Un­se­re Wer­te

Es geht na­tür­lich im­mer um Wer­te. Um »un­se­re Wer­te«. Nach der Amok­fahrt von Niz­za tönt der fran­zö­si­sche Bot­schaf­ter in Ber­lin da­von. Wir wür­den »die­se Schlacht ge­win­nen«. Und RB Mül­ler, durch den blö­den Gang der Ge­schich­te auch Chef ei­nes Bun­des­lan­des (das, wä­re es geo­gra­fisch in Afri­ka an­ge­sie­delt, si­cher­lich als »fai­led sta­te« gel­ten wür­de), tu­tet in das glei­che Horn. So wer­den die Op­fer von Niz­za wie auch all die an­de­ren Op­fer von ter­ro­ri­sti­schen Amok­läu­fen un­ge­fragt zu Iko­nen ei­nes, na­tür­lich un­se­res Werte­systems. Das Mär­ty­rer­tum gibt es al­so nicht nur bei den an­de­ren. Per­fekt on­du­liert ver­kün­de­te schon vor­her In­kom­pe­tenz-Prä­si­dent Hol­lan­de, dass man den Kampf (oder sag­te er wie­der »Krieg«?) ge­win­nen wer­de und man stellt sich schon vor, wie er am Schreib­tisch neue Ein­satz­be­feh­le für Sy­ri­en und den Irak un­ter­schreibt. So ha­ben dann al­le et­was von un­se­ren Wer­ten.

Knapp 24 Stun­den spä­ter ging wei­ter. Dies­mal muss­te die »de­mo­kra­ti­sche Ord­nung« wie­der her­ge­stellt wer­den. Tei­le des tür­ki­schen Mi­li­tärs woll­ten Sul­tan Er­doğan ab­set­zen. Der ent­deck­te plötz­lich die Me­di­en, die er ei­gent­lich be­kämpft und rief sei­ne Lands­leu­te zu Pro­te­sten auf. Wie es aus­sieht, ist der Putsch ge­schei­tert. Al­le sind er­leich­tert. Die Er­doğan-Kri­ti­ker be­hal­ten ih­ren Fe­tisch in­klu­si­ve Cau­sa Böh­mer­mann. Frau Mer­kel und die EU müs­sen ih­re Wer­te in Be­zug auf Flüch­ten­de nicht neu ver­han­deln. Die Beitritts­verhandlungen kön­nen wei­ter­ge­hen. Und auf WDR2 hat­te ei­ne Jour­na­li­stin heu­te früh schon al­le Tür­ken in Deutsch­land be­fragt und ver­kün­de­te das End­ergeb­nis: Nein, ei­ne Mi­li­tär­dik­ta­tur woll­ten die hier le­ben­den Tür­ken nicht.

Mi­li­tär­dik­ta­tu­ren mö­gen wir nur, wenn es um Län­der wie Al­ge­ri­en, Ägyp­ten oder Thai­land geht (wenn man et­was län­ger zu­rück­blickt, fal­len ei­nem noch vie­le an­de­re Län­der ein). Da nimmt man es mit dem de­mo­kra­ti­schen Ord­nun­gen nicht all­zu ge­nau. Und wo es nicht ein­mal im An­satz sol­che Ord­nun­gen gibt, braucht man sich auch nicht dar­um küm­mern. Da­her klappt das mit Sau­di-Ara­bi­en so gut. Oder Ka­tar. Oder, oder, oder…

Ja, sie sind wirk­lich toll, un­se­re Wer­te.

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  1. Du wirst es be­merkt ha­ben, aber ge­nau vor die­ser End­los­schlei­fe aus ge­ball­ter Heu­che­lei, Dop­pel­mo­ral und be­wusst ge­streu­ten Halb- und Un­wahr­hei­ten ha­be ich mitt­ler­wei­le ka­pi­tu­liert. Sar­kas­mus, wie von Dir oben an­ge­wen­det, hilft mir nicht mehr, mei­ne Em­pö­rung, ja mei­ne Wut über die­se per­ma­nen­ten Ver­su­che der Ge­hirn­wä­sche zu zü­geln. Schrie­be ich noch was, wür­de ich aus­fal­lend – und das ha­be ich mir ver­bo­ten. Trotz­dem: Dein Sar­kas­mus ge­fällt mir, ge­fällt mir sehr, wie einst­mals Ro­my Schnei­der in an­de­rem Zu­sam­men­hang flir­te­te.

  2. Ja, mit Burk­hard Driest in der er­sten deut­schen Talk­show­rei­he. Se­li­ge Zei­ten, als Pro­mi­nen­te noch Ge­heim­nis­se hat­ten statt Twit­ter-Ac­counts.

    Ich ha­be im üb­ri­gens nichts ge­gen Re­al­po­li­tik. Man kann Sau­di-Ara­bi­en als stra­te­gi­schen Part­ner ha­ben, den Putsch in Ägyp­ten gut­hei­ßen oder auch mit Bil­lig­fleisch ein Vier-Ster­ne-Re­stau­rant be­trei­ben wol­len. Aber dann soll­te man ein we­nig be­schei­de­ner sein und die­se Heu­che­lei­en ein­fach sein las­sen.

  3. Al­ler­dings könn­te man dann auf ei­nen Wla­di­mir Pu­tin nicht mehr von oben her­ab­schau­en: Die­ses bis­wei­len hilf­lo­se, for­dern­de, ver­kün­di­gen­de, vor­ge­scho­be­ne Re­kur­rie­ren auf un­se­re Wer­te dient zu­al­ler­erst dem Schlie­ßen der ei­ge­nen Rei­hen, dem Aus­rich­ten auf ein Ziel, ei­nen Weg und dem Hint­an­hal­ten von Kri­tik. Frü­her sprach man von Gott, Kai­ser, Va­ter­land, Volk, Na­ti­on oder Reich: Im Zeit­al­ter der Über­win­dung na­tio­na­ler Ego­is­men und der In­stal­la­ti­on über­staat­li­cher Ge­bil­de, muss man sei­ne In­ter­es­sen an­ders ver­brä­men und mo­ra­lisch recht­fer­ti­gen. — Ver­wun­der­lich ist dann nur mehr die Ver­wun­de­rung dar­über, dass man­che die di­rek­te Art Pu­tins für ehr­li­cher und sym­pa­thi­scher hal­ten.

  4. Das ha­be ich bei Pu­tin nie ge­macht. Er ist na­tür­lich auch ein Au­to­krat, aber ich kann ihn nicht da­für ver­ur­tei­len. Die Pro­ble­me, die er wo­mög­lich ver­ur­sacht, müs­sen die Rus­sen sel­ber lö­sen.

    In­ter­es­sant fin­de ich die Par­al­le­len zwi­schen Er­doğan und Pu­tin: Bei­de gal­ten für den We­sten als Hoff­nungs­trä­ger; Pu­tin sprach im Deut­schen Bun­des­tag mal in deutsch (er spricht es aus sei­ner Ge­heim­dienst­zeit in der ehe­ma­li­gen DDR per­fekt). Er­doğan hat das Land mo­der­ni­siert, al­ler­dings nur öko­no­misch. Ge­sell­schafts­po­li­tisch wur­de am Lai­zis­mus Hand an­ge­legt, aber das hat­te man lan­ge ver­drängt. Bei­de ha­ben sich in den Jah­ren ih­rer je­wei­li­gen Amts­zei­ten ver­än­dert. Das ver­mut­lich auch (aber nicht nur), weil der We­sten sie hin­ge­hal­ten hat­te, sich ih­rer zu si­cher wähn­te.

  5. Mein­te ich auch nicht. Na­tür­lich ist er ein Au­to­krat, wie Er­doğan, wo­bei mir letz­te­rer als we­sent­lich un­be­re­chen­ba­rer er­scheint: Pu­tin denkt geo­po­li­tisch, in Ein­fluss­sphä­ren, In­ter­es­sen, usf., oh­ne strin­gen­te Lo­gik geht das nicht. Bei­de ver­tre­ten nach au­ßen deut­lich die In­ter­es­sen ih­rer Län­der (oder was sie da­für hal­ten, mit ent­spre­chen­den Kon­se­quen­zen nach in­nen), ähn­lich wie das auch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten tun. Eu­ro­päi­sche Staa­ten tun sich mit die­ser »Of­fen­le­gung« oder der Dis­kus­si­on von In­ter­es­sen schwer (das ist auch in der Be­völ­ke­rung kaum ver­an­kert), man ver­deckt sie oder lehnt sich an sei­ne Bünd­nis­part­ner an (das ist ein Man­ko, denn man nimmt sich da­durch auch die Mög­lich­keit zu ver­ste­hen, war­um an­de­re Staa­ten wie han­deln; im Ukrai­ne­kon­flikt hat sich das ge­zeigt; viel­leicht ist das auch ein Grund war­um die po­li­ti­sche Uni­on Eu­ro­pas so we­nig Rück­halt in der brei­ten Be­völ­ke­rung zu ha­ben scheint).

    Bei Pu­tin bin ich mir ziem­lich si­cher, dass er vom We­sten und spe­zi­ell von Deutsch­land ent­täuscht wur­de, bei Er­doğan spielt das wohl auch ei­ne Rol­le, er hat doch vor Jah­ren und zur Zeit der in­ten­si­ven Ver­hand­lun­gen und Dis­kus­sio­nen die EU als Chri­sten­club be­zeich­net. Wä­re Er­doğan ei­nen an­de­ren Weg ge­gan­gen, als den der letz­ten Jah­re oder war der jet­zi­ge im­mer sein Ziel, wie das di­ver­se Äu­ße­run­gen und Zi­ta­te sei­ne po­li­ti­schen Ver­gan­gen­heit na­he­le­gen? War ei­ne Ent­täu­schung oder Nicht­ak­zep­tanz von Sei­ten des We­stens (für die es gu­te Grün­de ge­ge­ben ha­ben mag) mit Ur­sa­che für sei­ne Hin­wen­dung (wenn es denn ei­ne war) zum Is­lam?

    Bei­den, Pu­tin wie Er­doğan, scheint die Au­ßen­wahr­neh­mung ih­res Lan­des, wie des­sen Sta­tus ekla­tant wich­tig zu sein: Russ­land als Groß­macht, die Tür­kei zu­min­dest als ei­ne re­gio­na­le Macht (bei­des kann man re­al­po­li­tisch – sie­he et­wa Sy­ri­en – auch nicht ein­fach ab­strei­ten).

  6. Ich glau­be, dass po­li­ti­sche Macht ei­nen mensch­li­chen Cha­rak­ter ver­än­dern kann (nicht muss). Es ist wie Zucker – man kann ir­gend­wann nicht mehr da­von las­sen. Hin­zu kommt bei je­man­dem wie Pu­tin, dass er auch sei­ne po­li­ti­sche Macht auch wirt­schaft­lich nutzt(e). Schon das Wech­sel­spiel­chen Staatspräsident/Ministerpräsident mit Med­we­dew deu­te­te in die Rich­tung, dass sich da je­mand nicht ver­ab­schie­den woll­te.

    Mer­kel war noch nicht Bun­des­kanz­le­rin, als sie, als es um die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen der Tür­kei zur EU ging, ei­ne Mit­glied­schaft der Tür­kei ve­he­ment ab­ge­lehnt hat­te. Sie kon­ze­dier­te ei­ne »pri­vi­le­gier­te Part­ner­schaft« (das gibt es zu gro­ßen Tei­len wirt­schaft­lich heu­te schon), aber das war Er­doğan nicht ge­nug. In­zwi­schen muss sie bei ihm die Bitt­stel­le­rin ma­chen. Es scheint so zu sein, dass ihm die EU-Mit­glied­schaft nicht mehr wich­tig ist.

    Ein wich­ti­ger Punkt ist die prak­tisch voll­kom­me­ne Ab­we­sen­heit geo­po­li­ti­scher In­ter­es­sen bei der EU. Es geht ihr ein­zig um die Ver­grö­sse­rung des Mark­tes und die ein­heit­li­chen Be­din­gun­gen. Die Ver­su­che, dies zu er­wei­tern, sind di­let­tan­tisch (man den­ke an den Eu­ro). Die­se Ab­we­sen­heit bleibt aber auch nicht aus, weil die In­ter­es­sen­la­gen der ein­zel­nen Län­der zu di­ver­gie­rend sind. Mit dem Aus­stieg Groß­bri­tan­ni­ens könn­te sich das ein biss­chen än­dern, aber es blei­ben gro­ße Un­ter­schie­de. Mi­li­tä­ri­sche Be­dro­hun­gen durch Russ­land emp­fin­det man in den bal­ti­schen Staa­ten als ge­ge­ben – in Spa­ni­en und Por­tu­gal eher nicht. Es gibt nicht ein­mal ein Au­ßen­mi­ni­ste­ri­um; der-/die­je­ni­ge wird »Außenbeauftragte(r)« ge­nannt; ein Un­sinn, den man sich nur in der EU aus­den­ken konn­te. Die Fra­ge ist ja, ob ein der­art rei­nes Han­dels­im­pe­ri­um auf Dau­er Be­stand ha­ben wird.

