Peer Stein­brück: Ver­tag­te Zu­kunft

Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft

Peer Stein­brück: Ver­tag­te Zu­kunft

Da sitzt er, der Mann der vor an­dert­halb Jah­ren Kanz­ler wer­den woll­te. Auf ei­ner Trep­pe, im An­zug, mit ro­ter Kra­wat­te. Für sei­ne Ver­hält­nis­se lä­chelt er fast. »Ver­tagte Zu­kunft« steht über ihm, in pas­sen­der Far­be zur Kra­wat­te. Dar­un­ter »Die selbst­zu­frie­de­ne Re­pu­blik«.

Peer Stein­brück hat ein neu­es Buch ge­schrie­ben. Wie per­vers die­ser Be­trieb ist, kann man dar­an ab­le­sen, dass er er­wäh­nen muss, dass er es sel­ber ge­schrie­ben hat. Sei­ne Ti­tel­the­se ist ein­fach: Der Wahl­er­folg der Uni­ons-Par­tei­en 2013 (41,5%) geht dar­auf zu­rück, dass die Wäh­ler das Be­dürf­nis nach Ru­he und vor al­lem po­li­ti­scher Kon­ti­nui­tät ge­wünscht hät­ten. Stein­brück be­stä­tigt da­mit weit­ge­hend die Aus­sa­ge der Au­gu­ren, die Mer­kels Wahl­kampf­stra­te­gie mit der von Kon­rad Ade­nau­er 1957 ver­gli­chen hat­ten, der mit sei­nem Kon­ter­fei und »Kei­ne Ex­pe­ri­men­te« die ab­so­lu­te Mehr­heit ge­won­nen hat­te. Die Unions­parteien hät­ten die­se Be­schwich­ti­gungs­stra­te­gie nicht zu­letzt mit Hil­fe der Me­di­en er­folg­reich um­ge­setzt. Je­de Kri­tik an den Ver­hält­nis­sen sei als Mie­se­pe­te­rei an­ge­se­hen wor­den. Die Ten­denz ging und geht, so Stein­brück, zur »kon­flikt­scheu­en Po­li­tik«.

Deut­lich wird er, wenn es dar­um geht, dass die SPD sich fra­gen las­sen müs­se, war­um sie die Wäh­ler nicht ha­be mo­bi­li­sie­ren und auf­rüt­teln kön­nen. Die SPD un­ter­schätz­te das »Selbst­bild­nis der Re­pu­blik«, so Stein­brück. Der Wunsch nach Kon­ti­nui­tät re­sul­tier­te nicht zu­letzt aus den rei­nen öko­no­mi­schen Zah­len. Sie spra­chen für die am­tie­ren­de Kanz­le­rin. Stein­brück sah sich zu­dem in der Fal­le, da er sei­nem Na­tu­rell ent­spre­chend ei­ni­ge po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen von schwarz-gelb nicht kri­ti­sie­ren konn­te, weil er ih­nen ei­gent­lich sel­ber zu­stimm­te. Da­zu zähl­te der Ab­bau der Staats­neu­ver­schul­dung (»Schwar­ze Null«) ge­nau­so wie die di­ver­sen Ret­tungs­schir­me für not­lei­den­de Eu­ro-Län­der. Ei­ne Ge­gen­po­si­ti­on hier­zu kam für Stein­brück und die SPD in bei­den Fäl­len nicht in­fra­ge.

Per­fekt hät­ten es die Uni­ons­par­tei­en ver­stan­den, die Wäh­ler für ihr »No­ta­ri­at über die bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ve In­ter­es­sen­wah­rung« zu mo­bi­li­sie­ren. Der Spa­gat für die Op­po­si­ti­on be­stand dar­in, dass man das Land nicht schlech­ter re­den woll­te, als es in gro­ßen Tei­len der Be­völ­ke­rung emp­fun­den wur­de. Die Pa­ro­le nicht al­les an­ders, aber ei­ni­ges bes­ser ma­chen zu wol­len, war be­reits ver­ge­ben. Stein­brück such­te sich The­men. Die­se zün­de­ten je­doch nicht, was er un­ein­ge­schränkt ein­ge­stand.

Von al­len Rück­sich­ten be­freit

Die mei­sten Be­spre­chun­gen über »Ver­tag­te Zu­kunft« re­ka­pi­tu­lie­ren die Ein­las­sun­gen Stein­brücks zur Kanz­ler­kan­di­da­tur und der Par­tei. Das al­les sei zu früh, un­vor­be­rei­tet und di­let­tan­tisch ge­we­sen, so er­kennt er heu­te. Was an­ders ge­we­sen wä­re, wenn die Kandi­datur drei oder vier Mo­na­te spä­ter er­folgt wä­re, schreibt er nicht. Die­se zum Teil mit Süf­fi­sanz ge­würz­ten Pas­sa­gen ma­chen je­doch nur rund ein Drit­tel des Bu­ches aus. Stein­brück hält es so­gar für not­wen­dig, sei­nen Wunsch nach »Bein­frei­heit« zu recht­fertigen. Wie Fran­zis­ka Aug­stein in der Süd­deut­schen Zei­tung an­merk­te, war aber al­lei­ne die Tat­sa­che, dass Stein­brück die­se er­be­ten hat­te ein Ein­ge­ständ­nis von Schwä­che. Um­ge­kehrt hät­te man ihm »Basta«-Mentalität vor­ge­wor­fen, wenn er sich die­se Bein­freiheit ein­fach ge­nom­men hät­te. Denn Stein­brück kennt sei­ne SPD ge­nau. Mehr­mals ap­pel­liert er an sei­ne Par­tei, die Grün­de für die auch für ihn er­nüch­tern­de Nie­der­la­ge 2013 zu su­chen, da­mit es 2017 nicht zu ei­nem ähn­li­chen Ef­fekt kommt. Die Gro­ße Ko­ali­ti­on als Dau­er­ein­rich­tung hält er für fa­tal; »öster­rei­chi­sche Ver­hält­nis­se« für nicht erstrebens­wert. Ein Bünd­nis im Bund mit den Lin­ken be­zeich­net er al­ler­dings als »Selbst­ent­lei­bung« der SPD. De­zent weist er im üb­ri­gen dar­auf hin, dass sich die schein­bar lin­ke Mehr­heit im Par­la­ment nicht im Wahl­er­geb­nis zeigt: Die Mehr­heit der Deut­schen ha­be 2013 kon­ser­va­tiv bis rechts ge­wählt: Uni­on, FDP und AfD ka­men auf 51%, SPD; Grü­ne und Lin­ke je­doch nur auf 42,7%.

