Schwarm und Idi­ot

Phi­lo­so­phi­sches und Apho­ri­sti­sches von By­ung-Chul Han und Bo­tho Strauß

In sei­nem Buch »Lich­ter des To­ren – Der Idi­ot und sei­ne Zeit« (LT; 2013) fin­det Bo­tho Strauß ei­ne kon­zi­se For­mu­lie­rung für das Phä­no­men des Schwarms im In­ter­net: »Netz-Schwär­me sind kei­ne kon­su­mi­sti­sche Mas­se, son­dern las­sen in kor­re­lier­ten Pro­zes­sen do­mi­nan­te Leit­sy­ste­me ent­ste­hen, die im Kern die­sel­be Bot­schaft ver­brei­ten – in Mei­nun­gen, Vor­lie­ben, Ver­dam­mun­gen und Di­rek­ti­ven.« (LT 79)

Byung-Chul Han: Im Schwarm - Ansichten eines Digitalen

By­ung-Chul Han: Im Schwarm –
An­sich­ten ei­nes Di­gi­ta­len

Die­se Form ei­ner De­fi­ni­ti­on ist in Strauß’ an­son­sten meist sen­ten­ziö­sem Buch un­ge­wöhn­lich. Es könn­te je­doch als Leit­spruch auch über den un­längst er­schie­ne­nen Es­say »Im Schwarm – An­sich­ten des Di­gi­ta­len« von By­ung-Chul Han ste­hen (IS; 2013). Wo Strauß et­was ne­bu­lös vom »Plu­ri­mi-Fak­tor« schreibt, der »das Ho­he zu­gun­sten des Brei­ten« ab­wer­te (LT 32), spricht Han vom Schwarm. Wie Strauß un­ter­schei­det Han Mas­se von Schwarm und spricht zu­nächst neu­tral von Men­ge. »Die neue Men­ge heißt der di­gi­ta­le Schwarm« (IS 19). Die Un­ter­schie­de zur Mas­se sind im­ma­nent. Der Schwarm hat, so die The­se, kei­ne See­le, kei­nen Geist. See­le sei »ver­sam­melnd«, so Han, der Schwarm be­stehe je­doch aus »ver­ein­zel­ten In­di­vi­du­en«. Ei­ne Mas­se »of­fen­bart Ei­gen­schaf­ten, die auf die Ein­zel­nen nicht zu­rück­zu­füh­ren sind. Die ein­zel­nen ver­schmel­zen zu ei­ner neu­en Ein­heit« (IS 19). Das Gan­ze ist eben mehr als die Sum­me sei­ner Tei­le. Die In­di­vi­du­en des Schwarms »ent­wickeln kein Wir.« Sie blie­ben al­lei­ne: »Elek­tro­ni­sche Me­di­en…ver­sam­meln Men­schen, wäh­rend die di­gi­ta­len Me­di­en sie ver­ein­zeln.« Der Schwarm­teil­neh­mer, der ho­mo di­gi­ta­lis, sei kein Nie­mand, son­dern ein Je­mand, »der sich aus­stellt und um Auf­merk­sam­keit buhlt«. Für Strauß ist der Schwarm so­gar be­droh­lich: »Wenn sich der Geist des Schwarms als Ord­nungs­macht eta­bliert, schlägt die Stun­de der Insur­gen­ten« (LT 41), so heißt es ein we­nig be­droh­lich.

Han bleibt be­schrei­bend. Das »Me­di­um des Gei­stes sei die Stil­le« (IS 32). Die di­gi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­on zer­stö­re die­se Stil­le nicht nur, sie lär­me. »Das Nein« des Schwarms (es ist im­mer ein »Nein«) sei »im­mer laut«, so Han. Re­spekt und Rück­sicht sind je­doch es­sen­ti­ell für ein kon­struk­ti­ves Mit­ein­an­der. »Der Re­spekt bil­det sich durch Zu­schrei­bung per­sonaler und mo­ra­li­scher Wer­te. Der all­ge­mei­ne Wer­te­zer­fall lässt die Kul­tur des Re­spekts ero­die­ren.« Es wird kein Re­spekt mehr ge­zollt (IS 12). Der Shits­torm im Netz sei Aus­bund ei­ner »Kul­tur der Re­spekt­lo­sig­keit und In­dis­kre­ti­on« (IS 10), ei­ne bil­li­ge Em­pö­rung der Un­zu­frie­de­nen. Dem Shits­torm fehlt die ei­ne Stim­me, da­her wird er als Lärm wahrge­nommen. « (IS 20)

Im Ge­gen­satz zum Le­ser­brief frü­he­rer Zei­ten, der ver­gleichs­wei­se auf­wen­dig zu hän­deln war, er­mög­lich­ten die di­gi­ta­len Me­di­en die so­for­ti­ge zeit­na­he Af­fekt­ab­fuhr. Er­gän­zend möch­te man noch ein­fü­gen, dass die Schrei­ber von Le­ser­brie­fen un­ab­hän­gig und un­wissend von­ein­an­der agier­ten. Sie wuss­ten und sa­hen nichts von­ein­an­der. Erst auf der ent­spre­chen­den Sei­te der Zei­tung, Ta­ge oder gar Wo­chen spä­ter, wur­de, von Re­dak­teu­ren ge­sam­melt und se­lek­tiert, der Mei­nungs­strom aus­schnitt­wei­se sicht­bar. Der Shits­torm ist al­so nicht nur be­schleu­ni­gend, son­dern auch (in der Theo­rie) für al­le öf­fent­lich. Han nennt ihn ein biss­chen ver­nied­li­chend »Smart Mob«; das »Smart« wird nicht nä­her er­läu­tert. Die Re­de von der De­mo­kra­ti­sie­rung durch die di­gi­ta­len Me­di­en wird in An­be­tracht des Mob-We­sens am­bi­va­lent. Han be­rührt die­sen Punkt nicht.

Botho Strauß: Lichter des Toren

Bo­tho Strauß: Lich­ter des To­ren

Strauß ist da deut­li­cher. Er ko­ket­tiert mit der Selbst­bezichtigung als »Idi­ot«, dem »Pri­vat­mann« und be­steht aus­drück­lich dar­auf, Idi­ot ge­nannt zu wer­den. Zu­nächst ist der Idi­ot der­je­ni­ge, der den »Mil­lio­nen Klein­teu­feln des zer­nag­ten Al­pha­bets«, den »600 Mil­lio­nen Netz-Au­toren«, die ihr »Un­buch« schrei­ben, (LT 33) sein »Da­ge­gen« ent­ge­gen schmet­tert (LT 188), frei­lich längst »oh­ne Sa­lon und Wir­kung« (LT 28). Strauß’ Apho­ris­men chan­gie­ren im­mer wie­der zwi­schen Hy­bris, Selbst­zwei­fel und Lar­moy­anz. Ein Blick in die Mas­sen­me­di­en zeigt, dass der »Sa­lon« sehr wohl Kennt­nis von Strauß’ Buch nimmt. Der »Idi­ot« ist in Strauß’ Welt ei­ne Art re­aktionärer Hof­narr, ein hoch­ge­bil­de­ter Mah­ner, der je­der so­ge­nann­ten De­mo­kra­ti­sie­rung skep­tisch be­geg­net. Ex­em­pla­risch da­für steht sei­ne Be­fürch­tung, das Wis­sen durch Ver­brei­tung ni­vel­liert wer­de. »Die Vie­len ver­dünnen das Gut« (LT 32) lau­tet die The­se. Wort­ge­wal­tig ruft Strauß ei­ne neue Avant­gar­de aus, al­ler­dings wis­send, auf ver­lo­re­nem Po­sten zu ste­hen. Stän­dig hat er ein Kip­pen des Idio­ten­be­griffs vor Au­gen. Der »Idio­tes« droht durch den »Idio­ten der Be­lan­ge, ei­ner wil­len­lo­sen Pup­pe an den Dräh­ten öf­fent­li­cher Stim­men« ver­drängt zu wer­den (LT 115). Über­spitzt for­mu­liert: Der Idi­ot (Re­ak­tio­när) trifft auf den Idi­ot (des Schwarms; der Trans­pa­renz).

Sou­ve­rän ist…

Nach Carl Schmitt ist der­je­ni­ge macht­po­li­tisch sou­ve­rän, der über den Aus­nah­me­zu­stand ent­schei­det. By­ung Chul-Han pa­ra­phra­siert die­ses Dik­tum (zu­nächst) auf die di­gi­ta­le Welt: Sou­ve­rän sei der­je­ni­ge, »wer ei­ne ab­so­lu­te Stil­le zu er­zeu­gen, je­den Lärm zu be­sei­ti­gen, mit al­lem Schlag al­le zum Schwei­gen zu brin­gen ver­mag.« Poin­tiert be­deu­tet dies: »Sou­ve­rän ist, wer über die Shits­torms des Net­zes ver­fügt« (IS 13). Über­se­hen wird zu­meist da­bei, dass die­se Ver­fü­gung das Vor­han­den­sein von funk­tio­nie­ren­den Hier­ar­chien im­pli­ziert. Da­bei sagt Han sel­ber, dass der Shits­torm in fla­chen Hier­ar­chien ab­lau­fe. Die Hier­ar­chie­lo­sig­keit an­zu­neh­men ist ein Feh­ler der Kri­ti­ker, die sich die Pa­ro­len der Ak­ti­vi­sten zu ei­gen ma­chen. Die je­der­zeit min­de­stens theo­re­ti­sche Mög­lich­keit, die so­for­ti­ge Af­fekt­ab­fuhr durch­zu­füh­ren, be­deu­tet kei­nes­falls, dass das Me­di­um hier­ar­chie­los ist. Die be­haup­te­te Ega­li­tät des Net­zes ist Ver­klä­rung. Tat­säch­lich kri­stal­li­sie­ren sich auch hier Rang­struk­tu­ren her­aus, die sich meist nicht di­rekt zei­gen.

Ober­fläch­lich be­trach­tet ist der Blick auf Twit­ter oder Face­book ähn­lich dem ei­nes natur­wissenschaftlichen Lai­en auf ei­nem Amei­sen­hü­gel. Das Ge­wim­mel, wel­ches man sieht, hält man für ega­li­tär. Da­bei ist das Ge­gen­teil der Fall. Für die Ar­bei­teramei­se bleibt die Hier­ar­chie ver­bor­gen, in der sie sich be­wegt. Auch der Twit­te­rer er­kennt zu­meist nicht Wur­zeln und Hin­ter­grün­de des Schwarms, in dem er sich be­wegt und äu­ssert. Im Unter­schied zur Mas­se, die of­fen ih­re in­ten­tio­na­le Ge­rich­tet­heit be­kennt und Re­prä­sen­tan­ten vor­wei­sen kann, bleibt der Schwarm amorph.

Der ver­meint­li­che Ruhm des Kurz­nach­rich­ten­schrei­bers ist flüch­tig; weit ent­fernt von den Warhol’schen 15 Mi­nu­ten. Twit­te­rer und Dau­men-Hoch-Ak­ti­vi­sten sind Amei­sen, die viel­leicht ein­mal kurz sicht­bar ge­wor­den sind, be­vor sie im Durch­ein­an­der wie­der un­beobachtet ver­schwin­den. Der Un­ter­schied zum Amei­sen­hü­gel ist, dass das Ge­wim­mel der Amei­sen dem di­rek­ten Über­le­ben der Art dient. Der di­gi­ta­le Schwarm pro­du­ziert und dient Mei­nungs­strö­mun­gen. Hin­ter den Mei­nungs­strö­mun­gen sit­zen im­mer Meinungs­führer und Mul­ti­pli­ka­to­ren, die ih­re An­schau­ung all­ge­mein set­zen. Nach Strauß ist das Ur­tei­len »der größ­te Leicht­sinn des Ge­sell­schafts­men­schen. Dau­ernd Ur­tei­le zu fäl­len ist sei­ne ver­werf­lich­ste Ei­gen­schaft« (LT 127–128). Strauß ver­wen­det Ur­teil und Mei­nung syn­onym. Die Mei­nung ist die klein­ste Mün­ze, die in der Re­gel im Schwarm als gül­ti­ges Zah­lungs­mit­tel ge­nügt. Im Schwarm wird ver­sucht mit Mün­zen ein Haus zu be­zah­len.