  7. Ja, und ähn­li­ches könn­te man auch bei Er­doğan ver­an­schla­gen, mit sei­nen Am­bi­tio­nen auf das Prä­si­den­ten­amt und die­ses dann (jetzt) ent­spre­chend um­zu­bau­en. Ich bin heu­te zu­fäl­lig auf ei­nen äl­te­ren Ar­ti­kel in der Welt ge­sto­ßen in dem die Über­le­gung zu fin­den war, dass Er­doğan da­mals ei­nen EU-Bei­tritt u.a. des­halb an­streb­te, weil er sich da­durch der Macht des Mi­li­tärs ent­le­di­gen hät­te kön­nen (das in der EU rest­los un­ter de­mo­kra­ti­sche Kon­trol­le ge­stellt wer­den müss­te).

    Das was Eu­ro­pa grun­diert sind Kul­tur und Ge­schich­te, wor­aus man et­was wie ei­ne über­ge­ord­ne­te Zi­vi­li­sa­ti­on ab­lei­ten kann, aber kei­ne (ein­heit­li­che) po­li­ti­sche Idee (die Staats­form De­mo­kra­tie ist wohl fast über­all vor­han­den, aber das ist zu we­nig und zu kurz). Ei­ne zi­vi­li­sa­to­ri­sche Er­zäh­lung (was et­wa der »Abend­land« Be­griff tut), könn­te man hi­sto­risch und kul­tu­rell kon­stru­ie­ren, aber po­li­tisch war der Kon­ti­nent im­mer viel­fäl­tig, un­ein­heit­lich, ja ge­spal­ten. — Ein, wenn wir den Be­griff ver­wen­den wol­len, eu­ro­päi­scher Bür­ger, weiß, ab­ge­se­hen von dif­fu­sen Wohl­stands­ver­spre­chen, die man na­tio­nal eben­so pro­kla­mie­ren könn­te, über­haupt nicht wel­che Ei­gen­in­ter­es­sen, wel­cher Stand­punkt, auf der eu­ro­päi­schen Ebe­ne (nach au­ßen hin) ver­tre­ten wer­den, kurz ge­sagt: er weiß nicht, wor­an er dies­be­züg­lich ist und das muss letzt­lich in ei­nen Loya­li­täts­kon­flikt mün­den.

    Po­li­tik und Wirt­schaft ste­hen in ei­ner Wech­sel­wir­kung, die er­ste­re schafft die Grund­la­gen, die zwei­te­re die Mit­tel, ein rei­nes Han­dels­im­pe­ri­um kann nur dann über­le­ben, wenn es in ei­nem Bünd­nis­sy­stem steckt, wel­ches es geo­po­li­tisch und mi­li­tä­risch ein­bin­det, das hat al­ler­dings ei­nen Preis, näm­lich den der Ab­hän­gig­keit.

  8. Noch et­was: Nach au­ßen hin, au­ßer­west­lich so­zu­sa­gen, ist die Re­de von den Wer­ten fa­tal, denn ein je­der weiß mitt­ler­wei­le wie dop­pel­zün­gig sich der We­sten ver­hal­ten hat und ver­hält, je­der der die Re­de von De­mo­kra­tie und Wer­ten hört, hört zu­gleich In­ter­ven­ti­ons­krieg, Droh­nen­tö­tung, Res­sour­cen­lu­krie­rung und In­ter­es­sens­durch­set­zung. Je­de an­de­re Re­de wür­de wohl mehr Ver­trau­en schaf­fen.

  9. Hin­zu kommt ja, dass sich »un­se­re Wer­te« auch än­dern. Man den­ke dar­an, dass vor 50 Jah­re in Deutsch­land (und vie­len an­de­ren west­li­chen Län­dern) Ho­mo­se­xua­li­tät straf­bar war! Heu­te wird ein sol­cher Staat so­fort kri­tisch be­äugt. Und ir­gend­wann galt auch das Recht auf Pri­vat­heit mal. Das war be­vor man mas­sen­haft E‑Mails und Te­le­fon­ge­sprä­che ab­hör­te – na­tür­lich al­les zu un­se­rem Be­sten und zur Er­hal­tung »un­se­rer Wer­te«.

  10. Ein wei­te­rer Hö­he­punkt der Dop­pel-Mo­ral, in ei­nem be­son­ders an­schau­li­chen Sin­ne, war heu­te die ge­mein­sa­me Pres­se­kon­fe­renz von Au­ßen­mi­ni­ster Ker­ry und A‑Beauftragte Mog­he­ri­ni.
    Ker­ry mahn­te im Rah­men der NATO ge­wis­se de­mo­kra­ti­sche Stan­dards an,
    und Mog­he­ri­ni war sich (ne­ben Ker­ry!) nicht zu scha­de, auf die Un­ver­ein­bar­keit von EU und To­des­stra­fe hin­zu­wei­sen.
    Was für ab­ge­fuck­te Funk­tio­nä­re.

  11. Der Witz ist, dass Grie­chen­land und die Tür­kei seit 1952 Mit­glie­der der NATO sind. So­wohl die rechts­ge­rich­te­te Mi­li­tär­jun­ta in Grie­chen­land von 1967–1974 noch die zahl­rei­chen Mi­li­tär­re­gie­run­gen in der Tür­kei ha­ben de­ren Mit­glied­schaft nicht tan­giert. Ver­mut­lich wuss­te Ker­ry das nicht; es wä­re ja nicht das er­ste Mal, dass ame­ri­ka­ni­sche Po­li­ti­ker in eu­ro­päi­scher Ge­schich­te nicht ganz so be­wan­dert sind. Was er dann auch nicht wuss­te war, dass die NATO gar kei­nen Aus­tritt oder gar Raus­wurf in ih­ren Sta­tu­ten ver­an­kert hat.

    Die To­des­stra­fe ist ja tat­säch­lich ein em­pi­risch fest­zu­ma­chen­der Punkt, der sich mit ei­ner EU-Mit­glied­schaft nicht ver­trägt. Öcalan, der PKK-Chef, wur­de ja 1999 noch mit dem To­de be­straft. Die Aus­set­zung wur­de da­hin­ge­hend er­reicht, dass die Tür­kei of­fi­zi­ell zum Bei­tritts­kan­di­da­ten der EU er­nannt wur­de; die To­des­stra­fe schaff­te man dann 2002 ab.

    Die öko­no­mi­sche Bin­dung der Tür­kei an die EU exi­stiert seit Jahr­zehn­ten. So ist die Tür­kei ne­ben sol­chen Wirt­schafts­gi­gan­ten wie San Ma­ri­no und An­dor­ra in­te­gra­ler Be­stand­teil der EU-Zoll­uni­on. Das wird häu­fig über­se­hen. So kön­nen bei­spiels­wei­se al­le Gü­ter, die in die EU ein­ge­führt sind, oh­ne wei­te­re Zöl­le von tür­ki­schen Fir­men im­por­tiert wer­den. Das gilt na­tür­lich auch um­ge­kehrt: Es gibt so gut wie kei­ne Zöl­le auf Pro­duk­te der Tür­kei. Der Markt der EU steht al­so der Tür­kei längst of­fen. Ei­ne EU-Mit­glied­schaft wä­re vor al­lem Pre­sti­ge.

  12. Ich weiß ja nicht, wie lan­ge das Trei­ben von Mer­kel noch wei­ter­geht, aber ihr bis­her letz­ter Streich dürf­te schwer­wie­gen­de Aus­wir­kun­gen auf die EU ge­habt ha­ben.
    Das ein­zi­ge, was ihr an­ge­sichts frei flot­tie­ren­der Mi­gra­tio­nen in Mit­tel­eu­ro­pa ein­fiel, war ein Dritt­staats­ab­kom­men mit der Tür­kei.
    Und weil man das nicht um­sonst kriegt, wur­de der Bei­tritts­pro­zess re­ani­miert. Je län­ger ich über die­sen wahr­haft hilf­lo­sen Deal nach­den­ke, um­so deut­lich wird mir, wie stark die Ak­tie »EU-Mit­glied­schaft« schon im Sink­flug ist. Die­se Ab­wer­tung ist na­tür­lich dem An­se­hen des Kan­di­da­ten ge­schul­det. D.h. was Frau Mer­kel in ih­rem Drang über­sieht, ist der Ein­satz, den Sie (ob­wohl nur stra­te­gisch) er­bracht hat. Sie hält es viel­leicht für raf­fi­niert, ei­ne Aus­sicht auf Mit­glied­schaft ein­zu­räu­men, die gleich­wohl un­wahr­schein­lich ist.
    Die Be­völ­ke­run­gen in Eu­ro­pa sind da aber we­ni­ger durch­trie­ben. Sie se­hen klar, was man ih­nen vor die Fü­ße ge­legt hat.
    Üb­ri­gens steht hin­ter Frau Mer­kel auch ei­ne Par­tei, man wür­de es nicht ver­mu­ten. Und da zählt Eu­ro­pa of­fen­bar auch nichts mehr. Ganz zu schwei­gen von den lin­ken Cla­queu­ren, die ja nur Ver­ei­nah­mungs­ap­pa­ra­te »in den Köp­fen« in­stal­lie­ren möch­ten, auf der Eu­ro­päi­schen »Ebe­ne«, ver­steht sich. Die ha­ben erst recht kei­nen Sinn für die (@mete) po­li­tisch-kul­tu­rel­le Ver­fasst­heit, die an Idea­len ori­en­tiert sein mag, aber de­ren Fun­da­ment im­mer Prag­ma­tis­mus, so­zia­ler Aus­gleich und un­ab­hän­gi­ges Den­ken war.
    Ver­mag man sich bald schon nicht mehr vor­zu­stel­len.

  13. Das »Trei­ben« von Mer­kel dürf­te noch ei­ni­ge Jah­re wei­ter­ge­hen. Zu­mal weit und breit kei­ne Al­ter­na­ti­ve zu ent­decken ist. Ein­zig pro­ble­ma­tisch könn­te ihr die CSU in Bay­ern wer­den, weil der Kurs in ei­ner Re­gie­rung Op­po­si­ti­on zu ma­chen auf Dau­er zum Schei­tern ver­ur­teilt sein dürf­te. 2013 er­reich­te die CSU 7,4% der Stim­men (um­ge­rech­net bun­des­weit) und be­kam 11 Sit­ze mehr als die Bay­ern-Li­ste her­gab. 2009, als das Er­geb­nis schlecht war, be­kam sie »nur« ih­re 45 Bay­ern-Di­rekt­man­da­te. So et­was könn­te wie­der dro­hen, wenn der Wäh­ler ahnt, das See­ho­fers Ge­plän­kel nur tak­tisch ist. Die CDU hat Mer­kel prak­tisch ab­ge­schafft. Ihr Stim­men­ver­lust bei der Bun­des­tags­wahl wird so groß sein, dass man ei­nen sehr gu­ten Lan­des­li­sten­platz ha­ben muss, um er­neut in den Bun­des­tag ein­zu­zie­hen. Da­her müs­sen die mei­sten Ab­ge­ord­ne­ten ih­rem Kurs fol­gen, um nicht auf aus­sichts­lo­se Plät­ze ge­setzt zu wer­den. Wenn man kei­nen halb­wegs si­che­ren Wahl­kreis hat, muss man buckeln. Die SPD löst sich prak­tisch auf und die Lin­ke ver­liert Wäh­ler an die AfD. Mich über­rascht ein we­nig die der­zeit stark auf­kom­men­de Zu­stim­mung für die Grü­nen, die nun wahr­lich per­so­nell ka­ta­stro­phal sind.

    Er­doğans In­ter­es­se liegt nur noch dar­in, die Vi­sa­frei­heit durch­zu­set­zen. Wenn sich die Ge­fäng­nis­to­re erst ein­mal ge­schlos­sen ha­ben, wird das ir­gend­wann be­stimmt wie­der auf der Agen­da auf­tau­chen. Das Ge­klap­pe­re mit der To­des­stra­fe ist nur ein Trick; na­tür­lich wird man das nicht be­schlie­ßen und statt­des­sen da­mit zei­gen wol­len, wie sehr man auf die EU Rück­sicht nimmt.

    Für Län­der wie Al­ba­ni­en und Ser­bi­en – die näch­sten po­ten­ti­el­len Bei­tritts­kan­di­da­ten – ist die EU na­tür­lich im­mer noch sehr in­ter­es­sant.