Was Stein­brück nicht schreibt: Er hat­te auf dem Pa­pier al­le Chan­cen. Im Vor­feld wa­ren sei­ne de­mo­sko­pi­schen Zah­len auch im Ver­gleich zur Kanz­le­rin aus­ge­spro­chen gut. Wie die bei­den letz­ten so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Kanz­ler ging auch ihm der Ruf vor­aus, ei­gent­lich in der fal­schen Par­tei zu sein. Für et­li­che Wäh­ler der »Mit­te« und vor al­lem des links­katholischen Mi­lieus wä­re er ei­ne mög­li­che Al­ter­na­ti­ve ge­we­sen. Das Pro­blem be­stand nicht nur in der zum Teil hy­ste­risch ge­führ­ten Dis­kus­si­on um sei­ne Vor­trags­ho­no­ra­re. Es könn­te sein, dass die Wäh­ler bei Stein­brück so et­was wie ei­ne mit­tel­fri­sti­ge program­matische Al­ter­na­ti­ve ver­miss­ten. Es hät­ten ja nicht gleich Vi­sio­nen sein müs­sen.

In sei­nem Buch ist er nun von al­len Rück­sicht­nah­men ge­gen­über Par­tei und Jour­nail­le be­freit. Um dau­er­haft aus der 25%-Marke aus­zu­bre­chen müs­se sich die SPD der Zeit an­pas­sen, so Stein­brück. Die hi­sto­ri­sche Auf­ga­be der So­zi­al­de­mo­kra­tie sei »weit­ge­hend er­füllt«. Zwar sei die Sche­re zwi­schen Arm und Reich in den letz­ten Jah­ren im­mer wei­ter auf­ge­gan­gen und dies müs­se auch be­kämpft wer­den, aber ei­gent­lich sei Deutsch­land ein gut funk­tio­nie­ren­der So­zi­al­staat. Es ge­he nicht mehr dar­um, Gel­der zu ver­tei­len. Ein paar Eu­ro mehr Kin­der­geld hel­fe Fa­mi­li­en nicht bei der Be­schaf­fung ei­nes Ki­ta-Plat­zes. Es müs­se mehr in die so­zia­le In­fra­struk­tur in­ve­stiert wer­den, statt mit mar­gi­na­len Leistungs­erhöhungen zu han­tie­ren. Die Auf­ga­be des Staa­tes soll dar­in be­stehen, so­zia­le Schief­la­gen im Vor­feld zu er­ken­nen und mit ver­bes­ser­ten Rah­men­be­din­gun­gen ent­spre­chend zu han­deln. Stein­brück plä­diert für ei­nen prä­ven­ti­ven So­zi­al­staat statt für ei­nen nur mehr ali­men­tie­ren­den. Zwar ver­tei­digt Stein­brück den Be­griff der »Um­ver­tei­lung«, in­ter­pre­tiert ihn aber nicht im Sin­ne der Ro­bin-Hood-Tra­di­tio­na­li­sten in sei­ner Par­tei, die aus der SPD ei­nen »überalterte[n] Ge­sin­nungs­ver­ein« ma­chen wol­len.

Man könn­te, Stein­brück in­ter­pre­tie­rend, von zwei ri­va­li­sie­ren­den Grup­pen in der SPD spre­chen: tra­di­tio­na­li­sti­sche Dog­ma­ti­ker und Prag­ma­ti­ker. Dog­ma­ti­ker sind die rück­wärtsgewandten, so­zi­al­uto­pi­schem Den­ken ver­haf­te­ten Ideo­lo­gen, die sich nur dann zu­frie­den ge­ben, wenn sie 100% ih­rer For­de­run­gen durch­set­zen kön­nen. Er sel­ber sieht sich wohl eher als Prag­ma­ti­ker und ist fürs er­ste schon zu­frie­den, 50% Pro­gram­ma­tik um­set­zen zu kön­nen.

Frei­heit zu

Stra­te­gisch soll­te sich die SPD nicht nur nach NRW und den dor­ti­gen Stamm­wäh­lern son­dern viel­mehr den wich­ti­gen Bun­des­län­dern Ba­den-Würt­tem­berg, Bay­ern, Sach­sen und Thü­rin­gen zu­wen­den. Hier sei­en 36% der Wäh­ler be­hei­ma­tet, aber die Re­sul­ta­te der SPD nie­der­schmet­ternd. Das gro­ße neue The­ma der SPD sieht Stein­brück in der Frei­heit, und zwar nicht nur von (wie »Knecht­schaft, Fremd­herr­schaft äu­ße­rem Zwang und Will­kür«), son­dern »zu et­was wie zu ei­nem selbst­be­stimm­ten Le­ben, zu Teil­ha­be und Teil­nah­me an den öf­fent­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten, zu Bil­dung und Wohl­stand«. Wirtschafts­politisch plä­diert Stein­brück für ei­ne Re­nais­sance der so­zia­len Markt­wirt­schaft; das Er­be Er­hards sol­le man – so et­was pa­the­tisch – der CDU ent­rei­ßen. Ein­her müss­te das Be­kennt­nis zu ei­nem Li­be­ra­lis­mus ste­hen, aber nicht der »Vul­gär­li­be­ra­lis­mus« in Form des Markt­fun­da­men­ta­lis­mus der dem Un­ter­gang ge­weih­ten FDP.