Wel­che Rol­le nimmt nun die sich im Schwarm zei­gen­de Em­pö­rungs­ge­sell­schaft im Dis­kurs­raum ein? Han kon­sta­tiert ei­ne »sehr ge­rin­ge ge­sell­schaft­li­che oder po­li­ti­sche Re­le­vanz« (IS 15). Es bil­de sich le­dig­lich ei­ne »Skan­dal­ge­sell­schaft« oh­ne Con­ten­an­ce und oh­ne Hal­tung. Die Sor­ge des Wut­bür­gers im Netz sei »weit­ge­hend« die »Sor­ge um sich« (IS 16). Da­ge­gen setzt Han den Zorn, der nar­ra­tiv und episch sei und Hand­lun­gen und so­gar Dich­tung her­vor­brin­ge.

…der­je­ni­ge, der dem Shits­torm stand­hält

Die di­gi­ta­le Em­pö­rung ist al­so »ein af­fek­ti­ver Zu­stand, der kei­ne hand­lungs­mäch­ti­ge Kraft ent­fal­tet«. Die di­gi­ta­len Schwär­me »mar­schie­ren nicht«, sie sind »flüch­tig und in­sta­bil«. Ihr Wir folgt kei­nem stra­te­gi­schen Plan, son­dern nur ver­ein­zel­ten, zum Teil komplexitäts­reduzierten Mei­nun­gen oder Pa­ro­len, die quan­ti­ta­tiv mul­ti­pli­ziert wer­den und so­mit die Au­ra der Be­deu­tung er­zeu­gen sol­len. Die Ge­mein­sam­keit der Schwarm­teil­neh­mer ist im­mer nur die­se kon­kre­te Mei­nung (oder, wie Strauß er­gänzt, Ver­dam­mung, Vor­lie­be, Di­rek­ti­ve), die nicht ge­spie­gelt wird. Die Bin­dun­gen, die für ei­nen Au­gen­blick er­zeugt wer­den, ver­puf­fen im Da­ten­strom, wenn sie nicht in an­de­ren Me­di­en fort­ge­schrie­ben wer­den. So hin­ter­las­sen Shits­torms kaum dau­er­haf­te Spu­ren. In­so­fern kann Hans The­se über die Macht des­je­ni­gen, der über die Shits­torms ver­fügt, er­gänzt wer­den: Sou­ve­rän wä­re dem­nach der­je­ni­ge, der dem Shits­torm stand­hält.

Han kri­ti­siert – und das ist fast schon Kon­sens un­ter In­tel­lek­tu­el­len – die An­ony­mi­sie­rung des Net­zes ve­he­ment. »An­ony­mi­tät und Re­spekt schlie­ßen ein­an­der aus« (IS 9) heisst es apo­dik­tisch. Da­bei un­ter­schei­det er nicht zwi­schen An­ony­mi­sie­rung und Pseudonymi­sierung. Wenn sich die Teil­neh­mer nicht klar­na­ment­lich be­ken­nen möch­ten (wo­für es durch­aus pro­fa­ne Grün­de ge­ben kann, die nicht mit Hecken­schüt­zen­ab­sich­ten ver­bun­den sein müs­sen), ver­wen­den sie ein Pseud­onym. Na­tür­lich gibt es hier Miss­bräu­che, et­wa den Ge­brauch meh­re­rer Pseud­ony­me, mit de­nen künst­lich Re­le­vanz er­zeugt wer­den soll. Aber ei­ne Aus­sa­ge auf­grund der Pseud­ony­mi­sie­rung oder An­ony­mi­sie­rung per se zu dis­kreditieren, wä­re falsch. Ein An­satz­punkt ge­gen die so­ge­nann­te An­ony­mi­tät im Netz wä­re üb­ri­gens die Ver­göt­te­rung der Trans­pa­renz, die häu­fig von den glei­chen Pro­tagonisten ver­foch­ten wird. Die The­ma­ti­sie­rung die­ses Wi­der­spruchs un­ter­bleibt je­doch.

»Das di­gi­ta­le Me­di­um, das die Bot­schaft vom Bo­ten, die Nach­richt vom Sen­der trennt, ver­nich­tet den Na­men« (IS 9), so Han. Tat­säch­lich ist die­ses Ver­ständ­nis der Kop­pe­lung von Bot­schaf­ten in die Per­son ein hier­ar­chi­scher To­pos, kom­mend aus ei­ner Zeit als Ho­no­ra­tio­ren al­lein durch ih­re Stel­lung in der Ge­sell­schaft nicht nur Au­to­ri­tät son­dern auch Wahr­heits­an­sprü­che for­mu­lier­ten. Han re­vi­ta­li­siert und va­ri­iert mit sei­nem ka­te­go­ri­schen Be­stehen auf den Na­men den Ge­nie­kult des 18. Jahr­hun­derts. Im Li­te­ra­tur­be­trieb ist die­se Kopp­lung an den Na­men längst wie­der Usus. Da­bei geht es im­mer we­ni­ger um den Text, die Pro­sa, das Ge­dicht, son­dern um den Au­tor, die Au­torin und dessen/deren Bio­gra­phie. Er wird zum »Au­toren­dar­stel­ler« (Jo­chen Jung); sein Werk fin­det nur noch »bei Ge­le­gen­heit statt« (LT 62), z. B. bei Fe­sti­vals. Der Au­tor wird zum Event-Ma­na­ger sei­ner selbst. Das Ver­schwin­den des Au­tors ist ver­schwun­den; die Kri­tik lechzt nach grif­fi­gen bio­gra­fi­schen De­tails, um sich nicht mehr län­ger mit der sper­ri­gen Äs­the­tik be­schäf­ti­gen zu müs­sen.

Der Schwarm kann für Han nur über das Na­del­öhr der Ver­mitt­lung, der Trans­for­ma­ti­on in ein an­de­res, dau­er­haf­te­res Me­di­um Wir­kung er­zeu­gen. Die­ses Na­del­öhr wird durch die klas­si­schen Tür­hü­ter wie Jour­na­li­sten, Pu­bli­zi­sten, Ver­la­ge, al­so klas­si­sche Mas­sen­me­di­en be­legt. Tat­säch­lich ist dies im­mer noch gän­gi­ge Pra­xis. Da­her su­chen so vie­le sou­ve­rä­ne Netz-Prot­ago­ni­sten so schnell wie mög­lich an die klas­si­schen Me­di­en an­zu­docken und dort zu re­üs­sie­ren.

Nar­ziss­ti­sche In­seln

Im­mer häu­fi­ger klin­gen je­doch aus den ver­meint­li­chen Qua­li­täts­me­di­en sel­ber die Vor­be­hal­te an, et­wa wenn vom »Be­triebs­sy­stem der all­ge­mei­nen Ba­na­li­tät« (Chri­sti­an Schü­le) die Re­de ist, die zu­neh­mend die Pu­bli­zi­stik wie ein Vi­rus zu be­fal­len scheint. Ne­ben­bei: Was­ser auf die Müh­len von Bo­tho Strauß. Die Re­le­vanz­lo­sig­keit des Net­zes für den schein­bar »se­riö­sen« De­bat­ten­raum ist zwar ein Fak­tum, darf aber nicht ge­ne­ra­li­sie­rend mit Qua­li­tät ver­wech­selt wer­den. Sie ist so­wohl mit der Hier­ar­chie im Me­di­en­be­trieb als auch mit dem In­ter­agie­ren der Schwarm­teil­neh­mer un­ter­ein­an­der ver­bun­den. Di­gi­ta­le Ver­net­zung be­steht eben tat­säch­lich zu­meist aus »nar­ziss­ti­schen In­seln von Egos«, so der über­aus schar­fe Be­fund (IS 63) (als gä­be es bei­spiels­wei­se in den aka­de­mi­schen Zir­keln nicht eben­sol­che »In­seln«). Vi­ru­lent für das Netz ist je­doch, dass es kein (oder kaum) Mit­ein­an­der gibt, son­dern nur par­al­le­le, zum Teil glei­che Hand­lun­gen, die über Quan­ti­tät Be­deu­tung ge­rie­ren sol­len. Das Ge­gen­über, die phy­si­sche Prä­senz des An­de­ren ver­schwin­det. Der Ein­bruch des An­de­ren, so Han, sei nicht mög­lich (was ge­wünscht ist). Statt­des­sen ge­be es nur das Glei­che. »Durch das Smart­phone spricht nicht der An­de­re« (IS 35). Das Di­gi­ta­le ist nicht dia­lek­tisch, son­dern so­lip­si­stisch. Im­mer wie­der kann man in so­zia­len Netz­wer­ken fest­stel­len, wie man de­zi­diert Leu­te mit an­de­ren Mei­nun­gen »ent­freun­det« oder »ent­folgt« und sich des­sen noch rühmt. Aber der »Geist er­wacht an­ge­sichts des An­de­ren« (IS 70). Wo die­ser feh­le ver­küm­mert der Geist, wird, so wuss­te schon He­gel, zum »to­ten Sein«.

Die Glei­chen glau­ben, da sie in ih­rem Re­fe­renz­raum auf aus­rei­chen­de Re­so­nanz sto­ßen, dass sie Re­le­vanz be­sit­zen. Das ist je­doch ein Trug­schuss. Sie sind Be­woh­ner ei­ner pla­to­ni­schen Höh­le (die Han tref­fend »Schat­ten­thea­ter« nennt [T 62]). Wenn sie 3000 Freun­de ha­ben, die ih­nen fol­gen, glau­ben sie, ei­ne Macht au­ßer­halb ih­res Netz­rau­mes zu be­sit­zen. Da­bei ha­ben Fuß­ball­spie­le der Drit­ten Li­ga oft mehr Zu­schau­er. »Po­stings« sind fast im­mer nur be­zo­gen auf den ei­ge­nen Re­fe­renz­raum wich­tig. Au­ßer­halb des­sen sind sie zu­meist nur Folk­lo­re, die be­sten­falls von ge­lang­weil­ten Jour­na­li­sten als Vol­kes Mei­nung miss­braucht wer­den. Han bringt das Wort vom »sym­me­tri­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­raum« auf, in dem »Macht­ver­hält­nis­se« schwie­rig zu in­stal­lie­ren sei­en. Wie be­reits er­wähnt, hal­te ich die­se Ein­schät­zung für nicht rich­tig. Mit dem Ge­gen­satz sym­me­trisch vs. asym­me­trisch kommt man der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tur und auch der Ein­ge­schränkt­heit nicht auf die Spur.

Die so­zia­len Netz­wer­ke trans­por­tier­ten, so Han, kein Wis­sen, son­dern In­for­ma­tio­nen. »Das Wis­sen liegt nicht vor«. Ge­prägt wird das Wort vom »In­for­ma­ti­ons­jä­ger«, der Neu­ig­kei­ten le­dig­lich auf­häu­fe (bzw. wei­ter­lei­tet, bspw. »ret­weetet«), statt über sie zu kom­mu­ni­zie­ren. Kom­mu­ni­ka­ti­on ist ei­ne Schi­mä­re. Strauß ist mit sei­ner Kla­ge über die »Rat­ten­pla­ge der Kom­mu­ni­ka­ti­on« (LT 80) un­prä­zi­se. Die Time­line sei »ad­di­tiv und nicht ku­mu­la­tiv« (IS 50), so Han. Und vor al­lem sei sie nicht nar­ra­tiv. In­for­ma­tio­nen zeich­nen sich durch »rei­ne Äu­ßer­lich­keit« aus. »Die un­ge­fil­ter­te In­for­ma­ti­ons­mas­se lässt…die Wahr­neh­mung ganz ab­stump­fen«. » Ei­ne In­for­ma­ti­on oder ein Con­tent, auch mit sehr ge­rin­ger Si­gni­fi­kanz, brei­tet sich wie ei­ne Epi­de­mie oder Pan­de­mie ra­send im Netz aus. Kei­ne Schwe­re des Sinns be­la­stet sie« (IS 75), so Han. Er­gän­zen möch­te man: Der Sinn spielt für und im Rah­men der Ver­brei­tung kei­ne si­gni­fi­kan­te Rol­le mehr, da al­le In­for­ma­tio­nen si­mul­tan flie­ßen. Der Re­zi­pi­ent wird zum Su­cher des Sinns, kann dies aber aus der Quan­ti­tät gar nicht mehr lei­sten. Da­bei ent­steht, so Han, ei­ne Mü­dig­keit, die die ana­ly­ti­schen Fä­hig­kei­ten ver­küm­mern lässt. Wich­ti­ges von Un­wich­ti­gem zu tren­nen wird im­mer schwe­rer. Es droht De­for­ma­ti­on durch Über­mass. Wo nur noch ge­zählt wird ver­küm­me­re das Den­ken, ver­küm­me­re die Er­zäh­lung (IS 79).