  14. Ich fürch­te, so wird es kom­men. Ei­ne an­pas­sungs­schlan­ke Ab­ge­ord­ne­ten-Ver­samm­lung wird ei­ne ideen­lo­se und feh­ler­in­ten­si­ve Po­li­tik be­glei­ten. Der Wäh­ler wird 2017 viel Hu­mor nö­tig ha­ben. Das ist mein Pro­blem, ich neh­me die Sa­che zu ernst.
    Die GRÜNEN ha­ben wohl ih­re Stamm­wäh­ler­schaft ge­si­chert, Tier­schüt­zer, Stu­den­ten, Soz­Päds, etc. Er­staun­lich sta­bil. Ei­ne schon von Be­rufs we­gen men­schen­rechts-kon­for­me Po­li­tik. Dar­in se­he ich ei­ne (wenn auch nicht mo­ra­lisch so doch in­tel­lek­tu­ell) be­dau­er­li­che Ent­wick­lung: die 100% Über­ein­stim­mung zwi­schen per­sön­li­chen und all­ge­mei­nen In­ter­es­sen. Die­sel­be zwei­fel­haf­te Ein­deu­tig­keit zeich­net sich dann auf der Funk­tio­närs-Ebe­ne ab, be­son­ders schön beim UNHCR.
    Ich weiß kei­ne Bei­spie­le aus frü­he­ren Mo­ral-Phi­lo­so­phien, aber si­cher ist die­ses ein­di­men­sio­na­le Pro­fils des Sy­stem-kom­pa­ti­blen »Ge­win­ners« kei­ne tra­gi­sche Fi­gur. Es gibt kein Schei­tern (au­ßer dem was vor al­ler Au­gen das Elend der Welt ist) und es gibt kei­nen »Kon­flikt«. Ich muss im­mer wie­der an Hei­ner Mül­ler den­ken, der sag­te: Jetzt kommt das Zeit­al­ter der Far­ce! Er mein­te das in ei­nem äs­the­tisch-po­li­ti­schen Sin­ne.

  15. Oh, wie­der In­ter­es­san­tes hier!

    @ die_kalte_Sophie No. 15

    Hei­ner Mül­ler war ein Spie­ler. Er ver­stand nichts von Po­li­tik ober­halb des re­gie­rungs­amt­li­chen Sa­dis­mus on­ce cal­led the ea­stern block – und des­halb lei­der gar nichts von den hel­len Sei­ten der De­mo­kra­tie.

    Sei­ne Au­to­bio­gra­fie Krieg oh­ne Schlacht ha­be ich gern ge­le­sen – aber da läßt er sel­ber die Kat­ze aus dem Sack: Er kann­te nur die Dik­ta­tur. Und er hat, sei­nen enor­men Be­schä­di­gun­gen (auch in der DDR er­fah­re­ne sol­che...) zum Trotz, was dar­aus ge­macht.

  16. Uwe Kol­be sieht in Mül­ler ei­nen Nach­fol­ger Brechts, der die DDR so­zu­sa­gen am Le­ben er­hal­ten hat (emp­feh­lens­wer­tes Buch). Mül­ler sei, so Kol­be, »Pri­vi­le­gi­en­ge­nie­ßer« ge­we­sen, der sich sei­ne Ar­bei­ten im Aus­land durch Li­ni­en­treue und ein Le­nin-Lied er­kauft ha­be. Er fin­det ein von Mül­ler 1992 (!) über­setz­tes und an­ge­pass­tes Ge­dicht von Ez­ra Pound – ge­wid­met dem ab­ge­setz­ten Hon­ecker ge­wid­met war. Es ist ei­ne »Ver­gött­li­chung« des ehe­ma­li­gen Ge­ne­ral­se­kre­tärs (Kol­be).

    Ich moch­te die Ge­sprä­che zwi­schen Alex­an­der Klu­ge und Mül­ler. Sehr un­ter­halt­sam.

  17. Ja, Klu­ge und Mül­ler – aber Mül­ler sel­ber fand ich noch bes­ser.

    Kol­be – die bru­ta­le Va­ri­an­te: Er denkt in zu gro­ßen Schu­hen.***

    Die mil­de Va­ri­an­te: Er in­ter­es­siert mich nicht (sor­ry for this one).

    *** Mit der Me­tho­de (zu gr0ße Schu­he) schau­feln dann auch so­vielt­klas­si­ge Leu­te noch ein we­nig Licht in ih­ren Koh­len­kel­ler – muss ich grad la­chen wg. Koh­le: Stimmt ooch sorum...das näch­ste Stipendium/ der näch­ste Stadtschreiberposten/ die näch­ste do­tier­te lo­ben­de Er­wäh­nung – ist im­mer die schwer­ste...

  18. Kann sein, mei­ne po­li­ti­schen Ka­te­go­rien sind et­was fehl­ge­bil­det, aber von Mül­ler ha­be ich den grund­sätz­li­chen Un­ter­schied zwi­schen Dis­si­denz und An­pas­sung ge­lernt, und das Di­lem­ma der po­li­ti­schen Exi­stenz ver­stan­den. Ei­ne ho­he Mo­ral kann man durch Dis­si­denz ab­si­chern, und das ist in der Re­gel auch im We­sten ei­ne durch­ge­hal­ten kri­ti­sche Po­si­ti­on. Am po­li­ti­schen Han­deln ist man nur in­so­fern be­tei­ligt, wenn man mal zu­stimmt, al­so bei Lohn­er­hö­hun­gen, Flücht­lings­hil­fe, Um­welt­schutz. Al­les an­de­re ist »schlech­te Po­li­tik von an­de­ren Leu­ten«, da­für lehnt man die Ver­ant­wor­tung ab, al­so Waf­fen­ex­por­te, Ent­las­sun­gen, Kür­zun­gen im So­zi­al-Bud­get. Die­se Grund­hal­tung ist ty­pisch LINKS, und funk­tio­niert am Be­sten, wenn man nicht re­giert. Pas­siert das Un­ver­meid­li­che und man kommt ans Ru­der, wird’s so­fort zwei­deu­tig. Dann wer­den die Ex­por­te ge­neh­migt, die Märk­te ge­öff­net und die Gren­zen für Flücht­lin­ge dicht ge­macht.
    Die ho­he Mo­ral gibt’s al­so nur von au­ßer­halb, im Pu­bli­kum.
    Das war mir im­mer zu bil­lig, ich woll­te mich nicht »schön schum­meln«. An­de­rer­seits ha­be ich aber fest­ge­stellt, dass ich die po­li­ti­schen Ak­teu­re im­mer glat­ter und ge­sichts­lo­ser wur­den. D.h. die Dis­si­denz (der Ab­stand von der po­li­ti­schen Klas­se) war gar kei­ne Wahl mehr son­dern un­ver­meid­li­che Kon­se­quenz. Ich kann die Leu­te nicht mehr ernst neh­men.
    Wir spra­chen ja schon dar­über beim The­ma »Po­pu­lis­mus«: der Wi­der­stand ge­gen­über den Bür­ger­li­chen kann nicht mehr durch Kri­tik rea­li­siert wer­den. Es gibt nur noch »in­dif­fe­ren­tes Ein­ver­ständ­nis« (main­stream) oder bru­ta­le Ab­gren­zung (Au­to­ri­ta­ris­mus).
    Bei­des kommt für mich nicht in Fra­ge. Was ist der drit­te Weg?!

  19. Mül­ler war we­der ein Spie­ler noch ein Dis­si­dent. Er hat­te sich im Lau­fe der Jah­re Pri­vi­le­gi­en er­ar­bei­tet wie sie bspw. nur dem ol­len Brecht zu­ge­stan­den wor­den wa­ren. Den­noch blieb er ein ge­mä­ßigt kri­ti­scher Geist, der im Rah­men Af­fir­ma­ti­on in Form von Loya­li­tät ab­lie­fer­te und sich gleich­zei­tig nicht ge­mein mach­te. Ge­le­gent­lich setz­te er sich für tat­säch­li­che Dis­si­den­ten in al­ler Heim­lich­keit ein biss­chen ein (Jirgl). Nach der Wen­de wur­de er zum rau­nen­den Pro­phe­ten (durch Klu­ge), was wirk­lich amü­sant war (aber mehr auch nicht).

    Die Fra­ge ob er im po­li­ti­schen Sin­ne mo­ra­lisch war ver­mag ich nicht zu sa­gen. Aber das war Jün­ger auch nicht. Trotz­dem wir­ken die­se Fi­gu­ren in der ak­tu­el­len Len­or-Welt so schil­lernd. Ih­re Wi­der­stän­dig­keit ist und bleibt in­tel­lek­tu­ell. Sie hat sich in der Pra­xis nicht ge­zeigt.

  20. @ die_kalte_Sophie No. 20, @ Gre­gor Keu­sch­nig No. 21

    Pra­xis

    Viel­leicht ist es Ih­nen auch auf­ge­fal­len: Es gibt hier im blog man­chal nicht-zy­ni­sche Mo­men­te fast schon der Ein­tracht.
    Die sind mir sehr wich­tig. Und über wen ist dann oft die Re­de – über Leu­te, die ei­nen in­ne­ren Kom­pass ha­ben, und – al­len Un­ken­ru­fen zum Trotz ih­ren Weg ge­hen – z. B. Hans-Jo­chen Vo­gel.
    En­zens (oh – es ist nichts zu ma­chen: Ge­gen die Vor­züg­li­chen hilft nichts als die Lie­be...) hat mal ein gan­zes, schön ge­mach­tes Buch über Hen­ry Dunant, den Grün­der des Ro­ten Kreu­zes, ge­schrie­ben. Nicht dass das auch nur 1 ka­piert hät­te, in den Feuil­le­tons, so­viel ich sah. Was an En­zens­ber­ger zu­dem sehr toll ist (ähn­lich wie bei Jün­ger! – ich glau­be, dass Mül­ler den auch da­für be­wun­der­te...) – En­zens­ber­ger be­klagt sich in sol­chen fäl­len nicht. Da ist es wie­der: Mach’ das Rich­ti­ge, oder be­mü­he dich dar­um – was dar­aus wird, weiß so­wie­so k e i n e r – das ist ei­ne Lek­ti­on, die vie­le Dia­mat und Hi­sto­mat-Gläu­bi­ge, aber auch die Tech­no­kra­ten z. B. bis heu­te nicht ver­stan­den ha­ben. En­zens­ber­ger hat über­dies – ähn­lich Goe­the, ei­nen mords Du­sel ge­habt: Goe­the wg.Schiller, En­zens­ber­ger we­gen Karl-Mar­kus Mi­chel.

    Mit Mi­chel hab ich ein­mal ei­nen ganz zau­ber­haf­ten Vor­mit­tag in Darm­stadt ver­plau­dert. Die ein­zi­ge heik­le Si­tua­ti­on war die: Im Gar­ten­ca­fé in der Oran­ge­rie war nicht ge­deckt und es war ziem­lich heiß – Mi­chel, im schwar­zen An­zug, dunk­les Hemd, woll­te sich aber par­tout nicht an ei­nen der un­ge­deck­ten Ti­sche im Frei­en und über­dies im luf­ti­gen Schat­ten set­zen. Ich woll­te uns dann, die von mes­sing­nen Stän­dern ge­hal­te­ne Ab­sper­rungs­bor­dü­re über­que­rend – 1X Spon­ti, im­mer Spon­ti – den Weg frei­ma­chen, aber Mi­chel zog es vor, die Re­geln ein­zu­hal­ten und in der Son­ne zu bra­ten. Ich hab das so­fort ver­ges­sen – bzw. re­gi­striert, aber mich 0 ge­är­gert. – Mi­chel war char­mant – und er ließ sich von der Hit­ze nicht be­ein­drucken.
    Nun – war­um Mi­chel: Weil En­zens­ber­ger und Mi­chel sich ge­gen­sei­tig im­mu­ni­sier­ten ge­gen die »un­er­füll­ba­ren For­de­run­gen« (HME); ge­gen die Idee, der Ka­pi­ta­lis­mus wer­de dem­nächst zu­sam­men­bre­chen und die DDR wie der Phö­nix aus der Asche usw. (...); zu­dem ge­gen die vi­ru­len­ten ky­ber­ne­ti­schen Wol­ken­kuckucks­hei­me. Im gro­ßen und gan­zen ha­ben sie all die­se Klip­pen im Eis­meer der Ge­gen­wart mit be­wun­derns­wer­ter Si­cher­heit um­schifft. – Mi­chel voll­brach­te die­se Tat üb­ri­gens nicht nur mit Hil­fe et­wel­cher Kennt­nis­se der Klas­si­ker, son­dern auch mit ei­ner so­li­den Kennt­nis der Theo­lo­gie (cf. sein Es­say­band »Von Eu­len, En­geln und Si­re­nen«).

    Nun: Un­se­re Pro­vin­zia­li­tät ge­gen­über der Zu­kunft, un­se­re prin­zi­pi­el­le Seh­schwä­che in die­se Rich­tung: Das war ei­nes der wich­tig­sten und pro­duk­tiv­sten der An­ti­dots, die die bei­den – u. a. in ganz leicht da­hin­schwin­gen­den Ab­hand­lun­gen über die Apo­ka­lyp­se und die Apo­ka­lyp­ti­ker – aus sich her­aus­span­nen.
    Ich hal­te da­für: O. a. (das man selbst­ver­ständ­lich auch noch auf vie­le an­de­re halt­ba­re Ar­ten aus­drücken könn­te) ist die ent­schei­den­de Kaut­ele, die all un­ser Han­deln be­stimmt – gra­de auch das po­li­ti­sche. Des­we­gen ist auch ver­nünf­ti­ge po­li­ti­sche Kri­tik und ins­be­son­de­re: Pra­xis, al­so re­flek­tier­te (=zi­vi­li­sier­te) po­li­ti­sche Pra­xis, von die­sem Ge­dan­ken ge­prägt: Näm­lich vor­ge­tra­gen bzw. ge­macht in Kennt­nis der ei­ge­nen Fehl­bar­keit – bzw. Fal­si­fi­zier­bar­keit bzw. Fal­libi­li­tät all’ (all’!!) un­se­rer gu­ten Ab­sich­ten – bzw. ge­ra­de der gu­ten ganz be­son­ders.