Stein­brücks Weck­ru­fe an sei­ne Par­tei könn­ten aus ei­nem ein­fa­chen Grund ver­hal­len: Der­zeit ist die SPD ei­ne Län­der­macht. In 14 von 16 Bun­des­län­dern sitzt sie in der Re­gie­rung und stellt in neun Bun­des­län­dern den Mi­ni­ster­prä­si­den­ten. Es könn­ten die­se vor­läu­fi­gen Er­geb­nis­se sein, die die SPD in ei­ne Art Selbst­zu­frie­den­heit ver­har­ren las­sen.

Auf fast zwei Drit­teln des Bu­ches be­schäf­tigt sich Stein­brück mit ak­tu­el­len po­li­ti­schen Pro­ble­men – und de­ren Lö­sun­gen. Vier gro­ße The­men­blöcke sind es, die er durch­kne­tet: Na­tio­na­lis­mus und EU; die nach wie vor ent­grenz­ten Fi­nanz­märk­te; die »di­gi­ta­le Re­vo­lu­ti­on« und de­ren Aus­wir­kun­gen; Russ­land und die dro­hen­de geo­po­li­ti­sche In­sta­bi­li­tät. Vie­les, was er an­spricht, ist ei­gent­lich Ber­li­ner Main­stream. Da­zu ge­hört das eu­pho­ri­sche Be­kennt­nis zu »Eu­ro­pa«, was vor­ei­lig mit »EU« gleich­ge­setzt wird. Zwar er­kennt Stein­brück Le­gi­ti­ma­ti­ons­de­fi­zi­te in den In­sti­tu­tio­nen der Eu­ro­päi­schen Uni­on, träumt von mehr Be­fug­nis­sen für das Eu­ro­päi­sche Par­la­ment und sei­ner ei­ner 2. Kam­mer, be­lässt es aber vor­aus­ei­lend re­si­gnie­rend bei klei­ne­ren Ein­wän­den.

Scharf schießt er auf die so­ge­nann­ten Rechts­po­pu­li­sten in ei­ni­gen Län­dern, oh­ne den Ur­sa­chen für die Ak­zep­tanz die­ser Kräf­te nach­zu­for­schen. Die­se Ent­wick­lun­gen die­nen Stein­brück da­zu, Ha­ber­mas’ Vor­schlä­ge für ei­ne um­fas­sen­de, von den je­wei­li­gen Völ­kern ge­tra­ge­ne Eu­ro­päi­sche Ver­fas­sung als zu idea­li­stisch in Be­zug auf die zu er­war­ten­den Re­sul­ta­te zu ver­wer­fen. Auf Deutsch: Die Leu­te sind zu dumm, um die Vor­tei­le der EU zu er­ken­nen. Das die­ser po­li­ti­sche Pa­ter­na­lis­mus in­zwi­schen Teil des Pro­blems der Ak­zep­tanz der EU bis weit in das links­in­tel­lek­tu­el­le Mi­lieu hin­ein dar­stellt, kommt ihm da­bei nicht in den Sinn.

Wuch­tig sei­ne Äu­ße­run­gen zur so­ge­nann­ten »di­gi­ta­len Re­vo­lu­ti­on«, die, so der Ge­stus, glo­bal zu bän­di­gen und zu kon­trol­lie­ren sei. Deut­sche bzw. eu­ro­päi­sche Da­ten­schutz­re­geln sol­len da­bei wie selbst­ver­ständ­lich glo­ba­li­siert wer­den. Die von Stein­brück an­dern­orts ger­ne als »Tech­nik­feind­lich­keit« der Deut­schen ge­brand­mark­te Skep­sis, prak­ti­ziert er bei der Be­wer­tung des In­ter­nets sel­ber: Er ver­fällt in ei­ne Art Schirr­ma­cher-Alar­mis­mus und sieht mehr die Ri­si­ken als die Chan­cen. Holzschnitt­artig die Kri­tik an den »Internet­riesen«, die er als Welt­u­sur­pa­to­ren be­schreibt. Ge­ra­de­zu lä­cher­lich, wenn er die Steuer­flucht die­ser (und an­de­rer) Groß­un­ter­neh­men als mo­ra­li­sche Ver­rucht­heit auf­bläst. Er scheint zu ver­ges­sen, dass ein­zig die Po­li­tik an die­sen Um­stän­den Schuld ist. Erst in ei­nem spä­te­ren Ka­pi­tel gibt er klein­laut zu, dass der Steu­er­wett­be­werb in­ner­halb der EU-Mit­glieds­staa­ten ge­wollt sei. Ein­däm­men möch­te er ihn per so­fort nicht, was sei­ne Ar­gu­men­ta­ti­on noch ab­sur­der wer­den lässt.