An­de­re Aus­sichts­punk­te: Mü­dig­keit, Trans­pa­renz und Eros

Han be­nutzt den Schwarm nur als ei­ne Art Aus­sichts­punkt um die Ver­fasst­heit der Ge­sell­schaft zu dia­gno­sti­zie­ren. So ir­rele­vant das Schwarm­ver­hal­ten im Netz der­zeit auch (noch?) sein mag – es gibt über die ei­gent­li­chen Im­pli­ka­tio­nen in den Netz­wer­ken hin­aus­ge­hen­de Be­deu­tun­gen, die zu gra­vie­ren­den Ver­än­de­run­gen in kul­tu­rel­len und ge­sell­schaft­li­chen In­ter­ak­tio­nen und Ver­hal­tens­wei­sen füh­ren. In den letz­ten Jah­ren hat­te Han schon ei­ni­ge an­de­re Aus­sichts­punk­te für sei­ne Blicke ins Tal in­spi­ziert.

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft

By­ung-Chul Han: Mü­dig­keits­ge­sell­schaft

In sei­nem Buch »Mü­dig­keits­ge­sell­schaft« (M; 2010) be­schäf­tig­te er sich mit ei­ner »neue[n] To­po­lo­gie der Ar­beit« (IS 57), die aus dem ar­bei­ten­den Sub­jekt ein »Leistungs­objekt« (M 5) ma­che, wel­ches »ge­fes­selt wie Pro­me­theus« in ei­ne Be­schleu­ni­gung und Dau­er­prä­senz pres­sen las­se. Aus der »Dis­zi­pli­nar­ge­sell­schaft«, die das In­di­vi­du­um glaub­te zwin­gen zu müs­sen, be­stimm­te Lei­stun­gen zu er­brin­gen, wur­de ei­ne »Lei­stungs­ge­sell­schaft«, in der die Sub­jek­te »Un­ter­neh­mern ih­rer selbst« ge­wor­den sei­en: Im­mer erreich‑, je­der­zeit ab­ruf­bar.

Die­ses Sy­stem der frei­wil­li­gen Selbst­aus­beu­tung (selbst die »Pau­se ist nur ei­ne Pha­se der Ar­beits­zeit« [IS 48]) ist er­folg­rei­cher als die Aus­übung des Zwangs. Strauß da­ge­gen schal­lend: »Raus aus dem Schlund mit al­len ver­bun­den zu sein!« (LT 118) Denn die Fol­gen die­ses »Ter­rors der Im­ma­nenz« (M 17) füh­ren zu psy­chi­schen In­fark­ten wie Burn-Out und De­pres­sio­nen, zur »Schaf­fens- und Kön­nens­mü­dig­keit« im »nichts ist mög­lich« (M 23). Die­ser Mü­dig­keit setzt Han kühn die »be­red­te, se­hen­de, ver­söh­nen­de Mü­dig­keit« aus Pe­ter Hand­kes Es­say »Ver­such über die Mü­dig­keit« ent­ge­gen. (M 58f) Die­se Mü­dig­keit ist »kein Zu­stand, in dem al­le Sin­ne er­mat­ten wür­den. In ihr er­wacht viel­mehr ei­ne be­son­de­re Sicht­bar­keit« (M 59). Han be­kennt sich zu die­ser »immanente[n] Re­li­gi­on der Mü­dig­keit«, die zum »Nicht-Tun« in­spi­rie­re und wen­det sie ge­gen die krank­ma­chen­de »Ak­tiv­ge­sell­schaft« (M 63).

Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft

By­ung-Chul Han: Trans­pa­renz­ge­sell­schaft

In »Trans­pa­renz­ge­sell­schaft« (T; 2012) spe­zi­fi­zier­te Han sei­ne Theo­rie von der »Po­si­tiv­ge­sell­schaft«. Bau­dril­lard wird zi­tiert, der die Po­si­tiv­ge­sell­schaft be­herrscht sieht »von der ‘Trans­pa­renz und Ob­szö­ni­tät der In­for­ma­ti­on in ei­nem Ge­füge, in dem es kei­ne Er­eig­nis­se mehr gibt’« (T 8). Han kon­sta­tiert: »Die Po­si­tiv­ge­sell­schaft ver­ab­schie­det sich so­wohl von der Dia­lek­tik als auch von der Her­me­neu­tik. Die Dia­lek­tik be­ruht auf der Ne­ga­ti­vi­tät.« Sie näh­re »das Le­ben des Gei­stes. Das An­de­re im Sel­ben, das ei­ne Ne­ga­tiv­span­nung er­zeugt, er­hält den Geist le­ben­dig« (T 12). Die For­de­rung nach Trans­pa­renz dient nach Han zum ei­nen stra­te­gisch da­zu, Macht­in­stan­zen dau­er­haft zu im­ple­men­tie­ren. Und zum an­de­ren wer­de die Po­si­ti­vi­tät, d. h. die Aus­blen­dung des An­de­ren, fest­ge­schrie­ben. Trans­pa­renz lei­ste der Ten­denz zur Uni­for­mie­rung der Ge­sell­schaft Vor­schub, er­zeu­ge ei­nen »star­ken Kon­for­mis­mus­zwang« (IS 30) und sei als »to­ta­le Trans­pa­renz« to­ta­li­tär. Die suk­zes­si­ve Aus­schal­tung der Ne­ga­ti­vi­tät füh­re in die »Höl­le des Glei­chen« (T 6). In die­ser Höl­le tref­fen sich – par­ti­ell an­ge­wi­dert – Han und Strauß.

Plä­doy­er für die Ne­ga­ti­vi­tät…

Trans­pa­renz sei ein wich­ti­ger Bau­stein der Po­si­tiv­ge­sell­schaft, die das Ne­ga­ti­ve aus­blen­de. Ne­ga­ti­vi­tät sei je­doch so­wohl für das Ein­zel­we­sen als auch für ei­ne plu­ra­li­stisch funk­tio­nie­ren­de Ge­sell­schaft es­sen­ti­ell. Ein Le­ben oh­ne Ver­bor­gen­heit, oh­ne Di­stanz, oh­ne Schein, oh­ne In­ti­mi­tät sei nicht wünsch­bar. In die glei­che Ker­be schlägt Strauß, wenn er der all­ge­gen­wär­ti­gen Trans­pa­renz- und Be­kennt­nis­kul­tur die Dis­kre­ti­on ent­ge­gen­setzt. »Dis­kre­ti­on wä­re heu­te das zen­tra­le Wi­der­wort zu al­lem, was da läuft, sich äu­ßert und sich outet « (LT 31). Im Welt­bild der voll­kom­me­nen Trans­pa­renz wird je­der per se ver­dächtigt. Am En­de, so Han, ste­he ei­ne Kon­troll­ge­sell­schaft, in der Al­le Al­le über­wa­chen. Schon bei Rous­se­au und des­sen Ver­bot des Thea­ters »lässt sich be­ob­ach­ten, dass die Mo­ral to­ta­ler Trans­pa­renz not­wen­dig in Ty­ran­nei um­schlägt« (T 72). Es ist ei­ne Ty­ran­nei der Aus­mer­zung des An­de­ren, wie sie in den schreck­li­chen Ver­bre­cher­dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts ih­ren Hö­he­punkt hat­te. Han un­ter­lässt ei­nen Hin­weis dar­auf; er emo­tio­na­li­siert nie­mals.

Im Ruf nach Trans­pa­renz er­kennt Han emi­nen­te Aus­wir­kun­gen auf die Po­li­tik. Po­li­ti­ker, so die The­se, hät­ten kei­ne Vi­sio­nen, kei­ne Ideen über die blo­ße Ver­wal­tung des Sta­tus quo hin­aus mehr, sie ge­hen dem Wäh­ler nicht mehr vor­aus (IS 29). Der Ein­wand ist sehr wich­tig, wird von Han aber nur an­ge­ris­sen. Ent­wickelt man ihn wei­ter zeigt sich, wie der Re­prä­sen­tant in der Po­li­tik, der Ab­ge­ord­ne­te, am En­de nur noch als Ab­stim­mungs­ob­jekt fun­gie­ren soll, der mit ei­nem im­pe­ra­ti­ven Man­dat den je­wei­li­gen Wil­len des Wäh­lers aus­zu­füh­ren hat. In den USA gibt es »Wahl­män­ner«, die man bei der Prä­si­den­ten­wahl vor­ge­schal­tet hat. Sie be­sit­zen (bis auf we­ni­ge Aus­nah­men) ein im­pe­ra­ti­ves Man­dat.

In der deut­schen Po­li­tik gibt es streng ge­nom­men kein im­pe­ra­ti­ves Man­dat. Der Ab­ge­ord­ne­te bleibt sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wort­lich. Wie Trans­pa­renz dies ent­kernt, zeigt sich am so ge­nann­ten »ZDF-Par­la­me­ter«. Die 2009 mit dem Grim­me On­line-Preis aus­ge­zeich­ne­te Web­sei­te macht kennt­lich, wie Ab­ge­ord­ne­te im Bun­des­tag zu Gesetz­entwürfen ab­ge­stimmt ha­ben und pro­to­kol­lie­ren auch die An­we­sen­heit. Es gibt in­zwi­schen nur noch we­ni­ge Ab­stim­mun­gen, die ge­heim durch­ge­führt wer­den müs­sen; meist wird »na­ment­li­che Ab­stim­mung« de­kre­tiert. Das Recht, sei­ne Stim­me ge­heim ab­zu­ge­ben, ist je­doch es­sen­ti­ell in ei­ner De­mo­kra­tie. In Par­la­men­ten von Dik­ta­tu­ren exi­stiert es meist nicht; hier wird of­fen ab­ge­stimmt und da­mit ein Druck er­zeugt, um auf das ge­wünsch­te Er­geb­nis zu kom­men. Ein Pu­bli­zie­ren über das Ab­stim­mungs­ver­hal­ten bin­det den de­mo­kra­tisch ge­wähl­ten Ab­ge­ord­ne­ten stär­ker an in­for­mel­le Zwän­ge durch Frak­ti­on und Par­tei und er­schwert die freie Aus­übung sei­nes Man­dats. Die na­ment­li­che, trans­pa­rent ge­mach­te Ab­stim­mung im Deut­schen Bun­des­tag ist ein Droh- und Dis­zi­pli­nar­mit­tel ge­wor­den. Wer sich der Par­tei­rä­son ver­schließt, wird mit ei­nem schlech­te­ren Li­sten­platz bei den näch­sten Wah­len be­droht.

Der Wunsch nach Trans­pa­renz zeigt ge­mäß Han den Ver­lust von Ver­trau­en in ei­ner Ge­sell­schaft an; bei­spiels­wei­se auch zwi­schen Po­li­tik und Bür­ger. Ver­trau­en ist je­doch un­ab­ding­bar für ein Zu­sam­men­le­ben. Man hät­te sich ei­ni­ge Sät­ze über die Grün­de für den in­ner­ge­sell­schaft­lich ste­tig wach­sen­den Ver­trau­ens­ver­lust un­ter­ein­an­der ge­wünscht. Und auch die Merk­wür­dig­keit, dass ge­ra­de die Ver­fech­ter der to­ta­len Trans­pa­renz gleich­zei­tig die An­ony­mi­sie­rung bzw. Pseud­ony­mi­sie­rung des In­ter­net gut­hei­ßen, wird nicht auf­ge­nom­men.