    Des­halb: Hand­fe­ste Din­ge wie Kor­rup­ti­on sind im­mer zu kri­ti­sie­ren. Tat­sa­che ist: Die Eli­ten aus den öst­li­chen Län­dern, z. B., wenn Ver­tre­ter der­sel­ben sich die Mü­he ma­chen und auf die pri­va­ten Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se von von mir aus Hel­mut Kohl schau­en: Wie bald ha­ben die da gleich­sam Trä­nen der Dank­bar­keit in den Au­gen – Trä­nen der Dank­bar­keit und ech­ter Rüh­rung. Der­lei ver­schwin­det hier im Res­sen­ti­ment – oder im knapp un­ter dem Deckel ge­hal­te­nen Hass: »Al­le Po­li­ti­ker ge­hö­ren ka­striert« (Auf­schrift auf An­ar­cho T‑Shirt, zu be­zie­hen im ein­schlä­gi­gen Fach­han­del, 2016). Der Rest ist – je kon­kre­ter, de­sto schwie­ri­ger. – Es ist ein Hand­ge­men­ge, ein Blät­ter­teig (Vom Blät­ter­teig der Zeit – ei­ne Me­di­ta­ti­on über den Ana­chro­nis­mus, En­zens­ber­ger in Zick­zack, 1996). Kuh­hän­del. Und dar­an ist nichts ver­kehrt.
    Mein dies­be­züg­li­cher (kein Witz) de­mo­kra­tie­theo­re­ti­scher Lieb­lings­text stammt von Kel­ler, und fin­det sich – er­zählt – in der No­vel­len­samm­lung die Leu­te von Sel­dwy­la. Er läuft dar­auf hin­aus zu sa­gen: Die Leu­te sind links (die Schul­leh­rer – - !) oder rechts (die Ge­werb­ler...), aber sie wur­steln sich al­le durch, und wenn man mit de­mo­kra­ti­schen Mit­teln die Sa­che so steu­ern kann, dass trotz der stän­dig (!) aus al­len Po­ren der klei­nen Ge­sell­schaft her­vor­sprie­ßen­den (!!) Schul­den (!!!) kei­ner ver­hun­gert und kei­ner für gar zu lang in den Schuld­turm muss – und wenn über­dies die All­men­de gut ge­pflegt wird, so­dass es auch die Ar­men im Win­ter warm ha­ben: Dann ist schon un­end­lich viel ge­won­nen.

    Jetzt bre­che ich ab – aber sie ha­ben viel­leicht den ro­ten Fa­den in mei­ner Ge­schich­te ge­shen.

    1 Satz noch: Man muß in sei­nem Welt­bild Platz für das Leid ha­ben, in dem Sin­ne, dass man es an­er­kennt als Teil der Con­di­tio Hu­ma­na – sonst wird die Sa­che un­wei­ger­lich sek­ten­haft, (falsch) pfingst­lich, ver­krampft, brü­chig, an­ma­ssend, dumm, ge­fähr­lich (sie kann na­tür­lich auch aus vie­len an­de­ren Grün­den aus dem Ru­der lau­fen.

  21. Na­ja, das mit dem in­ne­ren Kom­pass be­wun­de­re ich ja auch. Aber was, wenn die­ser Kom­pass eben auch ver­sucht, im­mer als er­ster ei­ne be­stimm­te Him­mels­rich­tung an­zu­ge­ben? Es gibt in Rad­datz’ Ta­ge­bü­chern ei­ne Sze­ne, in der er von ei­nem Fest er­zählt. Sehr vie­le be­kann­te In­tel­lek­tu­el­le sind dort, un­ter ih­nen auch En­zens­ber­ger. Den gan­zen Abend über sagt er aber so gut wie nichts und Rad­datz be­ob­ach­tet ihn, En­zens­ber­ger, wie der all die an­de­ren be­ob­ach­tet. Und si­cher­lich dar­aus sei­ne Schlüs­se ge­zo­gen hat. Rad­datz, der zu je­dem ir­gend­ei­ne Mei­nung hat­te, konn­te En­zens­ber­ger nicht fas­sen. Kein Eti­kett pass­te und wenn es doch zu pas­sen schien – da wur­de es auch schon wie­der von ihm kon­ter­ka­riert. Ich nen­ne das Ge­schmei­dig­keit (viel­leicht ist das ein Pla­gi­at von Rad­datz; ich er­in­ne­re mich nicht mehr): Ei­ner­seits Trend­set­ter – an­de­rer­seits aber auch die Be­reit­schaft, sich ei­nes Bes­se­ren zu be­leh­ren bzw. be­leh­ren zu las­sen. Ich hat­te schon ein­mal auf das Ge­spräch HME mit Ge­ro von Boehm hin­ge­wie­sen, in dem er dann, be­fragt nach dem, was ihn reut, ex­em­pla­risch die eher vor­ei­li­gen Hit­ler-Ver­glei­che auf­führ­te, die er so heu­te nicht mehr ver­wen­den wür­de.

    Die­se Ein­sicht un­ter­schei­det ihn von Fi­gu­ren wie Hei­ner Mül­ler oder Jün­ger. Die ha­ben nie über ih­re in­tel­lek­tu­el­len Irr­tü­mer rä­so­niert; sei es aus Ei­tel­keit oder auch aus Trotz. Da­mit ich nicht falsch ver­stan­den wer­de: Ich er­war­te kei­ne bü­ßen­den In­tel­lek­tu­el­len, die ihr »mea cul­pa« in­to­nie­ren. Mül­ler und noch mehr Jün­ger sind viel zu in­ter­es­san­te Per­sön­lich­kei­ten, als das man sol­che Selbst­be­zich­ti­gun­gen so­zu­sa­gen als Ein­tritt in ih­ren Kos­mos ver­lan­gen soll­te.

    »Mach das Rich­ti­ge« – ei­ne schö­ne Ma­xi­me, die aber lei­der als po­li­ti­sche Hand­lungs­an­wei­sung ein biss­chen sehr in­dif­fe­rent ist. Na­tür­lich bin ich früh, dass sich Frau Mer­kel oder Herr Kohl kei­ne Pa­lä­ste wie Herr Er­do­gan (noch da­zu von Steu­er­gel­dern) bau­en. Und ich ge­nie­ße es auch, dass ich zu ei­nem Amt in der Stadt­ver­wal­tung nicht ge­zwun­gen bin, ei­nen ver­schlos­se­nen Um­schlag mit 100 Eu­ro oder mehr be­reit hal­ten zu müs­sen, nur da­mit mein An­lie­gen be­ar­bei­tet wird. Und ja, ich bin im­mer wie­der ver­wun­dert über den Selbst­haß so­wohl von rechts wie auch von links und wer­de nie ver­ste­hen, war­um man ein mul­mi­ges Ge­fühl ha­ben soll wenn in der 80. Mi­nu­te ei­nes Fuß­ball-Län­der­spiels die deut­schen Fans die deut­sche Na­tio­nal­hym­ne an­stim­men, wäh­rend dies bei Eng­land oder Frank­reich als »stim­mungs­voll« gilt.

    Aber, um das Bei­spiel mit dem Re­stau­rant auf­zu­neh­men, ich wer­de mich nicht bei 30 Grad in der pral­len Son­ne mit An­zug und Kra­wat­te set­zen, wenn es an­de­re Mög­lich­kei­ten gibt (und sei es, ei­nen Re­stau­rant-Wech­sel). Es gab Zei­ten, in de­nen ich so et­was als Eti­ket­te zwin­gend ak­zep­tiert hät­te, aber in­zwi­schen bin ich die­sem Zwang schein­bar ent­wach­sen. Und so hal­te ich es auch mit der deut­schen Po­li­tik. Nur weil um uns her­um ent­we­der Po­pu­li­sten oder ein­fach nur die Un­fä­hig­keit herrscht, bin ich nicht zur Exkul­pa­ti­on der deut­schen Po­li­tik be­reit.

    Die Ge­fah­ren die­ser Hal­tung er­ken­ne ich sehr wohl. Ich glau­be zum Bei­spiel, dass die har­te und ex­or­bi­tan­te Kri­tik an den Ver­hält­nis­sen in und an der Wei­ma­rer Re­pu­blik von Leu­ten wie bspw. Tu­chol­sky kon­tra­pro­duk­tiv war. Ge­ra­de sein mo­ra­li­scher Ri­go­ris­mus, sein Gleich­be­han­deln in der Kri­tik der ex­tre­mi­sti­schen wie der de­mo­kra­ti­schen Kräf­te hat ei­ni­ges zum Le­gi­ti­ma­ti­ons­ver­lust der Wei­ma­rer Re­pu­blik bei­gesteu­ert. Da war der kon­ser­va­ti­ve Kno­chen Tho­mas Mann von an­de­rem Ka­li­ber. Er brauch­te et­was Be­denk­zeit, be­vor er sich für die Idea­le der Wei­ma­rer Re­pu­blik ein­setz­te. Die Stö­rer im Pu­bli­kum wa­ren dann die Jün­gers. Aber de­nen ging es nicht dar­um, die jun­ge De­mo­kra­tie zu ver­bes­sern, son­dern zu zer­stö­ren.

  22. Ich fin­de die Quint­essenz der No­vel­le von Kel­ler gar nicht so schlecht. Ich den­ke, es gibt zwi­schen Links und Rechts ei­ne un­sen­ti­men­ta­le und fai­re Ko­ha­bi­ta­ti­on. Oder: gab. Oder: könn­te ge­ben. Im Mo­ment sind die po­li­ti­schen Rand­be­din­gun­gen aber der­art viel­fäl­tig, und schon auf­grund der Viel­falt pa­ra­dox, dass sich kei­ne kla­re »For­ma­ti­on« (schreck­lich un­ge­nau) mehr ab­zeich­net. Und erst recht kein Land wie die Schweiz.
    Je­den­falls mir geht es so: man muss sich je­de ver­damm­te Mei­nung im Ein­zel­nen an­se­hen, und mei­stens geht es nicht viel über die Phra­se hin­aus. Um die De­mo­kra­tie fürch­te ich des­halb nicht, aber ich ha­be ein ve­ri­ta­bles Nä­he-Di­stanz-Pro­blem ent­wickelt. Ei­nes­teils könn­te man »die Bür­ger­li­chen« re­gie­ren las­sen, und sich selbst zu­rück­zie­hen, an­der­en­teils ist das ja nicht zum Aus­hal­ten, wenn man nur die Nach­rich­ten ein­schal­tet. Man müss­te wirk­lich wie ein Maul­wurf un­ter Er­de ver­schwin­den.

  23. @ die_kalte_Sophie No. 24 wg. Maul­wurf – s. u. – - – @ Gre­gor Keu­sch­nig No. 24 we­gen dem Rest

    Vor­ne­weg: Dass ich, wäh­rend Sie auf den Maul­wurf ka­men, auch auf den Maul­wurf kam – so ca. vor 1 Stun­de bei mir jez­te – ist das wg. des Klu­ge-En­zens­ber­ger-Ge­sprächs?! – Müss­te fast.

    2) Die Über­ein­stim­mung hier ge­fällt mir sehr, weil sie so­zu­sa­gen auf Ein­zel­hei­ten und zu­gleich Wi­der­spruch ba­siert

    @ Gre­gor Keu­sch­nig No. 23

    Ja, Tu­chol­sky, Wei­mar, Th Mann und Jün­ger und Hil­ler. Hil­ler ge­he ich gra­de ein we­nig nach (Bio­gra­phie Wall­stein). – Und ak­tu­ell eben die Idee, man müs­se tag­täg­lich über die Po­li­ti­ker her­fal­len. Bzw. das T‑Shirt und des­sen sicht­lich de­pra­vier­ten Trä­ger zwei Ti­sche wei­ter im Ca­fé am letz­tem Sonn­tag Nach­mit­tag an ei­nem un­se­re Lieb­lings­or­te im Schwarz­wald: »Die Po­li­ti­ker ge­hö­ren al­le ka­striert«. Oder wie es gra­de in KN ge­schah: Dass man sich von Sei­ten ei­nes de­zi­diert lin­ken Blogs die Ört­li­che Grü­nen MdL vor­knöpft we­gen ih­rer eu­pho­ri­schen Art, ih­re Schwan­ger­schaft per Ul­tra­schall­bild auf Face­book be­kannt zu ge­ben (sie ist jung – und ein we­nig un­be­darft – und tat­säch­lich tür­ki­sche Se­con­do). Kann man über al­les re­den: Aber wo­mit ich noch im­mer nicht fer­tig bin, das pas­sier­te dann: Die Alt­lin­ken hier fan­ta­sier­ten jetzt bier­se­lig auf ih­rem see­moz-Blog in al­ler Öf­fent­lich­keit, und in »kri­ti­scher Ab­sicht«, über das Se­xu­al­le­ben die­ser Frau. Ein paar alt­ge­dien­te Grü­ne pro­te­stier­ten, der Rest der Stadt­öf­fent­lich­keit mach­te ein­fach wei­ter wie bis­her.