Die geo­po­li­ti­sche La­ge Eu­ro­pas sieht er nach der Krim-An­ne­xi­on Russ­lands als grund­legend ver­än­dert und be­droh­lich. So herz­haft sei­ne Ab­leh­nung der na­tio­na­li­sti­schen Po­li­tik Pu­tins auch ist, so deut­lich nimmt Stein­brück Stel­lung zu Ver­säum­nis­sen und Fehl­ein­schät­zun­gen der EU in Be­zug auf de­ren Ukrai­ne-Po­li­tik. Stein­brück plä­diert ein­dring­lich für ein wie­der­erstark­tes Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen den USA und Deutsch­land. TTIP be­trach­tet er nicht nur als öko­no­mi­sches, son­dern auch als po­li­tisch-stra­te­gi­sches Pro­jekt. Ein Schei­tern sei fa­tal. Am Pro­test zu TTIP ins­be­son­de­re in Deutsch­land macht er den vi­ru­len­ten Pes­si­mis­mus der deut­schen Ge­sell­schaft fest. Die Fra­ge nach ei­ner drän­gen­de­ren Ver­ant­wor­tung Deutsch­lands in der Welt be­ant­wor­tet der an­son­sten so mei­nungs­freu­di­ge Stein­brück zu­sam­men­ge­fasst mit ei­nem glas­kla­ren Jein. Wert legt er vor al­lem dar­auf, dass Deutsch­land nie­mals mehr po­li­ti­sche Al­lein­gän­ge oh­ne sei­ne eu­ro­päi­schen Part­ner durch­zu­füh­ren ha­be. Und schließ­lich be­merkt er ein biss­chen spitz­fin­dig, dass Ver­ant­wor­tung nicht gleich­ge­setzt wer­den muss mit mi­li­tä­ri­schen Ein­sät­zen. Wenn­gleich Deutsch­land sei­ne mi­li­tä­ri­schen Bünd­nis­ver­pflich­tun­gen der NATO ge­gen­über zu er­fül­len ha­be.

Zahl­rei­che Vor­schlä­ge

Kon­kre­ter wird Stein­brück wenn es um sein Lieb­lings­the­ma, den glo­ba­len Finanz­kapitalismus, geht. Die nach wie vor fast un­ge­hin­dert agie­ren­den Dea­ler in der Finanz­industrie sieht er als gro­ßes Ri­si­ko ei­ner sta­bi­len und halb­wegs ge­rech­ten Welt­ord­nung. Es ist aber in­kon­se­quent, ei­ner­seits Ger­hard Schrö­der als Po­li­ti­ker und Kanz­ler zum Vor­bild zu neh­men, an­de­rer­seits je­doch mehr Re­gu­lie­rung zu for­dern. War es doch Schrö­der, der die De­re­gu­lie­run­gen von Clin­ton und Blair nach Deutsch­land trans­for­miert hat­te. Wenn sich Stein­brück für ein Trenn­ban­ken­ge­setz ein­setzt und die US-ame­ri­­ka­ni­schen Dodd-Frank-Acts und den Volcker-Ru­le von 2010 an­führt, ver­gisst er zu er­wäh­nen, dass die Neu­ge­setz­ge­bung kei­nes­falls iden­tisch mit dem von Clin­ton 1998 ab­ge­schaff­ten Glass-Stea­gall-Act ist und zahl­rei­che Aus­nah­me­mög­lich­kei­ten vor­sieht. Von ei­nem eu­ro­päi­schen Trenn­ban­ken­ge­setz wie es in den 1930ern in den USA kon­zi­piert und auch um­ge­setzt wur­de, sind wir weit ent­fernt. Zu­dem hät­te es in­ter­es­siert, war­um Stein­brück glaubt, Deutsch­land sit­ze hier in­ner­halb der EU »im Brem­ser­häus­chen«.

Stein­brücks Wort von der »selbst­zu­frie­de­nen Re­pu­blik« ba­siert im We­sent­li­chen auf zwei An­nah­men: Zum ei­nen die un­ge­brem­ste Ex­port­macht Deutsch­lands, die ei­ne gesamt­wirtschaftliche Baisse wie in an­de­ren Eu­ro- und EU-Län­dern weit­ge­hend ver­hin­dert hat­te. (Dass Stein­brück hier­für auch die Agen­da-Maß­nah­men Schrö­ders, die in ähn­li­cher Form an­de­ren wich­ti­gen Län­dern bis­her un­ter­blie­ben sei­en, als Ur­sa­che sieht, sei am Ran­de er­wähnt.) Die Ex­port­ein­nah­men ma­chen satt und ge­nüg­sam. Wich­ti­ge not­wen­di­ge Re­for­men wer­den ver­scho­ben. Deutsch­land er­scheint als ei­ne In­sel der Se­li­gen.

Ge­fähr­lich wird je­doch zum an­de­ren, so Stein­brück, wenn man nun glaubt, die Fi­nanz- und Eu­ro­kri­se der Jah­re 2007ff sei prak­tisch über­wun­den. Ein­dring­lich zeigt er, dass die­se An­nah­me falsch ist. Zum ei­nen ge­riert sich fast heim­lich die Eu­ro­päi­sche Zentral­bank als »Bad Bank«, in dem sie in gro­ßem Stil Staats­an­lei­hen in Zah­lung nimmt. Ih­re Nied­rig­zins­po­li­tik zwingt An­le­ger förm­lich in ris­kan­te An­la­ge­for­men, von Ak­ti­en bis Hedge-Fonds. Der Ak­ti­en­markt droht, sich auf­zu­blä­hen; die Ak­ti­en­wer­te spie­geln nicht mehr die Un­ter­neh­mens­wer­te wie­der. Gleich­zei­tig wer­den die Ban­ken nicht ge­nug re­gu­liert. Den­noch er­schei­nen Stein­brücks Vor­schlä­ge, das Er­pres­sungs­po­ten­ti­al der Ban­ken zu re­gle­men­tie­ren, ein biss­chen haus­backen: Hal­te­frist im Hoch­fre­quenz­han­del von »drei auf 500 Mil­li­se­kun­den«; Er­hö­hung des Ei­gen­ka­pi­tals (wird durch die rei­nen Vo­lu­mi­na des Han­dels im­mer ein Ha­se-und-Igel-Spiel blei­ben) oder ei­nen auf US-Ver­hält­nis­se zu­ge­schnit­ten Ban­ken-Stress-Test. Da­nach, so Stein­brück, wür­den zahl­rei­che eu­ro­päi­sche Ban­ken nicht die An­for­de­run­gen be­stehen. Die Ant­wort, was dann mit die­sen Ban­ken ge­sche­hen soll, bleibt der Au­tor schul­dig.