Byung-Chul Han: Agonie des Eros

By­ung-Chul Han:
Ago­nie des Eros

Aus­gie­big be­schäf­tigt sich Han mit der »Ty­ran­nei der Sicht­bar­keit« (T 24) in ei­ner »ausgestellte[n] Ge­sell­schaft«, die es zum »iko­ni­schen Zwang« treibt, »zum Bild zu wer­den«. Da­bei un­ter­schei­det Han das ana­lo­ge vom di­gi­ta­len Bild. Das ana­lo­ge Fo­to ist ver­gäng­lich: die Zeit nagt an ihm. Er nennt das die »Ne­ga­ti­vi­tät der Zeit«. Da­bei ist die­se Ne­ga­ti­vi­tät nicht gleich­be­deu­tend mit ei­ner Ver­fall oder gar dro­hen­der (Seins-)Vergessenheit. In der Ver­gäng­lich­keit sel­ber zeigt sich erst das Ge­we­se­ne als Zeit­er­schei­nung. Die di­gi­ta­le Bil­der­flut in so­zia­len Netz­wer­ken, der Zwang zur Selbst­dar­stel­lung (der am En­de Teil der Selbst­aus­beu­tung sein kann), ist für ihn ein Zei­chen von »Po­si­ti­vi­tät«, die al­les Al­ter­na­ti­ve, An­de­re, Au­ßen­sei­ter­haf­te aus­blen­det. Da­mit wird al­les Un­sicht­ba­re per se ver­däch­tig.

Es ist hoch­in­ter­es­sant, wie Han den Trans­pa­renz- und Bil­der­kult als Ele­ment der ka­pi­ta­li­sti­schen Leistungs­gesellschaft her­aus­ar­bei­tet. Trans­pa­renz­zwang er­zeugt al­so nicht nur ge­sell­schaft­li­che Kon­for­mi­tät und ver­nich­tet In­ti­mi­tät und Pri­vat­heit son­dern wird zum öko­no­mi­schen Im­pe­ra­tiv (T 81) des »Neo­li­be­ra­lis­mus«. Wenn Nei­gun­gen und Wün­sche und am En­de viel­leicht so­gar die fi­nan­zi­el­len Mög­lich­kei­ten al­ler trans­pa­rent sind, kön­nen Un­ter­neh­men nicht nur maß­ge­schnei­der­te Wer­bung plat­zie­ren, son­dern auch Be­stell- und Bedarfs­vorgänge über­wa­chen und neue Be­dürf­nis­se ziel­ge­recht er­zeu­gen.

…und das Eros

In »Ago­nie des Eros« (AG; 2012) führt Han die Kon­se­quen­zen der »Ero­si­on des An­de­ren, je­ner Ni­vel­lie­rung zum Glei­chen (AG 6) in dra­sti­scher Form vor. »Ein­ge­eb­net zum Ob­jekt der Kon­sum­ti­on« sei­en La­bi­li­tät, Burn-Out oder De­pres­si­on die Fol­ge. Die­se sind, so die The­se, nur durch das Eros zu be­sie­gen. Aber die »To­ta­li­sie­rung der Ge­gen­wart« ver­un­mög­li­che das Auf­kom­men des »erotische[n] Begehren[s]«. Der Eros be­din­ge den »Vor­rang des An­de­ren« (AG 34). Wie die Lie­be, die im­mer auch den Tod be­inhal­tet, al­so die Ne­ga­ti­vi­tät. In der Po­si­tiv­ge­sell­schaft sei der Tod nicht prä­sent. Han fin­det in die­sem Zu­sam­men­hang ein schö­nes Wort­spiel: »Das nur Po­si­ti­ve ist leb­los« (AG 37). Die Ab­we­sen­heit des To­des macht das Le­ben leb­los und un­in­ter­es­sant.

In der Rea­li­tät ist das Eros pro­fa­ni­siert und ge­heim­nis­los ge­wor­den (AG 44). Da­ge­gen setzt Han die Phan­ta­sie, das Ver­bor­ge­ne – eben je­ne »Ne­ga­ti­vi­tät« – und fin­det da­für mit der be­rühm­ten Sze­ne aus »Ma­dame Bo­va­ry«, in dem die Ti­tel­fi­gur in ei­ner Kutsch­fahrt hin­ter her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­gen ei­nen Mann lei­den­schaft­lich liebt, ein wun­der­ba­res Bei­spiel. Flau­bert be­schreibt in al­ler Aus­führ­lich­keit Stra­ßen, Plät­ze und Brücken, die wäh­rend der Fahrt pas­siert wer­den. Über das, was sich in der Drosch­ke ab­spielt, schreibt er kein Wort. Das Ver­bor­ge­ne, das Nicht-Ge­zeig­te und Nicht-Ge­sag­te er­regt und er­zeugt die Phan­ta­sie des Le­sers. Ei­ne Phan­ta­sie, die in der per­ma­nen­ten Sicht­bar­keit der Transparenzgesell­schaft gar nicht erst auf­kom­men kann, er­stickt wird (T 29). »Am En­de der ero­ti­schen Irr­fahrt streckt Em­ma ih­re Hand aus dem Kut­schen­fen­ster…« (AG 51). Fast en pas­sant wird von Han auch noch Kunst­kri­tik ge­übt: »Die heu­ti­ge Kri­se der Kunst und auch der Li­te­ra­tur lässt sich auf die Kri­se der Fan­ta­sie, auf das Ver­schwin­den des An­de­ren, d. h. auf die Ago­nie des Eros zu­rück­füh­ren« (AG 54).

Hans Plä­doy­er für das Eros ist wuch­tig und nicht oh­ne Ri­si­ko, weil der Be­griff des Por­no­gra­fi­schen nicht scharf de­fi­niert wird. Er wird näm­lich nicht al­lei­ne mit den gän­gi­gen As­so­zia­tio­nen ver­knüpft. Schon die »Aus­stel­lung der In­ti­mi­tät und Pri­vat­sphä­re«, das »al­lein auf sei­ne Aus­ge­stellt­heit re­du­zier­te, nack­te Ge­sicht« (AG 44), die all­ge­gen­wär­ti­ge Bil­der­flut des Im­mer­glei­chen in so­zia­len Netz­wer­ken – al­les das sei »por­no­gra­fisch« (IS 9) und zwar da­durch, dass es als Wa­re aus­ge­stellt wer­de (AG 44), un­ab­hän­gig da­von, ob die Bil­der bei­spiels­wei­se ex­pli­zit se­xu­el­le Hand­lun­gen zeig­ten. Das Por­no­gra­fi­sche ist, so das Pa­ra­do­xon, im Kern entse­xua­li­siert. Hans Eros-Be­griff ist exi­sten­ti­ell. Er be­zeich­net ei­ne sinn­li­che Le­bens­wei­se. »Oh­ne Eros verkomme….der Lo­gos zur da­ten­ge­trie­be­nen Be­rech­nung« (AG 56). Schär­fer for­mu­liert heißt es dann et­was spä­ter: »Der Lo­gos ist kraft­los oh­ne die Macht des Eros« (AG 66).

Dia­gno­se der Ge­gen­warts­mo­der­ne

Han geht mit sei­nen Aus­füh­run­gen über Schwarm­ver­hal­ten, Trans­pa­renz und Eros weit über den gän­gi­gen, auf das In­ter­net fi­xier­ten Dis­kurs hin­aus. Es wird ei­ne grund­le­gen­de Dia­gno­se der Ge­gen­warts­mo­der­ne vor­ge­nom­men, die jen­seits des Net­zes das ge­sellschaftliche und so­zia­le Le­ben be­ein­flus­sen, es zu do­mi­nie­ren be­gin­nen und da­mit schlei­chend neue Wer­te im­ple­men­tie­ren. Das dürf­te ein Grund da­für sein, dass sei­ne Bü­cher bei den Prot­ago­ni­sten der so­ge­nann­ten Netz­ge­mein­de kaum dis­ku­tiert wer­den: Sie bie­ten kein Er­re­gungs­po­ten­ti­al, weil sie schlicht­weg zu kom­plex sind. Der an­de­re Grund liegt in der di­gi­tal­im­manen­ten Aus­blen­dung der Ne­ga­ti­vi­tät.

Er­fri­schend, wie Han die gän­gi­gen In­ter­pre­ta­ti­ons­la­men­ti un­ter­läuft. Et­wa wenn er schreibt: »Die Zeit­kri­se von heu­te ist nicht die Be­schleu­ni­gung, son­dern die tem­po­ra­le Zer­streu­ung und Dis­so­zia­ti­on. Ei­ne tem­po­ra­le Dys­chro­nie lässt die Zeit rich­tungs­los schwir­ren und zur blo­ßen Ab­fol­ge punk­tu­el­ler, ato­mi­sier­ter Ge­gen­wart zer­fal­len. Da­durch wird die Zeit ad­di­tiv und je­der Nar­ra­ti­vi­tät ent­leert. […] Da die Be­schleu­ni­gung an sich nicht das ei­gent­li­che Pro­blem dar­stellt, so be­steht sei­ne Lö­sung nicht in der Entschleu­nigung. Die Ent­schleu­ni­gung al­lei­ne er­zeugt kei­nen Takt, kei­nen Rhyth­mus… […] Sie ver­hin­dert nicht den Sturz in die Lee­re.« (T 55–56)

Das Ver­hal­ten des ort­lo­sen ho­mo di­gi­ta­lis sickert in die Ge­sell­schaft ein. Es ge­hört zu den schö­nen Mo­men­ten bei der Lek­tü­re der Bü­cher von By­ung-Chul Han, wenn er bei­spiels­wei­se vom »fingernde[n], handlose[n] Mensch[en]« spricht, der statt zu Handeln auf sei­nem Smart­phone oder Ta­blet her­um­fin­gert. Wo die Tä­tig­keit mit der Hand noch Wi­der­stand bö­te, huscht der Fin­ger oh­ne Pro­blem über den Bild­schirm (IS 52f). Aber »Den­ken [ist] ein Hand-Werk«, so Han in sel­te­ner Em­pha­se. Oder in der »Müdigkeits­gesellschaft« ge­mein­sam mit Han­nah Are­ndt, Paul Cé­zan­ne und Mau­rice Mer­leau-­Pon­ty »das Stau­nen über das So-Sein der Din­ge« als Leit­bild her­auf­be­schwört und min­de­stens für ei­nen Au­gen­blick fest­stellt: »Der car­te­sia­nisch-neu­zeit­li­che Zwei­fel löst das Stau­nen ab« (M 30).

By­ung-Chul Han ist ein hell­wa­cher Be­ob­ach­ter, der Phä­no­me­ne be­schreibt und lu­zi­de Schlüs­se in Sät­zen for­mu­liert, die oft ge­nug scharf wie Mes­ser­schnit­te sind. Da­bei ver­mei­det er jeg­li­che Auf­ge­regt­heit oder Skan­da­li­sie­rung. Ne­ben gän­gi­gen Klas­si­kern der Phi­lo­so­phie (Au­gu­sti­nus, Kant, He­gel) die­nen Han vor al­lem Den­ker der Mo­der­ne als Re­fe­ren­zen, bes­ser: Aus­gangs­punk­te, wie bei­spiels­wei­se Wal­ter Ben­ja­min (den er u. a. mit dem Ide­al der »Ga­be des Lau­schens« zi­tiert [M 24]), Mi­chel Fou­cault, Mar­shall McLu­han, Ro­land Bar­thes, Fried­rich Nietz­sche, Alain Ba­diou (des­sen Aus­füh­run­gen über die »ge­heime Ver­bin­dung zwi­schen Eros und Po­li­tik« Han sehr in­struk­tiv ein­bringt [AG 57]), Ge­or­gio Agam­ben, Paul Vi­ri­lio, Ri­chard Sen­nett oder Vilém Flus­ser. Er stimmt ih­nen nicht im­mer zu (et­wa Fluss­ers Vi­si­on der di­rek­ten Dorf­de­mo­kra­tie [IS 88] oder Agam­bens The­sen über die »por­no­gra­fi­sche Nackt­heit« [T 38–39]), trans­for­miert ih­re Aus­füh­run­gen ge­le­gent­lich an die Zeit, oh­ne sie zu de­ran­gie­ren oder zeigt, wo sie heu­te er­gänzt wer­den müss­ten.