    - Ei­ne Mar­gi­na­lie: Rad­datz ist ei­ner de­rer, die 1 En­zens­ber­ger-Text ge­recht ge­wor­den sind: Sei­ne Be­mer­kun­gen zu dem 1‑Seiter »Die Fu­rie des Ver­schwin­dens« in dem gleich­na­mi­gen – öh: fu­rio­sen – »es« Bänd­chen, das ich mitt­ler­wei­le rauf und run­ter zi­tie­re, es ist ein Wun­der (das Bänd­chen) – al­so Rad­datz’ ent­spre­chen­de Be­mer­kun­gen über die­ses Ge­dicht ins­be­son­de­re ent­spre­chen den höch­sten Gernhardt’schen Stan­dards: Sie sind tref­fend, hell und schnell. Kein Zwei­fel – er konn­te so­was! – Und dann – aber das nur als Kon­trast­er­leb­nis, nicht als mo­ra­li­sche Ver­an­stal­tung, kann man sich spa­ßes­hal­ber da­ne­ben­le­gen, was der Rest von Li­te­ra­tur­deutsch­land zu die­sem Bänd­chen ge­schrie­ben hat: Da sieht Rad­datz sehr gut aus.

    Was er nicht konn­te – wo­von er kei­ne Ah­nung hat­te: Das war die Welt ab­seits sei­ner ei­gent­lich sehr eng ge­zir­kel­ten Bah­nen zu wür­di­gen. Das ko­stet mit der Zeit Sub­stanz. Ich den­ke wirk­lich, au­ßer dem, was in sei­nen Ta­ge­ü­chern steht, wuß­te Rad­datz prak­tisch über nichts Be­scheid. Kein Wun­der, wa­ren ihm vie­le an­de­re Leu­te un­heim­lich. Im­mer­hin hat er re­gi­striert, dass sein Au­ssen­ver­hält­nis so­zu­sa­gen merk­wür­dig ist.
    Rush­die hat ei­nen sehr gu­ten Ro­man über der­lei ge­schrie­ben: Der Bo­den un­ter ih­ren Fü­ßen. Der spielt den Er­fah­rungs­ver­lust durch Spe­zia­li­sie­rung (und for­cier­ten He­do­nis­mus) an­hand ei­nes Rock-Su­per­stars durch. Ge­fiel mir sehr!
    En­zens­ber­ger ist die­sem Er­fah­rungs­ver­lust durch Spe­zia­li­sie­rung ent­gan­gen, wo im­mer er konn­te, u. a. in­dem er Her­aus­g­ber oder Ver­le­ger wur­de, das ist ja kei­ne so ganz an­spruchs- und welt­lo­se Ar­beit. Goe­the z. B. auch – auch Rutsch­ky hat­te recht bald ei­ne Vor­stel­lung da­von, dass das ei­ne Ge­fahr dar­stellt.

    Vie­le Ana­ly­ti­ker, die in­ter­es­sant schrei­ben, ha­ben ih­re Kli­en­ten, die ih­nen – in Form von pre­kä­ren Er­zäh­lun­gen – Aus­schnit­te aus der so­zia­len Welt lie­fern. Wal­ser reist un­ab­läs­sig, trifft un­ab­läs­sig Leu­te, spricht un­ab­läs­sig mit de­nen, wahr­schein­lich bis er um­fällt – und er tut das im­mer – au­ßer wenn er die­se Be­geg­nun­gen ver­ar­bei­tet – al­so, wenn er schreibt. Zu­dem hat er ei­ne Wei­le ei­ne mun­te­re Kin­der­schar um sich ge­habt.

    (Nicht ganz) zu­fäl­lig heu­te mor­gen dar­auf ge­sto­ßen: En­zens­ber­ger sagt noch, dass die­ser Er­fah­rungs­ver­lust für Schrei­ber vom Typ Maul­wurf – wie z. b. Kaf­ka – nicht so wich­tig ist, weil die oh­ne­hin gleich­sam un­ter­ir­disch ar­bei­ten. Er sei aber an­ders, des­halb müs­se er sich in de rwelt um­tun: Er sei vom Typ Storch!

    Hen­scheid z. B., seit er nicht mehr an die Ti­ta­nic und ei­nen pro­duk­ti­ven Frank­fur­ter Kreis an­ge­bun­den ist, er­lebt nichts mehr, und wird im Zwei­fels­fall vir­tu­os spi­nös – »Aus der Küm­mer­niß« ist schon fast ganz rei­ne Sprach­mu­sik...

    Aber sei­ne Au­to­bio­gra­phie leuch­tet noch mal gut auf. Scha­de, dass das Kri­ti­ker­seits kei­nen mehr in­ter­es­siert hat – au­ßer De­nis Scheck, so­viel ich er­in­ne­re: 1 Che­ers an De­nis Scheck in die­sem Fall – ich hof­fe, das schmerzt Sie nicht all­zu sehr!

  24. der Maul­wurf kam über mich, weil ich nach ei­ner glaub­haf­ten Re­prä­sen­ta­ti­on von Ab­ge­schie­den­heit und In­te­gri­tät ge­sucht ha­be. Ich se­he mich den po­li­ti­schen Pro­zes­sen eher aus­ge­setzt, und kann die Wir­kung auf mich selbst nicht steu­ern.
    Ne­ben der be­wuss­ten Ak­ti­vi­tät gibt es so ein »Bro­deln«, das mich be­un­ru­higt.
    Klar, die Ra­tio ist die Ober­flä­che. Das Den­ken, das mög­lichst viel »Ober­flä­che« durch­dringt. Aber in der Tie­fe lau­fen doch ei­gen­stän­di­ge Pro­zes­se, Ak­ti­vie­rung, De-Ak­ti­vie­rung.
    Al­so me­ta­pho­risch schräg: man ist schon längst zum Maul­wurf mu­tiert, wetzt noch durch den Ge­mü­se­gar­ten (Öf­fent­lich­keit), müss­te aber we­sens­ge­recht an die Ar­beit ge­hen, stellt fest, dass man sich zwi­schen ver­schie­de­nen Le­bens­wei­sen nicht rich­tig ein­ge­rich­tet hat. Kommt sich vor als »un­ge­schlach­tes Misch­we­sen«, ge­ne­tisch zwei­deu­tig, ver­wach­sen.
    Das Kaf­ka-Pro­blem: nicht ein­deu­tig zu sein, ein Ge­men­ge zu sein.

  25. Im­mer wie­der wenn ich von der me­dia­len Ge­trie­ben­heit des glo­ba­li­sier­ten Re­zi­pi­en­ten und dem Aus­ge­setzt­sein in der Po­li­tik le­se, er­in­ne­re ich mich an Goe­thes Wort an Zel­ter vom 29.4.1830:

    Seit den sechs Wo­chen, daß ich die sämt­li­chen fran­zö­si­schen und deut­schen Zei­tun­gen un­ter ih­rem Kreuz­band lie­gen las­se, ist es un­säg­lich was ich für Zeit ge­wann und was ich al­les weg­schaff­te.

    Schon Kaf­ka konn­te das nicht mehr. Er ging schwim­men, aber dass der Krieg aus­brach (von dem man da­mals noch nicht wuss­te, wel­che Aus­ma­ße er ha­ben soll­te) ging nicht an ihm vor­bei. Ein Maul­wurf mit Seh-Rohr nach Oben.

    Da­her ist es schon in­ter­es­sant, wenn @Dieter Kief Rad­datz un­ter­stellt, dass die­ser au­ßer­halb sei­nes Krei­ses nichts mit­be­kom­men hat­te. Wo­bei »Un­ter­stel­lung« nicht ne­ga­tiv ge­meint ist. Könn­te es nicht ei­ne Tu­gend sein, sich dem Drum­her­um, den lä­sti­gen Ent­schei­dun­gen für oder ge­gen et­was zu sein, zu ent­zie­hen? Die an­de­re Fra­ge ist, ob das ein Li­te­ra­tur­kri­ti­ker über­haupt kann.

    Storch vs Maul­wurf. Und was ist mit dem Faul­tier?

  26. @ Gre­gor Keu­sch­nig No. 27

    Es ist ein Klas­si­ker: Spe­zia­li­sie­rung bringt ei­nen an die Spit­ze – und macht gleich­zei­tig doof.

    Vie­le Leu­te, die wie der stein­al­te Goe­the kei­nen me­dia­len In­put mehr be­zö­gen, wür­den sich sehr un­wohl füh­len, weil sie eben nichts weg­zu­schaf­fen ha­ben.

    Hier ein Zu­falls­fund von heu­te Nacht:
    http://www.rp-online.de/nrw/panorama/gaffer-bedrohen-polizisten-in-dortmund-aid‑1.6129184

    Bei Fromm liest sich das so: Es be­steht die Ge­fahr, dass sich ei­ne so­zu­sa­gen re­zep­ti­ve oder pas­siv-re­zep­ti­ve Le­bens­wei­se – qua­si ein­stellt. Und die­se ar­chai­sche Lust wird dann ro­bust ver­tei­digt.

    Das ist de­fi­ni­tiv ei­ne ma­li­gne An­ge­le­gen­heit. Es hat u. a. des­we­gen ei­nen gu­ten Sinn, sich der­lei vor Au­gen zu füh­ren, weil die Mög­lich­keit sel­ber ziem­lich neu ist. Stich­wort: Pas­si­vie­rung und Pa­tho­lo­gi­sie­rung d u r c h die so­zi­al­staat­lich ga­ran­tier­te Ver­sor­gung. Die Po­li­zei und die Ret­tungs­dien­ste wer­den zu­neh­mend als Fein­de ge­se­hen, weil sie mit dem So­zi­al­staat ver­schwi­stert sind: Sie sind al­so an der Quel­le des als sehr drän­gend und akut er­leb­ten Un­glücks, das man ger­ne – und zu­neh­mend – beim Staat fest­macht. Die Sa­che ist im Kern ba­by­ein­fach: Die Leu­te glau­ben, dass Geld glück­lich macht – und zwar je un­pro­duk­ti­ver sie sel­ber le­ben. Da­her zie­hen sie den Um­kehr­schluß: Wenn sie un­glück­lich sind, ist der Staat schuld, weil er ih­nen zu­we­nig Geld gibt. Das aber ist für sie of­fen­sicht­lich: Weil sie ja sonst glück­li­cher wä­ren! – Al­so ma­chen sie ih­rer tat­säch­lich emp­fun­de­nen Wut und Be­schä­mung an­ge­sichts der Ret­tungs­krä­f­re und der Pol­zei Luft: Denn die ste­hen für nichts an­de­res als für das Haupt­hin­der­nis auf dem Weg zum Glück: Den Staat!

    Die­se Art von zir­ku­lä­rer la­ten­ter bis of­fe­ner Zorn­be­wirt­schaf­tung trei­ben u. a. ein Hau­fen dritt­klas­si­ger Fern­seh­kas­per – aber ich fürch­te, der wirk­li­che Ab­grund tut sich in der Spie­le- und Vi­deo-Welt auf. Gut, dass ich da­von we­nig weiß...

    ... er deu­te das al­les nur an/
    und sei­ne Stim­me er­he­be er nur/
    weil sonst kei­ne Stim­me ver­nehm­bar wä­re...

    Faul­heit ist fin­de ich ok, sie wird aber wie der konstruktive/produktive Um­gang mit Frei­heit über­haupt gern un­ter­schätzt. Das sind an­spruchs­vol­le Din­ge, die, wenn sie ge­lin­gen sol­len, in Rich­tung Le­bens­kunst wei­sen. Und wahr­schein­lich in Rich­tung Selbst­bin­dung (das ist jetzt nicht ganz aus­ge­go­ren).
    Ich ha­be auf die­sem viel­be­gan­ge­nen Pfad schon vie­le Strau­cheln se­hen – und da bin ich nicht der ein­zi­ge: « (...) And I Lay Traps For The Troubadors/ Who Get Kil­led Be­fo­re They Reach Bom­bay // Plea­sed to meet you Ho­ney – ho­pe you’ll guess my Na­me // Now what’s Con­fu­sing Ya/ Is the Nature// Of My Game

    - – - Unglaublich,dass die Glim­mer-Twins das als Twens ge­schrie­ben ha­ben sol­len... Ha­ben sie aber. – Ir­gend­wer hat ih­nen Goe­the bei­gebracht, I guess (Sub­ject for fur­ther In­ve­sti­ga­ti­on).