In ei­nem Ka­pi­tel mit dem em­pha­ti­schen Ti­tel »Ge­stal­te­te Zu­kunft« ent­wickelt Stein­brück zahl­rei­che Vor­schlä­ge wie die Bun­des­re­pu­blik di­rekt und oh­ne Rück­sich­ten auf Brüs­sel auf die fi­nanz­po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Her­aus­for­de­run­gen im Land re­agie­ren kann. Die­se Vor­schlä­ge rei­chen von ei­ner Pro­gres­si­on der So­zi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge in An­leh­nung an die Pro­gres­si­on bei der Ein­kom­men­steu­er, der Er­hö­hung der (pri­va­ten) Erb­schafts­steu­er statt ei­ner Re­vi­ta­li­sie­rung der bü­ro­kra­ti­schen und we­nig er­gie­bi­gen Ver­mö­gens­steu­er (Fir­men­ver­mö­gen blei­ben bei ihm nach wie vor un­an­ge­ta­stet, wenn sie be­stimm­te Kri­te­ri­en er­fül­len), ei­ner Um­satz­steu­er­re­form, nach­dem der er­mä­ßig­te Steu­er­satz von 7% nur noch auf Nah­rungs­mit­tel und Kul­tur­er­zeug­nis­se an­ge­wandt wer­den darf und al­le Aus­nah­men ge­stri­chen wür­den, ei­ner Er­hö­hung der Finanzmarkttrans­aktionssteuer auf De­ri­va­te, der Ab­schaf­fung des Ehe­gat­ten­split­te­rung und der kosten­freien Mit­ver­si­che­rung ei­nes nicht ar­bei­ten­den Ehe­part­ners bei der Kran­ken­ver­si­che­rung bis zur Rück­füh­rung oder min­de­stens Aus­set­zung der ak­tu­ell von der Gro­ßen Ko­ali­ti­on be­schlos­se­nen Ren­ten­pro­jek­te (Müt­ter­ren­te; Ren­te mit 63) und der Er­he­bung von Stu­di­en­ge­büh­ren, die nach dem Stu­di­en­ab­schluss bei ent­spre­chen­der An­stel­lung und Ge­halts­struk­tur fäl­lig wür­den. Die Ein­nah­men möch­te Stein­brück un­ter an­de­rem für öf­fent­li­che In­fra­struk­tur­maß­nah­men, der Wie­der­ein­füh­rung der Mög­lich­keit der de­gres­si­ven Ab­schrei­bung für Un­ter­neh­men, der För­de­rung von Kin­dern mit Migrations­hintergrund und der Auf­stockung des Bun­des­wehr­etats ver­wen­den. Schließ­lich sol­len auch die Kom­mu­nen mit ei­nem neu­en Fi­nanz­aus­gleich ent­la­stet wer­den.

All dies hat man hier und da schon ge­hört und ge­le­sen. Im­mer­hin: Stein­brück be­lässt es nicht beim Kla­gen, son­dern bringt kon­kre­te Vor­schlä­ge. Ei­ni­ge sind – das weiß er sel­ber – nicht auf der Par­tei­li­nie, an­son­sten könn­ten sie in der Gro­ßen Ko­ali­ti­on si­cher­lich schnell um­ge­setzt wer­den. An­de­re klin­gen gut, wie et­wa der Wunsch des Bü­ro­kra­tie­ab­baus für Un­ter­neh­men. Tat­säch­lich neh­men Ver­ord­nun­gen und Do­ku­men­ta­ti­ons­pflich­ten im­mer mehr zu. Aber dies ge­schieht eben durch die Po­li­tik – sei es in Ber­lin oder Brüs­sel. Stein­brücks zehn Vor­schlä­ge für ein bes­se­res Bil­dungs­sy­stem ha­ben in­zwi­schen durch­aus Pa­ti­na an­ge­setzt oder schei­tern re­gel­mä­ßig an Län­de­rei­tel­kei­ten: Re­form der Föderalis­musreform, län­ge­res, ge­mein­sa­mes Ler­nen in den Schu­len, mehr Kom­pe­ten­zen für den Bund, mehr Ganz­tags­schu­len, Quer­ein­stei­ger als Leh­rer. Den Wunsch nach klei­ne­ren Klas­sen als po­li­ti­sches Ziel ken­ne ich per­sön­lich seit 45 Jah­ren.