Über al­len steht je­doch Mar­tin Heid­eg­ger, um den Han pro­mo­viert hat. Schon in der Spra­che Hans und sei­ner Wort­su­che­kunst zei­gen sich deut­li­che Par­al­le­len. Die ein­zel­nen Bü­cher ha­ben teil­wei­se Schnitt­men­gen; ge­le­gent­li­che Red­un­dan­zen sind dem­zu­fol­ge nicht zu ver­mei­den. Den­noch ist ih­re Lek­tü­re im­mer auf­re­gend. Man hat das Ge­fühl, da schreibt je­mand ei­ne Art »Sein und Zeit« »des Di­gi­ta­len«. Die schma­len Bü­cher täu­schen: Die Tex­te Hans sind der­art kon­zen­triert und viel­schich­tig, dass man fast ge­zwun­gen wird, nach der Lek­tü­re we­ni­ger Sei­ten im­mer wie­der in­ne zu hal­ten. Es ist un­mög­lich, die­se Tex­te oh­ne höch­ste Auf­merk­sam­keit zu le­sen. Wer über die ge­sell­schaft­li­chen und so­zia­len Fol­gen des Di­gi­ta­len mit­re­den will, kommt an By­ung-Chul Han nicht vor­bei – un­ab­hän­gig da­von, ob man al­le sei­ne Be­ob­ach­tun­gen in al­len Nu­an­cen teilt oder nicht.

Bo­tho Strauß’ Apho­ris­men­samm­lung en­det fast ver­söhn­lich mit der »Hei­ter­keit der Ab­sti­nenz« (LT 175). Auf die or­na­men­ta­le Wort­kunst wur­de be­reits an­läss­lich sei­nes Auf­sat­zes »Der Plu­ri­mi-Fak­tor« hin­ge­wie­sen. Die­ser Auf­satz ist ei­ne Patch­work-Ar­beit, der aus dem gan­zen Buch Ver­satz­stücke ent­hält und zu ei­nem neu­en Text zusammen­geklebt wur­de. So, wie er dann im »Spie­gel« ab­ge­druckt war, hin­ter­lässt er den Ein­druck ei­nes ve­ri­ta­blen Netz­ver­äch­ters. Das ist Strauß nicht; wer das be­haup­tet (wie neu­lich ein Netz­ge­mein­de­schrei­ber in der FAZ), hat ent­we­der das Buch nicht ge­le­sen oder kann nicht le­sen. Strauß hat den Er­re­gungs­raum des Di­gi­ta­len längst hin­ter sich ge­las­sen und be­trach­tet ihn nur noch wie ein in­ter­es­sier­ter Laie den be­reits er­wähn­ten Amei­sen­hü­gel. Da­her der all­zu häu­fi­ge, re­si­gna­tiv da­her­kom­men­de Kla­ge­duk­tus, der zu­wei­len dann auch kryp­tisch da­her­kommt. Strauß be­gnügt sich da­mit, sei­ne Spe­zi­es wei­ter­hin als über­le­gen ein­zu­ord­nen. In der ari­sto­kra­ti­schen Hal­tung er­in­nert das an die Ta­ge­bü­cher Ernst Jün­gers, wenn auch die Spra­che bei­der un­ter­schied­lich ist. Mit man­chen sei­ner Ein­wür­fe trifft Strauß die von ihm ver­ach­te­te Ge­sell­schaft ins Mark. Et­wa wenn er, wie schon in sei­nem Es­say »Der Kon­flikt« von 2007 ei­ne ge­wis­se Über­le­gen­heit ei­nes spi­ri­tu­ell-re­li­giö­sen Wer­te­sy­stems ge­gen­über der de­mo­kra­ti­sier­ten, sich am En­de dem Ka­pi­ta­lis­mus und den Na­tur­wis­sen­schaf­ten be­reit­wil­lig hin­ge­ben­den Ge­sell­schaft aus­macht. »Lich­ter des To­ren« ist ein Buch, das man Jah­re spä­ter wie­der zur Hand neh­men, dar­in aufs Neue blät­tern und dann ziem­lich ver­blüfft sein wird.


Bi­blio­gra­phie und Sig­len:

AG By­ung-Chul Han: »Ago­nie des Eros«, 2. Auf­la­ge 2013, Matthes & Seitz Ber­lin

IS By­ung-Chul Han: »Im Schwarm – An­sich­ten des Di­gi­ta­len«, 1. Auf­la­ge 2013, Matthes & Seitz Ber­lin

LT Bo­tho Strauß: »Lich­ter des To­ren – Der Idi­ot und sei­ne Zeit«, Di­ede­richs, 2013

M By­ung-Chul Han: »Mü­dig­keits­ge­sell­schaft«, 8. Auf­la­ge 2013, Matthes & Seitz Ber­lin

T By­ung-Chul Han: »Trans­pa­renz­ge­sell­schaft«, 3. Auf­la­ge 2013, Matthes & Seitz Ber­lin


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16 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Han ringt um die rich­ti­gen Be­grif­fe für ei­ne Zu­stands- und Live-Be­schrei­bung der neo­li­be­ra­len Ge­sell­schaft, das kann ich kon­sta­tie­ren.
    Aber nicht im­mer glück­lich: z.Bsp. ist sein er­wei­ter­ter Be­griff des Por­no­gra­phi­schen bei ge­nau­er Be­trach­tung ein er­wei­ter­ter Be­griff des Ob­szö­nen. Die Her­vor­keh­rung, die zur Schau-Stel­lung des Un­ziem­li­chen. Das Ver­ges­sen, das Leug­nen ab­ge­stuf­ter Le­bens­be­rei­che mit Kon­ven­tio­nen und Ver­bo­ten, et­wa in der Rei­hen­fol­ge Öf­fent­lich­keit, Ar­beit, Nach­bar­schaft, Part­ner­schaft, So­li­tu­di­nis. Face­book und Shit-Ent­gren­zung sind nicht per se por­no­gra­phisch. Der Be­griff ver­liert sei­ne Be­deu­tung, wenn er nicht mehr sinn­voll als At­tri­but ein­ge­setzt wer­den kann.
    MIt dem Macht­be­griff hat Han auch Pro­ble­me: wenn ich al­le Phä­no­me­ne ei­ner Be­ein­flus­sung, ei­ner Mo­de, un­re­flek­tier­ter An­pas­sung und Nach­ah­mung als Er­geb­nis ei­ner Macht­ein­wir­kung auf­fas­se, dann steht es um die ei­gent­lich po­li­ti­sche Di­men­si­on schlecht. Will er das Ei­nen mit dem An­de­ren er­klä­ren?! Ei­ne dif­fu­se Schwarme­xi­stenz und das (er­kenn­bar) sin­ken­de po­li­ti­sche In­ter­es­se?! Ei­ne An­äs­the­sie­rung?

  2. Ja, die Ein­wän­de sind nach­voll­zieh­bar. Zur po­li­ti­schen Macht gibt es tat­säch­lich kei­ne Er­läu­te­run­gen. Die von ihm neo­li­be­ral ge­nann­ten Ge­sell­schafts­ein­flüs­se sind ja nicht vom Him­mel ge­fal­len. Die sehr ge­dehn­te Me­ta­pher des »Por­no­gra­fi­schen« schrei­be ich ei­ner durch­aus rea­len Em­pö­rung zu. Han ist, was die Selbst­aus­beu­tung des In­di­vi­du­ums an­geht, ein­fach emi­nent er­schüt­tert. Viel­leicht kommt ja noch was zum im en­ge­ren Sin­ne »Po­li­ti­schen«.

  3. Pier Pao­lo Pa­so­li­ni be­gann in den sieb­zi­ger Jah­ren von ei­ner »an­thro­po­lo­gi­schen Mu­ta­ti­on« zu spre­chen. Ver­ant­wort­lich für die (in sei­nen Au­gen) dü­ste­ren Aus­sich­ten mach­te er Kon­su­mis­mus und Mas­sen­kul­tur. Mir scheint, daß das, was Pa­so­li­ni vi­sio­när her­auf­däm­mern sah, erst mit der Herr­schaft des Di­gi­ta­len und der all­ge­gen­wär­ti­gen Tech­no­kom­mu­ni­ka­ti­on ganz und gar Wirk­lich­keit wird. Die­se Vor­gän­ge zu be­grei­fen und zu be­schrei­ben, ist nicht ein­fach. By­ung-Chul Han wid­met sich die­ser Auf­ga­be, und ich den­ke wie Keu­sch­nig, daß er das mit ei­ni­gem Er­folg tut.

    Der Sach­ver­halt hat so vie­le Aspek­te und ist teil­wei­se noch so neu, daß man schwer­lich er­war­ten kann, die Dar­stel­lung und In­ter­pre­ta­ti­on und Ki­ri­tik kön­ne im­mer über­zeu­gend und um­sich­tig ge­nug ab­lau­fen. Bei Han se­he ich ei­ne Ten­denz, ge­läu­fi­ge Kon­zep­te der Phi­lo­so­phie­ge­schich­te mit Be­ob­ach­tun­gen an der di­gi­tal-vir­tu­el­len Welt kurz­zu­schlie­ßen. Manch­mal ein biß­chen sehr kurz, die Be­grif­fe wir­ken eher auf­ge­pappt als aus Be­fun­den und Er­fah­run­gen her­aus ent­wickelt. Und bei der Ge­gen­über­stel­lung mit äl­te­ren, von der Di­gi­tal­ge­sell­schaft ver­dräng­ten Po­si­tio­nen (oder Wer­ten), et­wa Mas­se und Schwarm oder Eros und Por­no­gra­phie, kommt mir manch­mal vor, daß er das Äl­te­re idea­li­siert oder re­duk­tiv dar­stellt. Bei­spiels­wei­se ist mir der Be­griff Lie­be, den er der Por­no­gra­phie (im wei­te­ren Sinn ver­stan­den) ent­ge­gen­setzt, zu sehr von Le­vi­n­as’ Kon­zept des An­de­ren her ge­dacht, zu sehr dar­auf be­schränkt. Lie­be könn­te, soll­te man kom­ple­xer se­hen, als Wech­sel­spiel von Di­stanz und Nä­he, von Ab­stand­hal­ten und Ver­ei­ni­gung.

    Ein we­nig be­schleicht mich beim Han-Le­sen der Ver­dacht, sei­ne Art ei­nes ra­schen (nicht-ent­schleu­nig­ten?) Phi­lo­so­phie­rens sei von der di­gi­ta­len Welt, der er die Stirn zu bie­ten ver­sucht, in­fi­ziert. Wenn Keu­sch­nig be­merkt, die Spra­che Bo­tho Strau­ßens un­ter­schei­de sich von der­je­ni­gen Ernst Jün­gers, mit dem er doch viel ge­mein­sam hat, dann scheint mir das auch für Han und Heid­eg­ger zu gel­ten. Mag sein, daß By­ung-Chul Hans Es­says Auf­merk­sam­keit for­dern. Über­wie­gend schreibt er je­doch knap­pe Haupt­sät­ze, die fast an Slo­gans ge­mah­nen (in Slo­gans spricht die Welt von Wer­bung und Tech­no­kom­mu­ni­ka­ti­on). »So ver­stärkt die Por­no­gra­phie die Nar­zis­si­fi­zie­rung des Selbst.« Wumm, wumm. Ge­mein­sam ist Heid­eg­ger und sei­nem Vor­gän­ger den­noch, wie Keu­sch­nig be­merkt, das ta­sten­de, fra­gen­de Su­chen nach dem ge­rech­ten Aus­druck, bei dem sie sich von der Spra­che selbst lei­ten las­sen. Han auch von der Spra­che des In­ter­nets, und er tut recht dar­an.

    Auch an die­ser Stel­le: Es sind so vie­le Aspek­te, sie ver­lan­gen nach ei­ner neu­en Ord­nung (wie Heid­eg­ger in »Sein und Zeit« sei­ner­zeit ei­ne neue Ord­nung ver­such­te). Zum Bei­spiel die Re­duk­ti­on des Wer­tens auf Quan­ti­tä­ten (li­kes, Ein­schalt­quo­ten, FB-Freun­de...). Ist das nicht das Prin­zip der De­mo­kra­tie, wie sie sich in den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten nach dem zwei­ten Welt­krieg aus­ge­prägt hat? Und hängt der heu­te zu kon­sta­tie­ren­de Über­druß nicht auch da­mit zu­sam­men? Und sind die Über­drüs­si­gen nicht sehr oft selbst in die­sem Zwang zum Quan­ti­fi­zie­ren (den der eli­tä­re Bo­tho Strauß na­tur­ge­mäß ver­ab­scheu­en muß), ver­strickt? Ist es nicht an der Zeit, neue Kon­zep­te von De­mo­kra­tie aus­zu­den­ken? Könn­te es et­wa ent­schei­dend sein, De­mo­kra­tie und Bil­dung mit­ein­an­der zu kop­peln? Und wie wä­re der Bil­dungs­be­griff im di­gi­ta­len Zeit­al­ter zu be­stim­men?

