zen 20. Jahr­hun­dert«.

Die gan­zen Fort­schrei­bun­gen, wer wie die »Wen­de« über­stan­den hat, blei­ben dem Le­ser er­spart, nein: es bleibt sei­ner Phan­ta­sie über­las­sen. Der Dop­pel­punkt lädt ein, mit dem Tell­kamp­schen Blick, fern­ab al­ler gän­gi­gen Kli­schees und Rol­len­pro­sa, die Ge­schich­te nun wei­ter­zu­spin­nen. Man ima­gi­niert sich dies und das und wünscht sich dann ir­gend­wann ei­ne Fort­set­zung, oder bes­ser noch: ei­ne Fort­schrei­bung. Und bei al­ler Un­si­cher­heit über den wei­te­ren Weg der Fi­gu­ren – ei­nes scheint si­cher, ein Pa­ra­do­xon be­son­de­rer Art, fast ein Trep­pen­witz: Mit dem En­de die­ses von den Tür­mern so ver­hass­ten Sy­stems en­det auch ihr ei­ge­nes Re­fu­gi­en­bür­ger­tum un­wi­der­bring­lich. Es konn­te nur so lan­ge exi­stie­ren, wie es als An­ti­po­de den so­ge­nann­ten So­zia­lis­mus gab.

Epi­log – Klei­ner Ver­such über den »Wen­de­ro­man«

Was ist denn nun mit dem »Wen­de­ro­man«? Ein Ruf, halb be­schwö­rend und halb furcht­sam aus­ge­spro­chen, oft ge­nug ein will­kom­me­ner Grund, das ge­ra­de Vor­lie­gen­de un­ge­nü­gend zu fin­den aber auch der Wunsch, fast ei­ne Sehn­sucht, nach ei­ner wie auch im­mer li­te­ra­ri­schen Ver­ar­bei­tung die­ser nun ab­ge­schlos­se­nen Epo­che (Brief­mar­ken­samm­ler ha­ben es mit ih­rem Samm­ler­ge­biet DDR wohl leich­ter).

Aber ist die Fra­ge nach dem »Wen­de­ro­man« nicht ei­ne Auf­ga­ben­stel­lung, die den Leh­rern di­ver­ser Schreib­schu­len ein­ge­fal­len sein könn­te? Ein ähn­li­cher Un­sinn wie die so oft ge­stell­te Fra­ge nach dem ei­nen »Lieb­lings­buch«? Als sei es ei­nem Le­ser mög­lich aus der Fül­le des Ge­le­se­nen ziel­si­cher für al­le Zei­ten ein Werk her­aus­zu­picken und dies al­len an­de­ren vor­zu­zie­hen. Wie klein­gei­stig ein sol­cher Ge­dan­ke. Und so auch die Fra­ge, die For­de­rung, nach dem »Wen­de­ro­man«: Wie soll­te ein ein­zel­nes Buch al­len Phä­no­me­nen ei­ner Epo­che auch nur an­nä­hernd ge­recht wer­den kön­nen?

Gibt es DAS ei­ne li­te­ra­ri­sche Werk, wel­ches zum Bei­spiel den Un­ter­gang des »lan­gen 19. Jahr­hun­derts« (noch ein­mal Hobs­bawm pa­ra­phra­sie­rend – er ter­mi­nier­te es von 1789 bis 1914) ab­han­delt? Oder neigt man nicht eher der The­se zu, dass so li­te­ra­risch un­ter­schied­li­che Bü­cher wie zum Bei­spiel »Ra­detz­ky­marsch« von Jo­seph Roth, »Der Zau­ber­berg« von Tho­mas Mann und Mu­sils »Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten« (um nur drei her­aus­ra­gen­de Wer­ke deutsch­spra­chi­ger Dich­tung zu nen­nen) uns aus voll­kom­men ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven und vor an­ders­ar­ti­gen Hin­ter­grün­den dies auf­zu­zei­gen ver­mö­gen und das die Sum­me der Lek­tü­re die­ser Bü­cher ein­fach frucht­ba­rer ist als wür­de man nur je­weils ei­nes le­sen? Hier das to­sen­de, Welt­reich-spie­len­de, me­lan­cho­lisch-de­pres­si­ve Öster­reich-Un­garn, dort das zu­rück­ge­zo­ge­ne, die Prot­ago­ni­sten fast ma­gisch an­zie­hen­de Sa­na­to­ri­um in der Schweiz und dann noch der nur schein­bar ei­gen­schafts­lo­se, durch die Zei­ten tau­meln­de Prot­ago­nist Ul­rich. Bei al­ler Dif­fe­renz bil­den die­se Bü­cher ei­ne Klam­mer im epi­schen Er­kun­den ei­ner Zä­sur, die (zu­min­dest) Eu­ro­pa grund­le­gend ge­prägt und ver­än­dert hat.

Nie wird es nur den ei­nen Epo­che­ro­man ge­ben, im­mer ist ein Ab- oder Un­ter­gangs­ge­sang die Sum­me vie­ler Stim­men. Und da­bei kein nur zu­rück­ge­wand­ter Blick, schon gar nicht nost­al­gisch, höch­stens manch­mal ein biss­chen me­lan­cho­lisch aber auch im­mer (meist ver­steckt) auf ei­ne un­be­kann­te (viel­leicht bes­se­re) Zu­kunft ge­wandt (und ab und an auch hof­fend?). Erst die Sum­me der gro­ssen, wuch­ti­gen Welt-Er­zäh­lun­gen er­gibt dann an­nä­he­rungs­wei­se ein Bild ei­ner Epo­che, ei­nes Lan­des, ei­ner Dy­na­stie und ver­mag den Le­ser zu­rück- und hin­ein zu ver­set­zen, in dem er die­se Strecke mit den Prot­ago­ni­sten mit­geht.