…und ein paar Wi­der­sprü­che

Ge­le­gent­lich springt Stein­brück zu kurz oder ver­wickelt sich in Wi­der­sprü­che. Zum ei­nen be­klagt er ei­ne Po­li­tik­ver­dros­sen­heit, die sich un­ter an­de­rem dar­in zei­ge, dass die Wahl­be­tei­li­gung sin­ke. Da­bei lässt er voll­kom­men au­ßer Acht, wie sich sei­ne Aus­sa­ge an­dert­halb Jah­re nach der Bun­des­tags­wahl, sei­ne Kanz­ler­kan­di­da­tur sei ein Feh­ler ge­we­sen, auf ei­ne sol­che Po­li­tik- oder, soll­te man bes­ser sa­gen: Po­li­ti­ker­ver­dros­sen­heit di­rekt aus­wirkt. Es ist näm­lich ei­ne ziem­li­che Un­ver­schämt­heit, frank und frei von ei­nem Feh­ler zu spre­chen, nur weil ei­nem das Er­geb­nis bzw. die Um­stän­de nicht ge­passt ha­ben. Auch die Tat­sa­che, ein sol­ches in vie­len Din­gen dis­kus­si­ons­wür­di­ges Buch zu schrei­ben, sich aber längst aus jeg­li­cher po­li­ti­scher Ver­ant­wor­tung, die über das Bun­des­tags­man­dat hin­aus­geht, selbst ent­fernt zu ha­ben, ver­wun­dert.

Die kon­sta­tier­te Po­li­tik­ver­dros­sen­heit hebt man auch nicht da­durch auf, dass man starr an der ak­tu­el­len Form der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie fest­hält und Bür­ger­ent­schei­de nur als »kon­sul­ta­tiv« er­wünscht. Stein­brück be­klagt – zu Recht – ei­nen fa­ta­len Hang der Po­li­tik, sich an de­mo­sko­pi­schen Um­fra­gen zu ori­en­tie­ren, statt kon­se­quent ih­re po­li­ti­schen Pro­gram­me um­zu­set­zen. Gleich­zei­tig kon­ze­diert er, dass das Wahl­pro­gramm der SPD, dem er zu­ge­stimmt ha­be, ei­nen Ge­mischt­wa­ren­ka­ta­log aus al­len mög­li­chen For­de­run­gen be­inhal­te­te, die sich si­cher­lich all­ge­mein gro­ßer Po­pu­la­ri­tät er­füllt hät­ten, aber po­li­tisch un­mög­lich um­zu­set­zen ge­we­sen wä­ren.

Auch die »zu­neh­men­de Be­schleu­ni­gung po­li­ti­scher Pro­zes­se« nicht zu­letzt durch die di­gi­ta­len Me­di­en und de­ren Hy­pes, miss­fällt Stein­brück. Talk­shows wür­den das Par­la­ment er­set­zen; der Jour­na­lis­mus nei­ge da­zu, kom­ple­xe Sach­ver­hal­te ent­we­der zu ver­kür­zen oder zu per­so­na­li­sie­ren. Dem ist na­tür­lich zu­zu­stim­men, aber die Fra­ge, war­um denn Po­li­ti­ker in schö­ner Re­gel­mä­ßig­keit just die­se Ver­an­stal­tun­gen als Gä­ste be­völ­kern, stellt Stein­brück nicht.

So an­re­gend man­che Aus­füh­run­gen auch sind – zu­wei­len wie­der­holt Stein­brück nur die üb­li­chen Flos­keln. Et­wa wenn er von der de­mo­gra­phi­schen Ge­fahr schreibt und zu­gleich ver­kün­det, dass die »di­gi­ta­le Re­vo­lu­ti­on« wo­mög­lich mas­sen­haft Ar­beits­plät­ze frei­set­zen wird. Da­bei bleibt of­fen, wo denn die Ar­beits­plät­ze der Zu­kunft lie­gen sol­len. Oder wenn gleich mehr­mals über ei­nen »Fach­kräf­te­man­gel« ge­klagt wird, ob­wohl sich die­ser we­der in der Ge­halts­struk­tur der be­schäf­tig­ten Fach­kräf­te ent­schei­dend wie­der­spie­gelt noch da­bei auch nur er­wähnt wird, dass die Un­ter­neh­men jah­re­lang vor­her – mit gnä­di­ger Un­ter­stüt­zung der Po­li­tik – die Früh­ver­ren­tung äl­te­rer und mit­hin teu­rer Mit­ar­bei­ter for­ciert ha­ben. Die von ihm ge­for­der­te An­er­ken­nung aus­län­di­scher Stu­di­en- und Be­rufs­ab­schlüs­se be­kommt da­bei den bit­te­ren Nach­ge­schmack des Ge­schenks an die Ar­beit­ge­ber, die da­mit gut aus­ge­bil­de­te Fach­kräf­te aus dem Aus­land zu gün­sti­ge­ren Kon­di­tio­nen er­hal­ten und da­mit ih­re Per­so­nal­ko­sten re­du­zie­ren kön­nen. Ein al­ter Hut bleibt auch der Ap­pell, sich nicht mehr auf die Ren­te als al­lei­ni­ge Al­ters­vor­sor­ge zu ver­las­sen. Wie bei lang an­hal­ten­den Nied­rig­zin­sen und Pro­ble­men für Le­bens­ver­si­che­rer die pri­va­te Vor­sor­ge aus­se­hen soll, bleibt ein Ge­heim­nis.

Stein­brücks Buch ist ge­spickt mit wo­mög­lich in Re­den er­prob­ten, auf die lan­ge Strecke des Sach­buchs je­doch et­was er­mü­den­den Me­ta­phern. Im­mer wie­der ist ir­gend­et­was »Treib­stoff«, dann droht hier und da ei­ne »Kern­schmel­ze« und mehr­mals gibt es den be­rühm­ten »Quan­ten­sprung«, der im­mer noch falsch ver­wen­det wird. Un­ver­ständ­lich, war­um es kei­ne num­me­rier­ten End­no­ten gibt, son­dern statt­des­sen Stern­chen, die der Le­ser dann am En­de müh­sam der Sei­ten­zahl zu­ord­nen muss. Red­un­dan­zen blei­ben nicht aus, im­mer­hin: die ein­zel­nen Ka­pi­tel sind auch un­ab­hän­gig von­ein­an­der für sich ver­ständ­lich.