  4. @ Leo
    Sehr gu­te Hin­wei­se, vor­al­lem den Stil be­tref­fend. Viel­fach wird der Stil in der Phi­lo­so­phie we­nig be­ach­tet. Da­bei ist der Stil zu­gleich das Ober­fläch­lich­ste und das Tief­ste.
    Ich kann das bei Han nach­voll­zie­hen: die ra­schen »Mu­ta­tio­nen« (Pa­so­li­ni) schrei­en förm­lich nach ra­schen Ein­gren­zun­gen (Hun­de­er­zie­hung). Je län­ger das Be­grei­fen aus­bleibt, de­sto mehr Ver­lu­ste dro­hen. Die Schreib­wei­se wird hek­tisch, man hofft auf die Über­zeu­gungs­kraft von Pa­ro­len.
    Nur den Hin­weis auf den Ver­fall des Wer­tens zum Vor­teil des Zäh­lens, ver­mag ich nicht in der Kür­ze nach­zu­voll­zie­hen. Ge­ra­de die De­mo­kra­tie führt doch die For­ma­li­tät des Zäh­lens ein. Das macht sie schreck­lich ba­nal. Der Ver­druß, der da­her rührt, ist na­tür­lich ein Pro­blem, vor­al­lem für die Be­gab­te­ren. Üb­ri­gens auch für die be­gab­te­ren Po­li­ti­ker, wie mir scheint. –Ja, wir kom­men wie­der in Teufel’s Kü­che, ge­nau da­hin, wo wir in WEIMAR schon wa­ren. Die De­mo­kra­tie kann man aus theo­re­ti­scher Sicht recht­fer­ti­gen, aber kann man sie wirk­lich emp­feh­len?!

  5. @Sophie
    Ja, nur daß po­li­ti­sche Par­tei­en und ein­zel­ne Po­li­ti­ker in der Nach­kriegs­zeit und bis in die acht­zi­ger Jah­re ernst­haft Hand­lungs­kon­zep­te aus­ar­bei­te­ten und ver­tra­ten und ihr Han­deln mehr an in­halt­li­chen – qua­li­ta­ti­ven, wenn man so will – aus­rich­te­ten und nicht aus­schließ­lich an quan­ti­ta­ti­ven, wie es heu­te der Fall ist. De­mo­kra­tie wird ten­den­zi­ell syn­onym mit Po­pu­lis­mus, von rechts bis links, Grü­ne ein­ge­schlos­sen. Liest man im In­ter­net die »Le­ser­kom­men­ta­re« – un­ter An­füh­rungs­zei­chen, weil kaum ei­ner von de­nen als die Reiz­wör­ter liest, um sich so rasch wie mög­lich in ir­gend­ei­ner Form auf­zu­pu­deln – nicht nur der Bou­le­vard­zei­tun­gen, son­dern auch der Qua­li­täts­zei­tun­gen, so kann man schon er­schüt­tert sein, mit wel­cher Schwarm-Ar­ro­ganz die Leu­te auf ih­re Stim­me po­chen, oft auch auf ihr Mehr­heit-Sein, ihr Schwarm-Sein. Das De­mo­kra­tie­ver­ständ­nis die­ser Mehr­heit er­in­nert mich an den Slo­gan »Der Kun­de ist Kö­nig«. Mein Geld, mei­ne Steu­ern – ein Dau­er­bren­ner bei den »Ar­gu­men­ten«. Das Gan­ze flan­kiert von ei­nem völ­li­gen Man­gel an Sorg­falt und Zwei­fels­be­reit­schaft beim Be­haup­ten von an­geb­li­chen Tat­sa­chen und dem Ver­brei­ten von »Theo­rien« (be­vor­zugt Ver­schwö­rungs­theo­rien). Keu­sch­nig deu­tet an, im ex­hi­bi­tio­ni­sti­schen Po­sting-Ver­hal­ten wür­de sich nicht das spie­geln, was in den Köp­fen der Leu­te vor sich geht. Ich fürch­te, daß er sich in die­sem Punkt täuscht. Ein Grund, war­um man über den In­ter­net-Ex­hi­bi­tio­nis­mus (der auf Ver­schleie­rung fußt, auf Ano- und Pseud­ony­mi­sie­rung), ist, daß man heu­te bes­ser denn je Aus­künf­te über die Ver­faßt­heit der Volks­see­le be­kommt, vor al­lem über de­ren Ab­grün­de, eben we­gen der An­ony­mi­tät, die wie­der­um ge­paart ist mit In­di­vi­dua­lis­mus.
    Man kann na­tür­lich dar­auf ver­zich­ten, sich über die Ge­sell­schaft ins­ge­samt Ge­dan­ken zu ma­chen. Wenn man sich aber Ge­dan­ken macht, dann den­ke ich doch, daß De­mo­kra­tie nicht auf den Müll­ei­mer der Ge­schich­te zu wer­fen ist, so­lan­ge nichts Bes­se­res her­auf­däm­mert. Eher scheint mir ei­ne Neu­be­grün­dung von De­mo­kra­tie not­wen­dig. Als treu­er Nietz­sche-Le­ser hat sich mir im Lauf der Jah­re der Ge­dan­ke ein­ge­ni­stet, man kön­ne doch Eli­ten­bil­dung und De­mo­kra­ti­sie­rung zu­sam­men­brin­gen. Ei­ne Be­völ­ke­rung, die aus­schließ­lich aus ge­bil­de­ten Eli­ten be­steht, das wä­re doch was, da wür­de kein Po­pu­lis­mus mehr gras­sie­ren. Nietz­sche hat bei­des im­mer aus­ein­an­der­di­vi­diert, als han­del­te es sich da um ei­nen na­tur­haf­ten Ge­gen­satz, und Bo­tho Strauß tut das, so­weit ich se­he, auch.

  6. Aber ist nicht De­mo­kra­tie min­de­stens in der Mo­der­ne im­mer die Wil­lens­bil­dung der Mehr­heit? Ist »Po­pu­lis­mus« nicht im­pli­zit in ei­ner po­li­ti­schen Ge­sell­schaft, in der um Mehr­hei­ten qua Ab­stim­mung ge­wor­ben wird? Ich se­he na­tür­lich auch, dass die woh­li­ge Auf­ge­ho­ben­heit beim »Mehr­heit-Sein« durch das Netz noch ver­stärkt, viel­leicht po­ten­ziert wird. Aber eben auch – hier hat ja Hans Dia­gno­se auch ei­ne Spur Hoff­nung – nur für sehr kur­ze Zeit. Die Af­fek­te ver­puf­fen schnell. Deut­lich zeigt sich dies am Ab­schnei­den der deut­schen Pi­ra­ten­par­tei, die 2012 in ei­ni­gen Bun­des­län­dern in die Par­la­men­te kam (fast bis 9%) und nun glaub­te, sie wä­ren we­gen ih­rer (nur ru­di­men­tär vor­han­de­nen) Pro­gram­ma­tik ge­wählt wor­den. Tat­säch­lich wa­ren es aber zu­meist Af­fekt- bzw. Pro­test­stim­men. Die Do­mi­nanz der Prot­ago­ni­sten und Pro­ble­me der Pi­ra­ten im Netz zeig­te kei­ne si­gni­fi­kan­ten Aus­wir­kun­gen auf das Er­geb­nis bei der Bun­des­tags­wahl. 2009, als es den Hype nicht gab, be­kam man 847.870 Zweit­stim­men (2,0%) – 2013 mit der »Un­ter­stüt­zung« in den Län­dern 959.177 (2,2%). Das ist nicht we­nig, aber im Ver­hält­nis zu der Prä­senz im Netz er­nüch­ternd.

    Die Nörg­ler, Pöb­ler, Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker und Maul­hel­den gab es im­mer. Sie tum­mel­ten sich bis­her nur meist im Ver­bor­ge­nen, an den (oft zu Un­recht stig­ma­ti­sier­ten) »Stamm­ti­schen«. Sie trau­ten sich auch nicht so recht, weil sie nicht wuss­ten, wie weit ihr Kos­mos reicht. Das än­dert sich nun; man kann sich ver­net­zen. Je­de noch so klei­ne Par­ti­ku­larm­ei­nung fin­det ei­ne »Mas­se« [viel­leicht mit Aus­nah­me die­ses Web­logs hier]. Man kann da­bei ganz gut »un­ter sich« blei­ben; Han be­schreibt das ja aus­führ­lich (wo­bei die Ten­denz, nur das Ge­neh­me wahr­zu­neh­men, nicht dem Netz ge­schul­det ist).

    Die The­se vom Se­gen der Mehr­heits­ge­sell­schaft geht ja da­von aus, dass durch die gro­ße An­zahl der Be­tei­lig­ten Ex­tre­me nicht zum Zu­ge kom­men bzw. aus­ge­gli­chen wer­den. Da­her kann man je­de Stim­me gleich ge­wich­ten – den Pro­fes­sor wie den Hilfs­schü­ler, den eh­ren­amt­lich En­ga­gier­ten wie den Neo­na­zi. Im Grun­de läuft es dar­auf hin­aus, dass sich die »Ver­nunft« durch­setzt, d. h. die Mehr­heit zu ver­nünf­ti­gen Er­geb­nis­sen kommt. Als Si­cher­heits­me­cha­nis­men ha­ben fast al­le de­mo­kra­ti­schen Staa­ten noch zwei­te Kam­mern oder an­de­re In­sti­tu­tio­nen nach- bzw. vor­ge­schal­tet.

    Über­se­hen wird da­bei meist, dass die Mehr­heit an sich kei­ner­lei qua­li­ta­ti­ve Aus­sa­ge in sich trägt. Wenn ich ei­ner QUiz­sen­dung 200 Leu­te über die Ant­wort ei­ner Fra­ge ab­stim­men und sich ei­ne Mehr­heit von bei­spiels­wei­se 45% für ei­ne Ant­wort ent­schei­det, ist die­se da­mit noch nicht au­to­ma­tisch rich­tig. Und was, wenn 51% al­ler Leu­te plötz­lich da­für wä­ren, Bril­len­trä­ger um­zu­brin­gen? Nor­bert Lam­mert, der Bun­des­tags­prä­si­dent hat bei der er­sten kon­sti­tu­ie­ren­den Sit­zung des neu­en deut­schen Bun­des­ta­ges in An­be­tracht der Mög­lich­keit, dass ei­ne Gro­ße Ko­ali­ti­on rd. 80% der Sit­ze im Par­la­ment ha­be, ei­nen klu­gen Satz ge­sagt:

    Die Kul­tur ei­ner par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie kommt we­ni­ger dar­in zum Aus­druck, dass am En­de Mehr­hei­ten ent­schei­den, son­dern dass Min­der­hei­ten ei­ge­ne Rechts­an­sprü­che ha­ben, die we­der der Bil­li­gung noch der Ge­neh­mi­gung durch die je­wei­li­ge Mehr­heit un­ter­lie­gen.

    Die­ser Satz ist sehr schön for­mu­liert und bringt es auf den Punkt. Aber wer be­stimmt nun, wel­che Min­der­hei­ten­rech­te von wel­chen Min­der­hei­ten der­art sa­kro­sankt sind?

    Noch zwei an­de­re Be­mer­kun­gen. Sie schrei­ben:

    ...daß po­li­ti­sche Par­tei­en und ein­zel­ne Po­li­ti­ker in der Nach­kriegs­zeit und bis in die acht­zi­ger Jah­re ernst­haft Hand­lungs­kon­zep­te aus­ar­bei­te­ten und ver­tra­ten...