»Der Turm« ist kein Wen­de­ro­man, schon gar nicht DER Wen­de­ro­man. Er ist viel mehr. Er ist ein Be­weis da­für, was gro­sse Li­te­ra­tur ver­mag. Et­was, was den Hi­sto­ri­kern, So­zio­lo­gen, Po­li­to­lo­gen, Eth­no­lo­gen und Phi­lo­lo­gen nur ganz sel­ten ge­lingt: Sie zeigt uns ge­ra­de im wahr­haf­ti­gen Fik­tio­na­len was war und wie es ge­we­sen ist. In dem sie, die Li­te­ra­tur, »al­len fer­ti­gen Bil­dern mit Hart­näckig­keit und sanf­ter Ge­walt widerspricht,…verhindert [sie] das trau­ri­ge Wort En­de über dem Bild von ei­nem Land; wie sie zeigt, dass kein Mensch schon ein Bild von ei­nem Men­schen ist, so zeigt sie zu­gleich, dass ein Land, das sich sel­ber als Bild von ei­nem Land will, kein Raum für le­ben­de Men­schen ist« (Pe­ter Hand­ke).


Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch

Die ur­sprüng­lich im Text ver­wen­de­ten Bil­der wur­den ent­fernt. G.K.


7 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Aus­führ­li­che und schö­ne
    Re­zen­si­on.

    (Aber was sind ei­gent­lich die »Hy­perta­xen« für ein Er­zähl­prin­zip?)

  2. Hy­perta­xen
    bin jetzt ein biss­chen pin­ge­lig und auch ehr­pus­se­lig, wo es um Ver­schlei­fung von Fach­ter­mi­ni geht:

    Er­zähl­prin­zip ge­wiss nicht. Aber auch sonst:

    Gab es da ein­fach ei­ne Ver­wechs­lung mit Hypotaxe(n)?

    Und das ist dann nicht un­be­dingt der Ter­mi­nus für lan­ge Sät­ze (die kann man auch pa­ra­tak­tisch her­stel­len)? Auch wenn Pe­ri­oden­fol­gen mit pa­ra­tak­ti­scher und hy­po­tak­ti­scher Struk­tur recht lan­ge Sät­ze ge­ne­rie­ren?

    Fragt Ro­bert

  3. Ja, das ist ge­meint; ich korrigier’s (Fremd­wör­ter soll­te man schon ken­nen. Das kommt da­von, wenn man kei­nen Lek­tor hat...)

    Und dan­ke für das Wort »ehr­pus­se­lig«.

    In­ter­es­san­ter Na­me.

  4. Karl Marx – Karl Mai – BILD
    Mit ei­ner ge­wis­sen Vor­sicht, ob der Lob­ge­sän­ge, las ich das Buch. Es ist für mich ei­ne Mi­schung aus Karl Max, Karl Mai und der BILD.
    Karl Marx we­gen der Satz­län­ge der er­sten bei­den Sei­ten,
    Karl Mai we­gen der na­tu­ra­li­sti­schen Er­zähl­wei­se, die of­fen­sicht­lich die dem­ago­gi­sche Ba­sis für die »Wahr­heit« bil­den soll und
    BILD we­gen der un­wahr­schein­li­chen Dich­te fast al­ler Kli­schees, die hier be­dient wer­den.
    Ich hof­fe, es geht Herrn Tell­kamp jetzt bes­ser und es ist ihm ge­lun­gen, sei­ne Kin­der- und Ju­gend­zeit für sich auf­zu­ar­bei­ten. Zur Auf­ar­bei­tung der Ge­schich­te trägt er m.E. in kei­ner Wei­se bei, eher zu ei­ner wei­te­ren Ver­tie­fung von Un­ver­ständ­nis für vie­le, die die­se Zeit er­lebt ha­ben. Ir­gend­wann be­schreibt er in dem Buch den Pa­pier­man­gel, der zu ei­ner Nicht­ver­öf­fent­li­chung ei­ner Er­fin­dung ge­führt hät­te – hät­te es doch bei der ver­öf­fent­li­chung die­ses Bu­ches auch ei­nen Pa­pier­man­gel ge­ge­ben.
    Si­cher­lich sind (künst­le­risch be­dingt und er­laubt) Din­ge des täg­li­chen Le­bens in ver­dich­te­ter Form rea­li­stisch dar­ge­stellt. An­de­rer­seits sind we­send­li­che Din­ge der­ma­ßen ex­trem und na­iv ver­fälscht, daß die­ses Buch bes­ser in die Zeit des kal­ten Krie­ges ge­passt hät­te.

  5. Tja,
    so un­ter­schied­lich kön­nen Ur­tei­le aus­fal­len. Der Ve­he­menz (und Bös­ar­tig­keit) Ih­res ab­leh­nen­den Ur­teils könn­te man auch ent­neh­men, dass es Sie ganz schön ge­trof­fen hat.

    Ich glau­be tat­säch­lich, dass »Der Turm« ei­nes der her­aus­ra­gend­sten epi­schen Er­zäh­lun­gen in deut­scher Spra­che der letz­ten Jah­re ist.

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