  27. Man könn­te si­cher­lich die Am­bi­va­len­zen be­son­ders im lin­ken Mi­lieu zum Staat ge­nüss­lich aus­brei­ten. Zum ei­nen wird er – ganz Tea-Par­ty-ge­mäss – als über­flüs­sig in­ter­pre­tiert. Zum an­de­ren dann je­doch als rie­si­ge Um­ver­tei­lungs­ma­schi­ne be­grüsst, die bis in die klein­sten Haar­spit­zen hin­ein al­les zu re­geln hat. Der Gip­fel ist die For­de­rung nach ei­nem be­din­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men, wel­ches na­tür­lich auch wie­der »der Staat« zur Ver­fü­gung stel­len soll. Die Sym­bo­le des Staats – Po­li­tik, Po­li­zei, Ju­stiz – wer­den wenn über­haupt nur als Be­glückungs­brin­ger ak­zep­tiert. Be­son­ders ab­stru­se Blü­ten treibt dies im Kul­tur­för­der­we­sen: Man re­kla­miert Sti­pen­di­en, Sub­ven­tio­nen, Un­ter­stüt­zun­gen – um dann ge­nau die­ses Ge­mein­we­sen nicht nur zu kri­ti­sie­ren (das ist le­gi­tim), son­dern zu at­tackie­ren.

    .-.-.-

    Mit »Faul­tier« meint ich tat­säch­lich den mehr oder we­ni­ger nur noch do­sier­ten Kon­sum von Nach­rich­ten je­der Art. Ich bin bei wei­tem noch nicht so alt wie Goe­the 1830 und da­mals dürf­te die Nach­rich­ten­la­ge auch we­ni­ger spek­ta­ku­lär sein als heu­te, kann aber sei­ne Kla­ge sehr gut ver­ste­hen. Frü­her ha­be es im Fern­se­hen sonn­tags ei­ne Sen­dung, die sich »Wo­chen­spie­gel« nann­te. Hier wur­den die wich­tig­sten nach­richt­li­chen Er­eig­nis­se der Wo­che zu­sam­men­ge­fasst. Man hat­te wäh­rend die­ser 30 Mi­nu­ten nicht den Ein­druck, et­was zu ver­pas­sen. Auch das ist be­reits 30 oder 20 Jah­re her. Den­noch glau­be ich, dass das Sich-Aus­set­zen mit Tickern und Ak­tu­el­lem prak­tisch je­der Art ei­ne Art von Um­welt­ver­schmut­zung dar­stellt, die ei­ne Per­son psy­chisch und in­tel­lek­tu­ell de­for­mie­ren kön­nen.

    Der Putsch­ver­such in der Tür­kei und die Er­eig­nis­se da­nach sind jetzt ei­ne Wo­che her. Zu­sam­men­fas­sen könn­te man das Ge­sche­hen – oh­ne die Kom­ple­xi­tät we­sent­lich zu re­du­zie­ren – in zehn Zei­len. Statt­des­sen hat man auch »nor­ma­ler« Nach­rich­ten­kon­su­ment si­cher­lich Stun­den um Stun­den da­mit ver­bracht, sich über die Er­eig­nis­se wie auch im­mer (In­ter­net, Ra­dio, Fern­se­hen, Zei­tung) zu in­for­mie­ren. Da­mit mei­ne ich nicht die Hin­ter­grün­de, die auf­schei­nen (das lei­sten die Ak­tu­ell-Me­di­en im­mer we­ni­ger). Die Kom­ple­xi­tät des Vor­gangs sel­ber bleibt un­an­ge­ta­stet. Um ein Bon­mot ab­zu­än­dern: Nicht das In­ter­net oder Face­book sind die gro­ßen Zeit­ver­nich­tungs­ma­schi­nen, son­dern die Echt­zeit-Nach­rich­ten­an­ge­bo­te.

    »Faul­heit« be­stün­de dar­in, sich die­sem Strom zu ent­zie­hen – oh­ne al­ler­dings in ei­ner pla­to­ni­schen Höh­le zu ver­sau­ern. (Da­zu passt mein Mit­leid mit den Feuil­le­to­ni­sten, die sich fast zwang­haft da­mit be­schäf­ti­gen, wie und war­um »Po­ké­mon Go« funk­tio­niert und dies in Selbst­ver­su­chen über sich er­ge­hen las­sen. Statt­des­sen hät­te man doch bes­ser ein paar Bü­cher ge­le­sen und re­zen­siert.)

  28. @ Gre­gor Keu­sch­nig No. 29

    Ja klar – al­les rich­tig!

    Ich z. B. kucke kei­ne Nach­rich­ten und le­se so we­nig wie mög­lich on­line. 2 Ta­ges­zei­tun­gen, 2–3 Blogs/ Tg., ein paar an­de­re Blät­ter, fer­tig. Fern­se­hen we­ni­ger als 1 Std. / Tag. Na­ja – kein rich­ti­ges Faul­tier...

    Auf die Ge­fahr hin, dass Sie jetzt in ein Höl­len­ge­läch­ter aus­bre­chen – ich ma­che das so wie mei­ne Mut­ter, die auf ei­nem Sub­sti­stenz­bau­ern­hof auf gut 1000 Me­tern Hö­he im Su­de­ten­land auf­ge­wach­sen ist, und die stets mit ei­nem skep­ti­schen Blick auf die hie­si­ge Be­trieb­sam­keit re­agiert hat (Gott hab sie se­lig!) – bzw. En­zens­ber­ger (ja, Gott, die­se Hö­fe, von de­nen die Fa­mi­lie her­stammt im All­gäu, die ste­hen oft noch da, und der Na­me kommt vom En­zi­an – frü­her wa­ren die Hän­ge blau da­von, das ist ja al­les ganz nor­mal).

    Hin­ter­grün­de sind in­ter­es­sant – aber was mich sehr be­schäf­tigt: Auch die wer­den gern als rei­ne Fak­ten ge­lie­fert. Dank In­ter­net kön­ne selbst klei­ne Me­di­en im Hand­um­dre­hen 15 000 Zei­chen ma­chen zu – Kon­flikt in Tür­kei usw. – Sinn von­net jan­ze: Wenn der Aus­wäh­ler und die Auf­be­rei­te­rin kei­ne Pei­lung ha­ben: = 0; ob­wohl evtl. al­les rich­tig ist. Für den Spie­gel ist das ganz schlecht, weil wi­ki­pe­dia und der on­line-Zu­gang zu al­len al­ten Spie­gel-Aus­ga­ben ca. 3/4 des Wis­sens­vor­sprungs des Spie­gels zum Ver­schwin­den brach­ten; 3/4 des In­halts sind bei gro­ßen The­men meist von der Kon­kur­renz bis hin zum win­dig­sten on­line-Me­di­um und zur Gra­tis­zei­tung (in CH sehr stark) re­gel­mä­ßig ab­ge­grast, wenn das Heft er­scheint.

    Heu­te mor­gen ein län­ge­res Ge­spräch, dar­in: Klatsch (30%), Düs­sel­dor­fer Gaf­fer (30%), Tür­kei (20% – u. a. Er­do­gans Schul­bil­dung: 4 Jah­re. Sehr gut auch die­se In­fo – ge­stern aus ei­nem Blog ge­fischt: Der Un­ter­schied zwi­schen der »hel­len« und der »dunk­len« (= tür­ki­sche Be­zeich­nun­gen) Tür­kei: Städ­ter, Ge­bil­de­te, Lai­zi­sten, Mit­tel­schicht u Ober­schicht, vs. for­mal Un­ge­bil­de­te (0 – 4 Jah­re Schu­le), fest im Glau­ben, stolz und dank­bar auf der Sei­te Er­do­gans (ei­ner von uns!). Die dunk­le Tür­kei ist z. T. voll­kom­men orts­fest, z. T. hoch­mo­bil (u. a. vie­le deut­sche Gast­ar­bei­ter).
    Dann noch die Fra­ge, wie Ver­schwö­rungs­theo­rie­af­fin ist die Tür­kei? Das hat Ste­ve Sai­ler auf iste­ve in ei­nem ei­ge­nen Blog­bei­trag her­vor­ra­gend ab­ge­han­delt. Ichab ihm mal ge­schrie­ben, dass in mei­nem Um­feld der Schrift­stel­ler HME der er­ste war, der die­ses Fak­tum be­acker­te – für die Tür­kei – - ex­pli­zit, so­weit ich sah (aber ich se­he da nicht sehr weit).

    Sai­ler schrieb, er sei vor Jah­ren mit ei­nem US-Thinktank ein paar Ta­ge in der Tür­kei ge­we­sen und ha­be be­merkt: Ver­schwö­rungs­theo­rien sind dort ein Aus­weis in­tel­lek­tu­el­ler Stär­ke. – Sol­che Din­ge sind na­tür­lich gut zu wis­sen – und an­schluss­fä­hig. Is­la­mi­sche Kul­tu­ren sind in der De­fen­si­ve, und wenn man in der De­fen­si­ve ist, fühlt man sich auch leicht ver­folgt. Bzw. ent­wickelt Su­pre­ma­tie-Vor­stel­lun­gen, die hand­kehrum Ver­fol­gungs­ideen ge­ne­rie­ren usw. – Bis hin zum letz­ten irr­lich­tern­den Beil­schwin­ger in Main­fran­ken...
    Cf – : Es ist wie vor drei­ßig Jah­ren in und um Frank­furt: Wer die ne­ga­ti­ve Dia­lek­tik des BRD-Ge­samt­ver­blen­dungs­zu­sam­men­hangs nicht durch min­de­stens 32 Ver­schach­te­lun­gen hin­durch noch zu er­ken­nen ver­moch­te, galt nicht als zu­rech­nungs­fä­hig – bzw. als Büt­tel des Sy­stems, Chau­vi­nist, Ar­bei­ter­ver­rä­ter, Kon­ter­re­vo­lu­tio­när usw.

    Aber das war’s dann auch für mich mit der Tür­kei, im Gro­ßen und Gan­zen.

    Toll, dass Sie die Sub­ven­ti­ons­ab­grei­fer im Kul­tur­be­reich er­wäh­nen – im Grun­de die glei­che Struk­tur wie bei den Düs­sel­dor­fer Pro­lo-Gaf­fern: Du be­weist, dass du als Sub­ven­ti­ons­künst­ler nicht ge­kauft bist (Pro­lo-Gaf­fer: = nicht von der Lü­gen­pres­se ver­strahlt usw.), in­dem Du – je hirn­lo­ser, de­sto bes­ser – auf­rüh­re­ri­sche Re­den führst.

    Hier war vor ein paar Wo­chen ei­ne wei­te­re Dis­kus­si­on über die Fra­ge Re­gie­thea­ter – ja oder nein – und der aus dem lin­ken Haupt­stadt-Mi­lieu glau­bich in die dum­me Pro­vinz ein­ge­flo­ge­ne Re­gis­seur er­öff­ne­te die Dis­kus­si­on vor den schon er­bar­mungs­wür­dig duld­sa­men Re­sten des Kon­stan­zer Bil­dungs­bür­ger­tums (50 graue Köp­fe) – und si­cher noch ein paar der letz­ten Kon­stan­zer SPD-Wäh­le­rIn­nen und bra­ven Thea­ter­kar­ten-Abon­nen­tin­nen und Steu­er­zah­le­rin­nen mit der Fest­stel­lung: »Schrö­der ist ein Arsch­loch!« – Dann be­gann er zu be­grün­den, war­um er im Zer­bro­che­nen Krug a l l e Rol­len von a l l e n Schau­pie­le­rIn­nen spie­len ließ: Weil wir heu­te (!?) so­wohl An­ge­klag­te als auch Rich­ter (?!) sei­en – Stich­wort: De­kon­struk­ti­on – - vor 50 Jah­ren emt Klas­sen­ju­stiz. Jetzt wer­den die Kenn­zei­chen der bür­ger­li­chen Re­pres­si­on de­kon­stru­iert am Bei­spiel Kleists, den der Ex­per­te dann für an sich un­spiel­bar er­klär­te, weil die Mo­ti­ve heu­te kei­nen An­klang mehr fän­den.

    In Tat und Wahr­heit sind die­se Leu­te nicht nur be­schränkt, son­dern über­dies ster­bens­lang­wei­lig. – Nun gut, das ist nichts be­son­de­res. Um­so tol­ler, wenn es je­mand an­ders macht: Ge­stern To­ni Erd­mann ge­se­hen – 20% des o. a. Ge­sprächs un­ter Kon­stan­zer Bloch­ken­nern gal­ten Ma­ren Ades Mei­ster­werk – in un­se­rer Räu­cher­kam­mer gab es – im­mer­hin vom ein­zi­gen un­ter den dis­ku­tan­ten, der den Film ge­se­hen hat, 100% Zu­stim­mung.