    Das mag sein. Aber es ist ein irr­tum zu glau­ben, dass die­se Hand­lungs­kon­zep­te nicht auch »po­pu­lä­ren« Strö­mun­gen ge­schul­det wa­ren. So hat man in Deutsch­land jahr­zehn­te­lang So­zi­al­lei­stun­gen im­mer wei­ter aus­ge­baut – und da­für Schul­den ge­macht. Das Volk wur­de da­mit be­ru­higt; der Le­bens­stan­dard war für die Zu­kunft ge­si­chert. Jetzt stellt sich her­aus, dass die Pa­ra­me­ter sich ver­scho­ben ha­ben. Aber den geist be­kommt man nicht mal mehr zur Nacht in die Fla­sche – man se­he sich Frank­reich an, wo je­de noch so klei­ner Ver­än­de­rung mit wuch­ti­gen und schwe­ren Streiks be­la­stet wird. (Mir geht es da­bei nicht um die Po­li­tik an sich, son­dern nur dar­um zu zei­gen, dass die Ge­sell­schafts­ent­wür­fe der frü­he­ren Zei­ten auch ent­spre­chen­den Er­war­tun­gen in der Be­völ­ke­rung nach­ge­bil­det wa­ren.)

    Dann noch zur Eli­te: Hier ver­lässt mich mei­ne Hoff­nung voll­kom­men. Dass ge­bil­de­te Eli­ten vor po­li­ti­schen Ver­füh­run­gen, al­so das was Sie un­ter »Po­pu­lis­mus« sub­su­mie­ren, ge­feit sind, hal­te ich für nicht zwin­gend. Ich will jetzt nicht mit dem Eli­te­ver­sa­gen in Deutsch­land in der Wei­ma­rer Re­pu­blik an­fan­gen...

  7. @leo und (in­di­rekt) @georg
    Ich fand im Ge­gen­teil gleich den er­sten Hin­weis von Leo sehr über­zeu­gend, die Ab­wei­chung der Po­li­ti­ker (Ver­la­ge­rung des Po­li­ti­schen?!) von den Hand­lungs­kon­zep­ten zur Lo­gi­stik. Ich glau­be, Ge­orgs Ein­wand greift zu kurz. Das Po­li­ti­ker nur noch Sy­ste­me ju­stie­ren müs­sen, sug­ge­riert doch der Nor­mal-Be­völ­ke­rung, dass sie sich »un­be­schränkt und frei« in­ner­halb der Sy­ste­me be­we­gen kön­nen, ei­nen En­do-Li­be­ra­lis­mus. Die­se Sug­ge­sti­on ent­spricht kei­nes­wegs den le­bens­welt­li­chen Be­din­gun­gen, passt aber be­stens mit den kon­su­mi­sti­schen und me­dia­len Axio­men im Spät-Ka­pi­ta­lis­mus zu­sam­men. Für mich ist das so­gar ei­ne Ver­la­ge­rung des Ethi­schen, Po­li­tik ein­ge­schlos­sen.
    Ich bin eben­falls Nietz­schea­ner, des­halb ge­traue ich mich, dei­ne (Leo) Hin­wei­se auf Eli­te und Bil­dung un­ter Wah­rung der Ega­li­tät zu ent­schär­fen. Es scheint mir im­mer deut­li­cher zu wer­den, dass die Eli­te in ei­nen Min­der­hei­ten­sta­tus ge­ra­ten ist, der nicht ein­mal de­mo­kra­tisch re­prä­sen­tiert wer­den kann. Das macht mir schwer zu schaf­fen, of­fen ge­stan­den, denn ich glau­be, dass au­ßer­halb der de­mo­kra­ti­schen Be­tei­li­gung al­le iden­ti­fi­ka­to­ri­schen Grup­pen­funk­tio­nen weit­ge­hend zum Er­lie­gen ge­kom­men sind. Selbst Ha­ber­mas (kaum Nietz­schea­ner) spricht von ei­nem Eli­ten-Ver­sa­gen an­ge­sichts der La­ge Eu­ro­pas, OHNE SICH SELBST da­zu zu rech­nen... Da hat ein schi­zo­ider Kreis­lauf ein­ge­setzt, den ich ger­ne un­ter­bre­chen wür­de.

  8. Je öf­ter ich so­ge­nann­te Ko­ali­ti­ons­ver­hand­lun­gen mit­ver­folgt ha­be, de­sto mehr sind mir Zwei­fel an der Fest­stell­bar­keit ei­nes »Wäh­ler­wil­lens« ge­kom­men. Läßt sich die­ser arith­me­tisch aus­drücken? Ent­spre­chen Re­gie­run­gen, die dar­aus re­sul­tie­ren, tat­säch­lich ei­nem Wil­len?

    Ich stam­me aus Öster­reich, dort wählt seit mehr als zwei Jahr­zehn­ten kon­stant ein Fünf­tel bis zu ei­nem Vier­tel (der­zeit) rechts­extrem. Ich bin zwar auch nicht der Mei­nung, daß Bil­dung vor Ge­walt­be­reit­schaft und In­to­le­ranz schützt, aber man muß nicht al­les durch die Bril­le der hi­sto­ri­schen Er­fah­rung (Na­tio­nal­so­zia­lis­mus) se­hen. Seit Jahr­zehn­ten wird nun in Öster­reich und in an­de­ren eu­ro­päi­schen Ge­gen­den, Frank­reich z.B., ge­nau dort rechts­extrem ge­wählt, wo die Bil­dung ge­ring ist. Ich las­se mir das ge­le­gent­lich durch in den Me­di­en pu­bli­zier­te Um­fra­gen und Sta­ti­sti­ken sa­gen, vor al­lem aber durch per­sön­li­che Er­fah­run­gen von Ver­wand­ten und Be­kann­ten, in di­ver­sen Schu­len z.B.

    Das In­ter­net stellt Un­men­gen von In­for­ma­ti­on zur Ver­fü­gung, aber in die­ser Über­fül­le wird die Ori­en­tie­rung schwie­rig, we­nig Ge­bil­de­te neh­men mehr denn je zu ver­ein­fa­chen­den Dar­stel­lun­gen Zu­flucht. Sämt­li­che In­for­ma­tio­nen sind je­der­zeit im Nu ab­ruf­bar. Ich be­stau­ne manch­mal das ra­sen­de Her­um­klicken von Halb­wüch­si­gen, die tat­säch­lich fün­dig wer­den. Fün­dig wer­den, um so­fort wie­der zu ver­ges­sen. Das In­ter­net – ein me­cha­ni­sches, nicht le­ben­di­ges Ge­dächt­nis, des­sen ein­zel­ne Re­prä­sen­ta­tio­nen sich nie­mals än­dern – recht­fer­tigt, daß der »User« sich sei­nes ei­ge­nen, le­ben­di­gen, sich zwangs­läu­fig ver­än­dern­den Ge­dächt­nis­ses nicht mehr be­dient, die­ses ver­küm­mert. Dar­in be­steht ei­ne der an­thro­po­lo­gi­schen Mu­ta­tio­nen im In­ter­net- und Te­le­kom­mu­ni­ka­ti­ons­zeit­al­ter. In den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren auf­ge­wach­sen, muß­te ich mir al­les Wis­sen, je­de Vor­lie­be, je­de klein­ste Ah­nung, je­de Er­kennt­nis er­ar­bei­ten und manch­mal er­kämp­fen. Ge­nau des­halb ha­ben al­le die­se Er­fah­run­gen tie­fe Spu­ren in mir hin­ter­las­sen. Bei heu­te zwan­zig­jäh­ri­gen Stu­den­ten be­ob­ach­te ich, daß sie, wenn ir­gend­ei­ne Form von Wis­sen, ir­gend­ei­ne »In­fo« ge­fragt ist, auf ei­ne di­gi­ta­le Ma­schi­ne klicken, ganz au­to­ma­tisch. Sie mer­ken sich nichts, kön­nen aus sich selbst gar nichts her­vor­ho­len. Vie­le er­in­nern sich auch nicht an ih­re ei­ge­ne Le­bens­ge­schich­te, was sie zum Bei­spiel im Vor­jahr zu ei­nem be­stimm­ten Zeit­punkt ge­tan ha­ben. Ge­dächt­nis­schwund, nicht po­li­tisch oder so­zi­al be­dingt, son­dern durch die be­kann­ten tech­ni­schen Ent­wick­lun­gen.

    Ich könn­te mir ei­ne Si­tua­ti­on vor­stel­len, wo man für die Teil­nah­me an de­mo­kra­ti­schen Pro­zes­sen ei­ne Art Rei­fe­zeug­nis er­wer­ben muß. Wer das nicht schafft, darf eben nicht mit­ma­chen. Zu­rück zu den grie­chi­schen An­fän­gen, aber nicht durch so­zia­le oder ge­schlecht­li­che Dis­kri­mi­nie­rung, son­dern durch bil­dungs­mä­ßi­ge. – Ei­ne va­ge Idee, nur an­ge­dacht, im Be­wußt­sein, daß sie ver­stö­rend wir­ken kann... Z. B. stellt sich so­fort die Fra­ge: Wer ent­schei­det über die Kri­tie­ri­en für das Rei­fe­zeug­nis? Eli­tä­re Ant­wort: Die jetzt schon Ge­bil­de­ten, das heißt To­le­ran­ten, Nach­fra­gen­den, Zwei­feln­den, Su­chen­den, Ge­schichts­be­wuß­ten...

  9. Die Plu­to­kra­tie durch eli­tä­re Zu­gangs­schwel­len ver­hin­dern...
    Ge­nau die­sel­be Idee hat­te mein La­tein-Leh­rer vor ca. 25 Jah­ren. Ich kann mich noch er­in­nern, was ich da­mals (17) ge­sagt ha­be: Die Dumm­heit ver­teilt sich doch auf al­le Sei­ten gleich­mä­ßig. Da hat früh der Ma­the­ma­ti­ker aus mir ge­spro­chen.
    Dass das In­ter­net die Rech­ten und Rechts­extre­men nicht hin­dert, kann ich be­stä­ti­gen. Der Front Na­tio­nal in Frank­reich wird 2014 wohl stärk­ste Kraft, ver­mu­tet heu­te Non­nen­ma­cher in der FAZ. Trotz­dem hal­te ich die Rech­ten nicht per se für düm­mer als die Li­be­ra­len oder die Lin­ken bzw. Öko-Li­ber­tä­ren. Ver­gleichs­wei­se sind sie durch­set­zungs­fä­hi­ger, die Lin­ken da­für kom­mu­ni­ka­ti­ver. Lei­der führt die­ser kom­mu­ni­ka­ti­ve Aspekt nicht zu ei­ner in­tel­lek­tu­el­len Über­le­gen­heit, wie man ger­ne sug­ge­riert. Er­geb­nis ist eher ei­ne Kunst der Selbst­dar­stel­lung.
    Aber das ist al­les schon be­kannt. Vor den Mu­ta­tio­nen wie der »Aus­la­ge­rung des Ge­dächt­nis­ses« ha­be ich eben­falls gro­ße Angst. Die­se kor­re­liert di­rekt mit der An­sicht, dass al­le non-pri­va­ten Ent­schei­dun­gen nur von Ex­per­ten, den mut­maß­li­chen Quel­len der In­for­ma­tio­nen, ge­trof­fen wer­den kön­nen. Die Rol­le des BÜR­GERs (eher Be­griffs­per­son als Iden­ti­täts­an­teil) wird ob­so­let. Da­mit kann ein po­li­ti­sches In­ter­es­se ten­den­zi­ell so­gar als ir­ra­tio­nal bzw. prä­po­tent er­schei­nen.
    Bei den po­li­ti­schen Be­we­gun­gen se­hen wir ei­ne an­de­re Ent­wick­lung: im­mer un­be­darf­te­re Per­so­nen kon­kur­rie­ren um die Macht. Fast das Ge­gen­teil, möch­te man aus­ru­fen. Aber letzt­lich geht die Ent­wick­lung mit der »Er­war­tung an die Ex­per­ten« kon­form. Ge­wählt wer­den Kre­ti und Ple­ti, –ent­schei­den wird der­je­ni­ge, der et­was von der Sa­che ver­steht. Ei­ne Mi­schung aus Gott­ver­trau­en und De­fä­tis­mus, wie mir scheint.