Am En­de klingt es fast schon wie ein Ver­mächt­nis: »Un­ser Be­dürf­nis nach Ste­tig­keit und Über­schau­bar­keit und ei­ner sta­bi­len in­ter­na­tio­na­len Ord­nung mit Deutsch­land als In­sel der Selbst­ge­nüg­sam­keit wird nicht er­füllt. Die Welt be­fin­det sich in ei­ner Pha­se, in der sie sich un­ter den trei­ben­den Kräf­ten der wirt­schaft­li­chen Glo­ba­li­sie­rung, Di­gi­ta­li­sie­rung, De­mo­gra­phie und ant­ago­ni­sti­schen Ge­sell­schafts­ent­wür­fen neu sor­tiert. Da­bei stel­len sich der west­li­che Ka­pi­ta­lis­mus und der uni­ver­sel­le An­spruch un­se­res Wer­te­sy­stems aus der Sicht an­de­rer Kul­tur­krei­se nicht we­ni­ger als Ideo­lo­gie dar als aus un­se­rer Sicht de­ren ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Vor­stel­lun­gen.«

Der­zeit, so die Quint­essenz nicht nur von Stein­brücks Buch, ge­winnt der­je­ni­ge Wah­len, der die­se Er­kennt­nis­se und Hand­lungs­kon­se­quen­zen hier­aus mög­lichst weit von sich weg schiebt. Bei ge­nau­er Lek­tü­re zeigt sich, dass auch Stein­brück den gro­ßen Sprung nicht wagt und statt­des­sen lie­ber sy­stem­im­ma­nent klei­ne­re Re­pa­ra­tu­ren am Be­stehen­den durch­füh­ren möch­te. Man kann ihm das nicht zum Vor­wurf ma­chen. Schwach ist nur, dass er sei­ne Kom­pe­tenz und sei­ne Bär­bei­ßig­keit in ei­ner Art Trotz­re­ak­ti­on (auf wen oder was auch im­mer) nicht mehr in das Ge­mein­we­sen ein­brin­gen möch­te, für das er so ve­he­ment in die­sem Buch strei­tet. Statt­des­sen hilft er jetzt mit an­de­ren El­der Sta­tes­men der Ukrai­ne. Viel­leicht soll­te er sein Bun­des­tags­man­dat zu­rück­ge­ben. Denn da­für hat­te ich ihn nicht ge­wählt.

24 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Pingback: Vermischtes

  2. Ich ha­be ihn nicht ge­wählt, ob­wohl ich ihn für den ein­zi­gen Men­schen in der SPD hal­te, der die Pro­ble­me auf dem Ban­ken­sek­tor und die Struk­tur­be­din­gun­gen in der Re­al­wirt­schaft ei­ni­ger­ma­ßen ver­stan­den hat. Ein in­tel­li­gen­ter Mensch als Kanz­ler hat in Deutsch­land so­wie­so kei­ne Chan­ce, mei­ne Pro­gno­se da­mals. Da­mals ha­be ich kon­ser­va­tiv ge­wählt, zum er­sten Mal. Denk­zet­tel. Ich hat­te den Ei­er­tanz um die bür­ger­li­che Mit­te mit den »bes­se­ren Ideen« satt. Die SPD schien mir kei­ne lin­ke Par­tei mehr zu sein. Dass er kein schlüs­si­ges Kon­zept zur Zu­kunft der EU an­bie­ten konn­te, ha­be ich ihm nach­ge­se­hen. Das wä­re im Mo­ment (oder über­haupt) das Ei des Ko­lum­bus. Das hat kei­ner. Völ­ker, die ei­ne Eu­ro­päi­sche Ver­fas­sung tra­gen... Wo le­ben die­se Leu­te?!

  3. Im Vor­feld wa­ren sei­ne de­mo­sko­pi­schen Zah­len auch im Ver­gleich zur Kanz­le­rin aus­ge­spro­chen gut.

    Dem wi­der­spre­che ich. Stein­brücks Po­pu­la­ri­täts­wer­te wa­ren zwar bei der Ge­samt­be­völ­ke­rung ziem­lich hoch – aber bei den SPD-An­hän­gern nicht. Es nützt aber kei­nem Kan­di­da­ten et­was, wenn ihn die Wäh­ler an­de­rer Par­tei­en für »ganz okay« hal­ten, wenn sie ihn dann trotz­dem nicht wäh­len.

    Hel­mut Kohl hat­te, wie auch An­ge­la Mer­kel, im­mer sehr ho­he Zu­stim­mungs­wer­te in der CDU. Da spielt es dann kei­ne Rol­le, dass er in der Ge­samt­be­völ­ke­rung eher un­be­liebt war.

    Und: was der SPD fehlt, ist ein Kan­di­dat oder ei­ne Kan­di­da­tin, die auch schon mal ei­ne Wahl ge­won­nen hat: Ga­bri­el (Nie­der­sa­chen), Stein­mei­er (Bund) und Stein­brück (NRW, Bund) wis­sen nur, wie man ver­liert.

  4. @Gerald Fix
    Wenn die SPD-An­hän­ger nur bei 25% lie­gen, ist es nicht ganz so ent­schei­dend, ob je­der »Ge­nos­se« Stein­brück tat­säch­lich als best­mög­li­chen Kan­di­da­ten auf­fasst.