  29. @ Die­ter »Cf – : Es ist wie vor drei­ßig Jah­ren in und um Frank­furt: Wer die ne­ga­ti­ve Dia­lek­tik des BRD-Ge­samt­ver­blen­dungs­zu­sam­men­hangs nicht durch min­de­stens 32 Ver­schach­te­lun­gen hin­durch noch zu er­ken­nen ver­moch­te, galt nicht als zu­rech­nungs­fä­hig...«
    Ein Zu­fall, das ist mir jüngst auch ein­ge­fal­len, just die Ana­lo­gie zwi­schen der ara­bi­schen Vor­lie­be für Ver­schwö­rungs­theo­rien, und sei­ner »theo­re­ti­schen Va­ri­an­te«, wo­bei da­mit nicht die raf­fi­nier­ten Au­toren an­ge­spro­chen wä­ren, son­dern das in­tel­lek­tu­el­le Fuß­volk. Wich­tig­ste Dif­fe­renz: die Ara­ber ma­chen die Per­son zum Ur­sprung der Ver­wick­lun­gen, die West­ler das Sy­stem.
    Mei­ne Ver­mu­tung: es gibt ei­nen Zwang, ei­ne »Norm« im We­sten, zu de-per­so­na­li­sie­ren. West­li­che Men­schen sind (im­mer im Ver­gleich zu den Mus­li­men) zu sehr vom Schuld­kom­plex ge­prägt, so dass je­de Ver­schwö­rungs­theo­rie im­mer als »un­ver­schäm­te An­kla­ge« zu ver­ste­hen wä­re. Kommt trotz­dem vor, zu­letzt vie­le Spe­ku­la­tio­nen über die wahr­haft bos­haf­ten Mo­ti­ve der Kanz­le­rin bei der Be­för­de­rung der Zu­wan­de­rung.
    Aber das sind Aus­nah­men. Ich glau­be, dass die Norm zur De-Per­so­na­li­sie­rung kul­tur-im­ma­nent ist, und das west­li­che Den­ken (im land­läu­fi­gen Sin­ne) ex­klu­siv prägt.
    Ich fas­se das mal de­leu­zia­nisch als Hy­po­the­se zu­sam­men:
    ES MUSS JEMAND SCHULD SEIN, ABER ES WÄRE BESSER, WENN DAS KEIN MENSCH IST...
    Viel­leicht hat die gro­ße Er­run­gen­schaft »Theo­rie« ja doch eth­no­lo­gi­sche Wur­zeln.

  30. @ die_kalte_Sophie No. 31

    Mei­nen Sie eth­ni­sche oder eth­no­lo­gi­sche Wur­zeln?

    An­son­sten ist das ein simp­ler Be­fund – den in­ter­es­san­ter­wei­se Sai­ler und En­zens­ber­ger ha­ben – vie­le an­de­re nicht: In Tur­ki­ye jib­bet mehr Ver­schwö­rungs­theo­rien als bei­spiels­wei­se in Deutsch­land oder den USA.

    Mein Ador­no-Be­zug ist ei­ne struk­tu­rel­le Ana­lo­gie, sie be­rührt nicht den Be­fund. Po­si­tiv ge­le­sen: Auch Ador­no war in die­ser Hin­sicht ta­del­los: Er war k e i n Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker.

    Hie Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker – da kei­ne oder ver­gleichs­wei­se sehr we­ni­ge (ei­gent­lich kei­ne von Re­le­vanz – Nach­denk­sei­ten-Mül­ler ist, so will mir schei­nen, nicht von gro­ßer Re­le­vanz).

    Man kann der­lei si­cher auch mit Be­zug auf De­leu­ze durch­den­ken – so wie man, laut Hans Trax­ler glau­bich, den Kah­len Asten im Rot­h­aar­ge­bir­ge selbst­ver­ständ­lich auch mit Sau­er­stoff­ge­rät be­stei­gen kann. – Ent­spre­chend merk­wür­dig ist ihr Fa­zit, das fast al­le Dif­fe­ren­zie­run­gen, die ich oben vor­ge­nom­men ha­be, wie­der ein­sam­melt. Und an de­ren Stel­le ei­ne lu­sti­ge, aber sinn­freie Poin­te setzt: Schuld oh­ne Men­schen.

  31. »Mein Ador­no-Be­zug ist ei­ne struk­tu­rel­le Ana­lo­gie, sie be­rührt nicht den Be­fund. Po­si­tiv ge­le­sen: Auch Ador­no war in die­ser Hin­sicht ta­del­los: Er war k e i n Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker.«
    Jetzt müss­te man ganz ge­nau sein, und am be­sten al­lein und nicht zu zweit...

    Erst­mal, dan­ke! Ich mein­te tat­säch­lich »eth­nisch« im abend­län­di­schen Sin­ne.
    Schon ha­be ich mir ein Pro­blem ins Knie ge­schraubt.
    Dann zu ih­rer Aus­sa­ge oben: Wenn es im We­sten im Um­kreis der kri­ti­schen Theo­rien (Deutsch­land, Frank­reich, U.S.A.) so et­was wie ei­ne de-per­so­na­li­ser­te Form der Ver­schwö­rungs­theo­rie gibt (was ich be­haup­te, aber halt auch be­haup­ten möch­te), dann wür­de das be­stimmt den »Be­fund« be­rüh­ren, oder sa­gen wir schlicht, den epi­ste­mi­schen (Er­schei­nungs-Be­schrei­bungs-) Wert der Theo­rien.
    Uff. Und im Ein­zel­fall müss­te man dann ganz ge­nau sein. Ador­no?! Ein be­weg­li­ches Den­ken, das sich mit der Po­li­tik gar nicht ein­las­sen woll­te. Schwer­punkt: Äs­the­tik.
    Ha­ber­mas?! Schwie­rig. Das po­li­ti­sche Han­deln, das er theo­re­tisch in Be­tracht zieht, hat na­tür­lich viel mit Pro­to-Po­li­tik, aber ab­so­lut nichts mit Wirt­schaft zu tun. Schon wie­der wird nur links ge­blinkt, aber nicht rich­tig ana­ly­siert.
    Erst muss der Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang auf­ge­sprengt wer­den, dann der Neo­li­be­ra­lis­mus ge­knackt. Und da­bei weiß je­der Le­ser mit Ver­stand ganz ge­nau, dass die­sen Be­grif­fen kei­ne Ob­jek­ti­vi­tät bei­kommt.
    Aber »klingt« die­se Be­griff­lich­keit nicht deut­lich nach Ver­schwö­rung oh­ne Haupt­per­son?! Ich mei­ne, der pa­ra­noi­sche Aspekt ist viel­leicht schwach aus­ge­prägt, aber er ist vor­han­den. Die­sen schwa­chen pa­ra­no­iden Kom­plex wür­de ich in bei­den Fäl­len ei­nen »hoch­flie­gen­den kul­tur-ver­träg­li­chen Er­satz für ara­bi­sche Ver­schwö­rungs-Theo­rien« nen­nen. Will sa­gen, es hat die­sel­be FUNKTION. Es hält die Span­nung hoch, und gibt An­lass für Spe­ku­la­tio­nen.
    Sie ha­ben recht: Ador­no ist kein Ver­schwö­rungs-Theo­re­ti­ker. Aber ein ganz ganz klei­nes biss­chen...

  32. @ die_kalte_Sophie No. 33

    Jetzt mach ich oh­ne Ab­kür­zun­gen: Dass Ador­no nichts mit Po­li­tik zu tun hat­te, ist falsch.
    Eben­so falsch ist es zu sa­gen, Ha­ber­mas ha­be nichts mit Wirt­schaft am Hut – er ist viel­leicht so frei, die­sen Be­zug so zu ge­stal­ten, wie er es für rich­tig hält. Le­sen Sie evtl. mal die TdKH – man kann sei­ne Zeit er­heb­lich sinn­lo­ser zu­brin­gen (öhhh), es fin­den sich al­lein dort vie­le Dut­zend Be­zü­ge zur Wirt­schaft.

  33. Sie miss­ver­ste­hen mich, lie­ber Die­ter. Ich ge­he von den Schwer­punk­ten der Den­ker aus und ih­ren In­ter­es­sen. Da ist es kei­nes­wegs falsch zu­sa­gen, Ador­no hat­te nichts mit Po­li­tik und Ha­ber­mas hat­te nichts mit Wirt­schaft am Hut.
    Aber die­se Grob­hei­ten spie­len für mei­ne blut-jun­ge Hy­po­the­se von den »de-per­so­na­li­sier­ten Ver­schwö­rungs-Kom­ple­xen« gar kei­ne Rol­le. Das ist ein The­ma für ein gan­zes Buch, das ich na­tür­lich nicht schrei­ben wer­de. Aber die näch­sten Jah­re über wer­de ich ver­mut­lich »Zet­tel« dar­über sam­meln, weil es mich wirk­lich in­ter­es­siert.
    Ich ge­he da­von aus, dass die Vi­ru­lenz bei den aus­ge­wie­sen aka­de­mi­schen Den­kern re­la­tiv ge­ring ist. Der Ab­stand zur Wald-und-Wie­sen-Ideo­lo­gie ist ge­wal­tig. Ganz klar. In­des, die Be­deu­tung für die po­li­ti­sche For­ma­ti­on »West« ist im Mo­ment doch mit Hän­den zu grei­fen, oder?! Dass die Den­ker da­von nur in ho­möo­pa­thi­schen Do­sen Ge­brauch ma­chen, ist ein schwa­cher Trost ge­gen­über dem all­täg­li­chen Wahn­sinn.
    Po­li­tik ist Ver­nunft für al­le, die sie für an­schluss­fä­hig er­ach­ten. Die Un­ter­schie­de zwi­schen den Po­li­ti­ken sind aber im­mer noch rie­sen­groß. Streng ge­nom­men gibt es kei­ne Po­litk, die wirk­lich ver­nünf­tig ist, wenn man den Ver­nunft-Be­griff des rei­nen Den­kens her­an­zieht. Je­de Prag­ma­tik geht von an­de­ren Prio­ri­tä­ten und »Wahr­schein­lich­kei­ten« aus.
    Wenn Sie so wol­len, hat Ador­no sich als Po­lit-Skep­ti­ker sich längst nicht so kol­losal ge­irrt wie Ha­ber­mas als uni­ver­sa­li­sti­scher Po­lit-Prag­ma­ti­ker. Ja, der lag wirk­lich ganz schön da­ne­ben. Aber viel­leicht muss das ja so sein, von ir­gend­wo weit drau­ßen aus ei­nem kos­mi­schen Blick­win­kel her­aus be­trach­tet. Viel­leicht will je­der ge­wal­ti­ge Irr­tum aus­führ­lich sein.

  34. @ die_kalte_Sophie

    Zu­erst ma­chen Sie ei­ne ge­ne­rel­le Aus­sa­ge über Ador­no und Ha­ber­mas – und dann sa­gen Sie, das sei nicht so ge­meint ge­we­sen.
    Die Fra­ge, die sich da im­mer auf­drängt ist: Wenn Sie das nicht so ge­meint ha­ben – war­um ha­ben Sie es dann so ge­schrie­ben?

    Im üb­ri­gen: Ich fürch­te in der Tat, dass Sie ei­ne fal­sche Vor­stel­lung ha­ben vom Zu­sam­men­hang von Theo­rie und Pra­xis. Kurz ge­sagt: Sie theo­re­ti­sie­ren prak­ti­sche Fra­gen. Die­ser Feh­ler ist eh­ren­wert, aber nicht ganz auf der Hö­he der Zeit. Wenn man ihn nicht in den Griff kriegt, macht man sich, kann sein, viel un­nö­ti­ge Ge­dan­ken.
    Der­lei liegt als of­fe­nes Buch vor uns: In den Ar­bei­ten von Fre­ge, Witt­gen­stein, Lask auf der ei­nen Sei­te und We­ber, Ha­ber­mas, Mead usw. (La­koff) auf der an­de­ren.

    In­dem ich Sie »miss­ver­ste­he«, ver­su­che ich ein­fach klar und deut­lich zu ar­gu­men­tie­ren. – Das frei­lich ver­steht sich nicht von selbst, au­ßer, sagt Ga­da­mer mit Be­zug auf Goe­the ir­gend­wo: Bei der rei­nen See­le. Kur­zer Hin­weis: Not­wen­di­ges Kenn­zei­chen der rei­nen See­le ist, dass sie von ih­rer Na­tur nichts weiß.

    Wenn Sie ei­ne Lek­tü­re-Emp­feh­lung zur Kennt­nis neh­men woll­ten: Er­kennt­nis, Gott­fried Ga­bri­el, De Gruy­ter 2015, 25 Eu­ro.

  35. Die (po­li­ti­sche) Phi­lo­so­phie hat im­mer das Man­ko, dass sie zu­wei­len durch­aus prä­gnan­te und tref­fen­de Ge­sell­schafts­dia­gno­sen auf­zu­stel­len ver­mag (man den­ke auch an Marx) sich aber im­mer dann in rhe­to­ri­sche Wol­ken­kuckucks­hei­me flüch­tet, wenn es an die prak­ti­schen An­for­de­run­gen geht. Dies über­lässt man den In­ter­pre­ta­to­ren – und ent­spre­chend se­hen die uto­pi­schen Ent­wür­fe des 20. Jahr­hun­derts ja auch aus.