  10. Das Auf­kom­men rechts- bzw. links­ra­di­ka­ler Par­tei­en, die un­ver­hoh­len die De­mo­kra­tie nut­zen, um ih­re Zwecke durch­zu­set­zen, geht fast im­mer mit den Ver­feh­lun­gen der so­ge­nann­ten de­mo­kra­ti­schen Kräf­te ein­her. Die gan­ze Flut von an­ti-eu­ro­päi­schen Par­tei­en in Eu­ro­pa hat da­mit zu tun, dass die Eu­ro­päi­sche Uni­on im Gro­ßen und Gan­zen ein Eli­te­pro­jekt dar­stellt, wel­ches als »gut« und »al­ter­na­tiv­los« de­kre­tiert wird. Die Leu­te be­mer­ken nun, wie die Ver­ein­heit­li­chung, die zum Teil skur­ri­le Aus­wüch­se an­nimmt, auch Nach­tei­le mit sich bringt. Statt dis­kur­siv auf­zu­klä­ren, wird wei­ter pa­ter­na­li­stisch Po­li­tik ge­macht.

    Ich könn­te mir vor­stel­len, dass Ha­ber­mas die­se Ent­wick­lung als Ver­sa­gen aus­macht. Er hat ja im­mer be­tont, dass die EU – un­ge­ach­tet viel­leicht be­rech­tig­ter Vor­be­hal­te – ei­ne eu­ro­pa­wei­te Le­gi­ti­ma­ti­on braucht. Aus Angst vor dem Er­geb­nis ist dies bis auf we­ni­ge Aus­nah­men im­mer un­ter­blie­ben. Es ist ja auch ein­fa­cher, von oben her­ab et­was zu be­stim­men, als »um­ständ­lich« die Leu­te zu über­zeu­gen. Sein spe­zi­fi­sches »Ver­sa­gen« könn­te dar­in be­stehen, na­he­zu un­ver­ständ­li­che Auf­sät­ze über die EU und de­ren Not­wen­dig­keit ge­schrie­ben zu ha­ben.

    FN, FPÖ oder wie sie auch hei­ßen sau­gen Nek­tar aus die­sen ver­ge­be­nen Chan­cen. Ihr »Po­pu­lis­mus« spie­gelt nur das Ver­sa­gen der An­de­ren. Le Pen ge­winnt ih­re Stim­men auch da­durch, dass sie sich au­ßer­halb des po­li­ti­schen Sy­stems der gro­ßen Parteien/Parteiströmungen in Frank­reichs po­si­tio­niert. Das kau­fen ihr die Leu­te so­lan­ge ab, bis sie nicht für ih­re The­sen in po­li­ti­scher Ver­ant­wor­tung ein­zu­ste­hen hat.

  11. Schön, dan­ke. Ein paar An­mer­kun­gen und Fra­gen, oh­ne die bis­he­ri­ge Dis­kus­si­on ge­le­sen zu ha­ben.

    Steht Han und Strauß zu­fol­ge hin­ter »Phä­no­me­nen« (Pro­jek­ten) wie der Wi­ki­pe­dia, die hier nur stell­ver­tre­tend und pro­mi­nent ge­nannt sein soll, auch der Schwarm? Und wie passt das zu Ver­dik­ten wie den »Leit­sy­te­men« ... »die im Kern die­sel­be Bot­schaft ver­brei­ten — in Mei­nun­gen, Vor­lie­ben, Ver­dam­mun­gen und Di­rek­ti­ven«. Stän­de der Schwarm auch hin­ter die­sen Din­gen, wo­für doch ei­ni­ges spricht, dann wä­re dies nicht län­ger halt­bar: »Die di­gi­ta­len Schwär­me »mar­schie­ren nicht«, sie sind »flüch­tig und in­sta­bil«. Ihr Wir folgt kei­nem stra­te­gi­schen Plan, son­dern nur ver­ein­zel­ten, zum Teil komplexitäts­reduzierten Mei­nun­gen oder Pa­ro­len, die quan­ti­ta­tiv mul­ti­pli­ziert wer­den und so­mit die Au­ra der Be­deu­tung er­zeu­gen sol­len.«

    »Elek­tro­ni­sche Medien…versammeln Men­schen, wäh­rend die di­gi­ta­len Me­di­en sie ver­ein­zeln.« Viel­leicht bin ich der ein­zi­ge, der die­sen Satz nicht ver­steht: Was kann da­mit ge­meint sein? Di­gi­ta­le Me­di­en sind nicht elek­tro­nisch? Seit wann denn? Ist wo­mög­lich »ana­log« ge­meint?

    Dass der Ein­bruch des An­de­ren im Netz nicht mög­lich wä­re, dass es kaum ein Mit­ein­an­der gä­be, son­dern nur das Glei­che ... dar­über kann ich nur den Kopf schüt­teln.

    Ist mit der Ne­ga­ti­vi­tät bei Han ei­ne Emp­fin­dung ge­meint, die mit dem An­de­ren zu­sam­men­hängt, von ihm aus­ge­löst wird?

    Trans­pa­renz ist ei­ne am­bi­va­len­te An­ge­le­gen­heit; ge­nau­so­gut kann man ins Feld füh­ren, dass sie ein Mit­tel ge­gen au­to­ri­tä­re Zü­ge des Staa­tes ist (man den­ke an das in Öster­reich noch im­mer exi­stie­ren­de »Amts­ge­heim­nis«).

    Zu­letzt ist das Netz, der di­gi­ta­le Raum, eben nicht nur, son­dern durch­aus: mehr als der Schwarm.

  12. Pro­jek­te wie Wi­ki­pe­dia kom­men bei bei­den nicht vor. Sie äu­ßern sich da­zu nicht. Tat­säch­lich blie­be ja die Fra­ge, ob es sich z. B. bei der Wi­ki­pe­dia um ein Schwarm-Phä­no­men han­delt, so in­sti­tu­tio­na­li­siert es in der Zwi­schen­zeit längst ge­wor­den ist. Bei Strauß ist durch­aus ei­ne ge­wis­se Ab­nei­gung aus der Ver­wis­sen­schaft­li­chung der Welt fest­zu­stel­len.

    Mit »di­gi­ta­len Schwär­men« sind haupt­säch­lich die Strö­me in den so­zia­len Netz­wer­ken ge­meint (Twit­ter, Face­book, u. a.). Hans Be­ob­ach­tun­gen sind hier m. E. zu­tref­fend. Die Ne­gie­rung ei­nes »Wir« be­ruht auf der Dif­fe­renz zwi­schen Mas­se und Schwarm. Sa­lopp for­mu­liert könn­te man sa­gen, dass der Schwarm bei Twit­ter, der ja un­ver­ho­len De­fi­ni­ti­ons­macht be­an­sprucht, für Han in der Re­duk­ti­on des­sen, was und wie dort ver­han­delt wird, ei­ne Art »Mas­se light« dar­stellt (das ist mei­ne For­mu­lie­rung). Ei­ne dau­er­haf­te Bin­dung wird dort nicht er­zeugt. je­der, der in die­sen Shits­torms ein­mal wenn nicht ein­ge­taucht, so doch die­se be­ob­ach­tet hat, kann dem zu­stim­men.

    Auch die Be­ob­ach­tung, dass der Ein­bruch des An­de­ren nicht be­son­ders er­wünscht ist, ist rich­tig. Bei­spiels­wei­se wur­de neu­lich über Twit­ter ei­ne Gra­phik ver­brei­tet, die aus­wies, dass die USA 57% ih­rer Haus­halts­aus­ga­ben für Mi­li­tär aus­ge­be. Das ist nun in die­ser Form schlicht­weg falsch, weil es meh­re­re Kom­po­nen­ten un­be­rück­sich­tigt lässt (z. B. die Haus­hal­te der ein­zel­nen Bun­des­staa­ten). Un­ge­ach­tet des­sen, dass die Ein­wän­de durch­aus for­mu­liert wur­den (auch auf Twit­ter), wur­de die­se Gra­phik im­mer mehr »ret­weetet«, al­so wei­ter pu­bli­ziert. Dar­auf an­ge­spro­chen, be­kam ich von ei­ner Per­son ein »gähn« ge­schickt und die In­for­ma­ti­on, dass sie sich ei­gent­lich nicht be­son­ders da­für in­ter­es­sie­re. Aber die un­kor­rek­te, ja fahr­läs­sig fal­sche In­for­ma­ti­on wei­ter­zu­ver­brei­ten – da­für reich­te schein­bar das In­ter­es­se aus.

    Der Be­griff der Ne­ga­ti­vi­tät ist kom­plex: Es ist, auch hier stark ver­ein­fa­chend ge­sagt, die Mög­lich­keit, das An­de­re als Mög­lich­keit je­der­zeit zu­zu­las­sen. Die Po­si­tiv­ge­sell­schaft blen­det al­les ihr im Weg ste­hen­de schlicht­weg aus. Es ist ei­ne Ge­nuß­ge­sell­schaft, die für den Mo­ment und aus­schließ­lich im Mo­ment lebt. Und dies zum Prin­zip er­ho­ben hat. Ne­ga­ti­vi­tät »zu­las­sen« be­deu­tet dem­nach, Sach­ver­hal­te um­fas­send zu durch­den­ken. Ne­ga­ti­vi­tät heißt Ver­bor­ge­nes jen­seits ei­ner glän­zen­den Ober­flä­che wahr­zu­neh­men.

    Dass das Netz mehr ist als Schwarm – das ist ge­nau die Crux bei den The­sen Hans und auch von Strauß. Sie be­trei­ben am En­de das, was sie dem Schwarm vor­wer­fen – sie re­du­zie­ren ein Phä­no­men, in dem sie es pau­scha­li­sie­ren. Viel­leicht muss man das, um be­stimm­te Aus­wüch­se pla­stisch zu ma­chen. Den Schön­red­nern und Phi­li­stern ei­ner glän­zen­den Zu­kunft durch und mit dem In­ter­net – der ge­ball­ten Po­si­ti­vi­tät – set­zen sie nun die ge­ball­te Ne­ga­ti­vi­tät ent­ge­gen. Den­noch sind die Bü­cher le­sens­wert, weil sie den Ak­tua­li­täts- und Nach­rich­ten­jun­kie ein biss­chen aus dem Shits­torm-Ca­fé her­aus­ho­len.

  13. »E plu­ri­bus unum« war an­geb­lich der Wahl­spruch des Gut­ten­Plag Wi­kis (Gut­ten­berg-Af­fä­re). Der Gut­ten­Plag ist m.E. ein sehr gu­tes Bei­spiel für den di­gi­ta­len Schwarm jen­seits von Twit­ter oder so­zia­len Netz­wer­ken, und er zeigt auch, dass die Äu­ße­run­gen und Er­geb­nis­se an­de­re sein kön­nen (es ist viel­leicht doch nicht so ein­fach und das Schwarm­phä­no­men nicht nur ne­ga­tiv zu be­ur­tei­len, es scheint doch mög­lich, dass die Quan­ti­tät, die Vie­len, auch ei­ne neue Qua­li­tät, eben durch ihr ge­mein­sa­mes Wir­ken er­zeu­gen kön­nen — ist das schlimm? Oder nicht eher: be­mer­kens­wert?).

    Dass der Ein­bruch des An­de­ren auf Twit­ter und Face­book im All­ge­mei­nen nicht be­son­ders er­wünscht ist, glau­be ich ger­ne (und die Aus­füh­run­gen, so weit sie dar­ge­legt sind, tref­fen si­cher zu), aber oben wur­de das ja auf das ge­sam­te Netz aus­ge­dehnt, und das ist m.E. ein­fach nicht rich­tig (auch dass die Mög­lich­keit gar nicht ge­ge­ben sein soll ver­ste­he ich nicht; hier in­ter­agie­ren ja im­mer­hin Men­schen und die phy­si­sche Prä­senz des An­de­ren ist beim Le­sen ei­nes Buchs auch nicht ge­ge­ben).

    Das was im Le­ben hält und le­ben lässt, ist, den­ke ich, am En­de meist ein be­ja­hen­des Ele­ment, das soll­te nicht über­se­hen wer­den (das Le­ben ist un­be­stän­dig, die Zu­stän­de wech­seln, ich will da kei­nem den Vor­rang ge­ben, das ent­schei­det sich doch wie­der im Mo­ment, trotz der be­rech­tig­ten Kri­tik).

  14. Es wird auf Dau­er auch we­nig nut­zen, die Leu­te vor­schnell in ei­ne be­stimm­te Ecke zu stel­len; in Frank­reich zeigt sich ge­ra­de, wie kon­tra­pro­duk­tiv das sein kann.