    Selbst Kants Ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv kann zu ei­ner Dik­ta­tur füh­ren. Marx’/Engels’ So­zia­lis­mus fand in Sta­lin, Ca­stro, Hon­ecker, Mao und Pol Pot die un­ter­schied­lich­sten Deu­ter. Ver­gli­chen da­mit sind Ador­nos und Ha­ber­mas’ post­mo­der­ne Theo­rien eher Glas­per­len­spie­le; im Fall von Ha­ber­mas in ei­nem be­deu­tungs­schwan­ger da­her­kom­men­dem Duk­tus ver­fasst. Die Dis­kurs­ethik von Apel/Habermas wird im Eu­ro­päi­schen Rat an­ge­wen­det – die Er­fol­ge sind be­kannt. Pop­per plä­dier­te einst, Theo­rien statt Men­schen ster­ben zu las­sen. Sei­ne Theo­rie (sic!) ei­ner sich stän­dig in­sti­tu­tio­nell ver­bes­sern­den Ge­sell­schaft ist m. W. die ein­zi­ge, die den Ball an die po­li­ti­schen Prak­ti­ker wei­ter­spielt, oh­ne sich in ideo­lo­gi­sche Fall­stricke zu ver­fan­gen.

    Je­der Bür­ger­mei­ster ei­ner meck­len­bur­gi­schen Klein­stadt, der drei Jah­re im Amt ist, dürf­te mehr Ah­nung von Po­li­tik ha­ben als so man­cher Theo­re­ti­ker an sei­nem Ka­the­der. (Die braucht man zwar trotz­dem, er­wei­sen sich aber eben meist als un­taug­li­che Re­gen­ten­schü­ler.)

  36. @ Gre­gor Keu­sch­nig No. 37

    Ha­ber­mas ist sich des fun­da­men­ta­len Un­ter­schieds zwi­schen Theo­rie und Pra­xis durch­aus be­wusst. Des­we­gen un­ter­schei­det er, was er als Wis­sen­schaft­ler (TdKH, Fak­ti­zi­tät und Gel­tung, Nach­me­ta­phy­si­sches Den­ken I u II) usw., und was er als In­tel­lek­tu­el­ler, al­so als en­ga­gier­ter Bür­ger auf ganz ei­ge­ne Ver­ant­wor­tung ver­öf­fent­licht – sei­ne zeit­dia­gno­sti­schen Auf­sät­ze, die oft auch in der Pres­se er­schei­nen und ge­sam­melt in den »Klei­nen po­li­ti­schen Schrif­ten« als »es«-Bändchen vor­lie­gen. Kürz­lich hat er er­klärt, die­se Rei­he sei ab­ge­schlos­sen, er wer­de kei­ne wei­te­ren Bänd­chen mehr fol­gen las­sen.

    Sei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie ba­siert auf kon­tra­fak­ti­schen (=nicht rea­len) Idea­li­sie­run­gen, das spricht er auch see­len­ru­hig aus.
    Der­lei ist kei­nes­wegs eh­ren­rüh­rig oder auch nur un­ge­wöhn­lich, und die Phy­sik z. B. wä­re oh­ne der­lei un­denk­bar – aber das ist na­tür­lich ei­ne Hür­de, die die EU im­mer rei­ssen wird: Die TdKH ist per se n i c h t prak­tisch.
    Es las­sen sich al­len­falls Fol­ge­run­gen dar­aus ab­lei­ten, die dann ei­ne sinn­vol­le prak­ti­sche Kri­tik un­ter­füt­tern kön­nen. Ein­fa­cher ist das – for the bet­ter or worse (kur­pfäl­zisch: so od­da so) – n i c h t zu ha­ben.

    Struk­tu­rel­les Pro­blem al­ler gei­sti­gen Hö­hen­flü­ge ist die Lan­dung, so to speak.
    Struk­tu­rel­les Pro­blem al­ler Prak­ti­ker ist ihr en­ger Ho­ri­zont.

    In gut funk­tio­nie­ren­den Kul­tu­ren gibt es ei­nen pro­duk­ti­ven Aus­tausch zwi­schen die­sen bei­den – klei­ner Scherz: – Ar­che­ty­pen.

    Be­stes mir be­kann­tes Bi­s­piel – Bich­sel und die Schweiz. Ich stel­le Bich­sel was die­sen Aspekt ei­nes Schrift­stel­le­ri­schen Schaf­fen an­geht, noch über Frisch, ins­be­son­de­re we­gen sei­ner über Jahr­zehn­te ver­fass­ten und viel­ge­le­se­nen Zei­tungs­ko­lum­nen. Und ex­plzit we­gen sei­ner so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Sicht auf die Schweiz – die er im­mer im Sin­ne Pop­pers pfleg­te – sei­ne so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche sicht jetz­te. Dem li­be­ral-Grü­nen Hür­li­mann ist auf dem Ge­biet auch vie­les sehr Im­po­nie­ren­des ge­lun­gen.
    Aber die­ses Ge­lin­gen setzt im­mer ei­ne Kul­tur vor­aus. Ihr Hand­ke-Ser­bi­en-Buch ken­ne ich nur aus­schnitts­wei­se, aber ich be­haup­te auf die­ser et­was wack­li­gen Fak­ten­ba­sis, das zählt hier auch.

    Wie­der ein im­po­san­tes Werk, wo der­lei zur An­schau­ung kommt, wie­der, wie im Fal­le Kel­ler (nicht ganz zu­fäl­lig, wie ich zu­ge­be) von ei­nem Schwei­zer: Fried­rich Dür­ren­matt, Das Ver­spre­chen.

  37. @ Die­ter, Sie ha­ben schon recht: »Ich fürch­te in der Tat, dass Sie ei­ne fal­sche Vor­stel­lung ha­ben vom Zu­sam­men­hang von Theo­rie und Pra­xis. Kurz ge­sagt: Sie theo­re­ti­sie­ren prak­ti­sche Fra­gen.«
    Ob die­ser Feh­ler et­was mit der zeit­li­chen Ent­wick­lung der Gei­stes­ge­schich­te zu tun hat, weiß ich nicht. Es ist wohl mei­ne Er­war­tung, die der »Ent­wick­lung« zu­wi­der läuft.
    Mei­ne Er­fah­rung war: wenn man das po­li­ti­sche Feld, so wie es sich in der me­dia­len Be­ob­ach­tung ent­fal­tet, be­ob­ach­tet und die Er­fah­run­gen des En­ga­ge­ments hin­zu nimmt, dann stellt sich rasch Er­nüch­te­rung über die Di­ver­si­tät von Theo­rie und Pra­xis ein. In der Tat bin ich über die­sen Ab­stand ziem­lich ir­ri­tiert.
    Ich ha­be mich da­her (schon wie­der rich­tig!) ent­schlos­sen, prak­ti­sche Pro­ble­me zu theo­re­ti­sie­ren. Ob ich mich da­mit ins Ab­seits ka­ta­pul­tie­re, um ein fröh­li­ches Di­let­tan­ten­tum zu pfle­gen?! Das kann gut sein. Nichts wei­ter wür­de ich für mich in An­spruch neh­men.
    Wir sind uns ei­nig, dass die Theo­rie die Po­li­tik nicht er­set­zen kann und will.
    Und viel­leicht wür­den Sie mir so­gar zu­stim­men, dass Ha­ber­mas die Kur­ve nicht ganz ge­kriegt hat, da sei­ne Mei­nungs­bil­den­den Auf­sät­ze stets so we­nig Auf­schluss über die rich­ti­gen Maß­nah­men ge­ben. Das Han­deln er­reicht er nicht mal stell­ver­tre­tend, er bleibt in der Rhe­to­rik ge­fan­gen. Das ist ein Schei­tern, das mich ab­ge­schreckt hat, muss ich of­fen zu­ge­ben. Ganz oh­ne hoch­nä­si­ge Be­wer­tung.
    Das ist ja bür­ger­li­ches Los: vom Han­deln im­mer ei­nen Schritt ent­fernt zu sein. Und sich in die­sem Ab­stand ein­rich­ten zu müs­sen. Als Theo­re­ti­ker, Be­rufs­phi­lo­so­soph, Kul­tur­schaf­fen­der, what ever.

  38. @ Gre­gor. In der Tat, der Theo­re­ti­ker soll­te wis­sen, wann er den Ball ab­spie­len muss. Das hat Pop­per wohl bes­ser ge­löst.

  39. @Dieter Kief
    Den en­gen Ho­ri­zont der Prak­ti­ker er­wei­tert man aber nur schwer mit po­lit-phi­lo­so­phi­schen Traum­ge­bil­den. Denn der Prak­ti­ker muss sich den Pro­ble­men stel­len, die der Theo­re­ti­ker wohl ge­ord­net und aus­gie­big ana­ly­sie­ren kann. Hel­mut Schmidts Aus­spruch vom Vi­sio­när, der des Arz­tes be­darf, ist ja nicht zu­letzt ein Er­fah­rungs­satz. Ja, in funk­tio­nie­ren­den Ge­sell­schaf­ten müss­te es die­sen Aus­tausch zwi­schen Theo­rie und Pra­xis ge­ben – aber das Ge­gen­teil ist der Fall. Die uni­ver­si­tä­ren Leh­ren sind eher eli­tär. Dass einst ei­ne Frau Süss­muth ih­re aka­de­mi­sche Kar­rie­re für Kohls Ka­bi­nett auf­gab wä­re heu­te noch un­denk­ba­rer als da­mals. Letz­ter, er­bärm­lich ge­schei­ter­ter Ver­such ist je­ner (klu­ge wie für den Be­trieb un­ge­eig­ne­te) »Pro­fes­sor aus Hei­del­berg«, der schon im Wahl­kampf ver­braucht wur­de.

    Ih­re Äu­ße­rung zu Handke/Serbien ha­be ich nicht ver­stan­den. Wie mei­nen Sie das?

  40. Hand­ke /Serbien – liegt für mich auf ei­ner Ebe­ne mit Dürrenmatt/Schweiz. Ei­gen­sinn und öf­fent­li­che Be­lan­ge ver­bin­dend. Ich er­war­te dann vom In­tel­lek­tu­el­len nicht, dass al­le sei­ne The­sen ver­all­ge­mei­ner­bar, oder al­le sei­ne Be­ob­ach­tun­gen ori­gi­nell sind. Aber ich ha­be bei Hand­ke ver­stan­den, dass er ei­ne Be­zie­hung zu Ju­go­sla­wi­en hat­te, ei­ne Sicht drauf, die das Ver­schwin­den die­ser Ge­sell­schaft für ihn mit Ver­lust­ge­füh­len und Wut und Trau­er auf­lud.

    Noch­mal zu den Gei­stes­wis­sen­schaf­ten – das ist drol­lig: Sie ha­ben prak­tisch kein Mit­tel ge­gen schärf­ste, so­gar fun­da­men­ta­le Kri­tik. Letzt­lich funk­tio­nie­ren sie da­her auch nur als kol­lek­ti­ve Ver­an­stal­tung. Und ih­re Wir­kung muß in je­dem Dis­kurs­zu­sam­men­hang so­zu­sa­gen aufs Neue her­ge­stellt oder be­glau­bigt wer­den.
    Be­rüch­tigt sind hier am See Aus­flü­ge ein­zel­ner auf­grund von Ein­la­dun­gen der VHS St. Ge­or­gen osä ins voll­kom­me­ne Nir­wa­na. Das kann sehr schmerz­lich sein.

    Noch zu Hand­ke. Was ich eben­so ganz gut nach­voll­zie­hen konn­te war, dass es ei­ne Ten­denz in der Be­richt­erstat­tung und in den Äu­ße­run­gen der Po­li­tik gab, die Schuld am ge­sam­ten Un­glück un­ge­recht zu ver­tei­len.
    Ken­nen Sie viel­leicht P. J. O’Rour­kes Re­por­ta­ge über den Zer­fall Ju­go­sla­wi­ens? Auf deutsch in Rei­sen in die Höl­le – bei – - der an­de­ren Bi­blio­thek.

    @ die_kalte_Sophie – ja so un­ge­fähr – avan­ti Di­let­tan­ti – das geht im­mer. Aber man schießt als Frei­beu­ter un­wei­ger­lich vie­le Fahr­kar­ten.
    Ich weiß wirk­lich nicht, was so sehr ge­gen das Le­sen spricht – und wes­halb der ei­ge­ne Di­let­tan­tis­mus so­viel bes­ser sein soll­te. Sie ha­ben si­cher schon ge­merkt, wo mei­ne dies­be­züg­li­chen Sym­pa­thien lie­gen. Ich mei­ne, es wird in der Re­gel die Pro­duk­ti­on über- und die klu­ge Re­zep­ti­on un­ter­schätzt. Das war auch ein Fa­zit aus mei­nen Jähr­chen als Li­te­ra­tur­zeit­schif­ten­ma­cher.

    Aber ins­ge­samt – vie­len Dank für Ih­re Zei­len hier! – Ich bin ab mor­gen ein Weil­chen un­ter­wegs.

    Die Auf­re­gun­gen sind enorm, der­zeit.

  41. @ Die­ter. Gu­te Fahrt, und ei­ne letz­te Zu­stim­mung. Die klu­ge Re­zep­ti­on ist hoch zu hal­ten. Beim Le­sen kann man nicht ge­nau ge­nug sein.