    Sie ha­ben na­tür­lich da­hin­ge­hend recht, dass Stein­brück die Un­ter­stüt­zung aus sei­ner Par­tei ge­braucht hät­te – und die war wohl nicht be­son­ders groß. Die Aus­sa­ge, dass die SPD nur Kan­di­da­ten ge­habt ha­be, die ver­lo­ren ha­ben, mag grif­fig sein. Aber sie ist fra­gil. Brandt schei­ter­te mehr­mals bei der Bun­des­tags­wahl, be­vor er 1969 dann die Ge­le­gen­heit beim Schop­fe pack­te. Jo­han­nes Rau, Kan­di­dat von 1987, hat­te 2 x NRW haus­hoch ge­won­nen. Ru­dolf Schar­ping, Kan­di­dat von 1994, hat­te Rhein­land-Pfalz für die SPD »er­obert«. Bei­de schei­ter­ten, nicht zu­letzt weil sie in der Par­tei we­nig oder kaum Un­ter­stüt­zung er­hiel­ten. Auch Kohl galt nicht als »Sie­ger­typ«; die Um­stän­de 1982 mit kon­struk­ti­vem Miss­trau­ens­vo­tum an die Macht zu kom­men spiel­ten ihm in die Hän­de.

    Rich­tig ist, dass in ei­ner kon­ser­va­ti­ven Par­tei wie bei der Uni­on die Ge­schlos­sen­heit dem je­wei­li­gen Kan­di­da­ten ge­gen­über im­mer hö­her war. Das war nur ein­mal nicht der Fall als Strauß 1980 an­trat. An­son­sten wa­ren und sind die Uni­ons­par­tei­en un­ter Kohl und Mer­kel im­mer Kanz­ler­wahl­ver­ei­ne ge­we­sen.

  5. Wenn die SPD-An­hän­ger nur bei 25% lie­gen, ist es nicht ganz so ent­schei­dend, ob je­der »Ge­nos­se« Stein­brück tat­säch­lich als best­mög­li­chen Kan­di­da­ten auf­fasst.

    Stein­brück hat sei­nen Hut in den Ring ge­wor­fen, als Rot-Grün den Um­fra­gen zu­fol­ge fast un­schlag­bar schien (wahlrecht.de, aber na­tür­lich ist der Nie­der­gang in den Um­fra­gen nicht Stein­brück an­zu­la­sten). Un­ter­stützt wur­de er vor al­lem von der Pres­se, haupt­säch­lich von der ZEIT (ZEIT, Bei­spiel). Die Pres­se hat ihn der SPD fast auf­ge­zwun­gen und als er Kan­di­dat war, hat sie ihn – mit Aus­nah­me der ZEIT – de­mon­tiert. Die­ser De­mon­ta­ge hat die Par­tei­ba­sis nichts ent­ge­gen­ge­setzt, sie hat ihn nicht ver­tei­digt. Er war ein­fach nicht ihr Mann.

    Brandt schei­ter­te mehr­mals bei der Bun­des­tags­wahl
    Rich­tig. Aber vor­her hat er in Ber­lin ge­won­nen. Rau und an­de­re, die auch in den Län­dern er­folg­reich wa­ren, ha­ben Sie er­wähnt. Man könn­te noch Schmidt, La­fon­taine, Cle­ment und so­gar Vo­gel (als Münch­ner OB) nach­schie­ben. Das sind al­les Leu­te, die in der Pro­vinz ge­won­nen ha­ben. Aber wann ist zum letz­ten Mal ein Wahl­sie­ger in die SPD-Bun­des­po­li­tik ge­rückt? Beck hat man weg­ge­bis­sen, Plat­zek war krank – und dann nichts mehr. Mi­ni­ster­a­bel wird man im Bund nur, wenn man im Land ab­ge­wählt wird ... Hat die CDU das ei­gent­lich schon mal ge­macht, ei­nen ab­ge­wähl­ten Mi­ni­ster­prä­si­den­ten als Mi­ni­ster nach Bonn/Berlin zu ho­len?

  6. @Gerald Fix
    Die ab­ge­wähl­ten MP der CDU lan­den in Eu­ro­pa (McAl­li­ster, Oet­tin­ger, Stoi­ber), in der Wirt­schaft (Koch, Rütt­gers) oder in den Ru­he­stand. Un­vor­stell­bar, dass sich je­mand wie Rütt­gers oder Lie­ber­knecht ir­gend­wann ein­mal im Ka­bi­nett Mer­kel wie­der­ge­fun­den hät­te bzw. wie­der­fin­den wür­de. Der MP gilt hier als Kul­mi­na­ti­ons­punkt für ei­ne Kar­rie­re. Al­les an­de­re ist Ab­stieg. Der­zeit gibt es ja kaum Uni­ons-MP die ir­gend­wann in Ka­bi­netts­li­sten auf­tau­chen könn­ten.

    Die lan­ge Durst­strecke, die die SPD nach Schmidts Ab­wahl 1982 hin­zu­neh­men hat­te, wur­de ei­gent­lich nur kurz un­ter­bro­chen (1998–2005). Schrö­ders Re­gie­rung war ein In­ter­re­gnum. Ich be­haup­te heu­te, dass nicht Schrö­der ge­wählt, son­dern Kohl da­mals ab­ge­wählt wur­de (ähn­lich wie 1980, als nicht Schmidt ge­wählt, son­dern Strauß ver­hin­dert wur­de). Schrö­der hat­te ja auch in der SPD nicht un­ein­ge­schränkt al­le Stim­men hin­ter sich – frei­lich hielt ihm La­fon­taine den Rücken frei. Die­ser woll­te dann, als Schrö­der Kanz­ler war, als Ge­gen­kanz­ler Po­li­tik ma­chen. Da traf er auf den fal­schen.

    Die Stim­mung war 1998 ein­fach da­nach. Die­se Stim­mung – das schreibt auch Stein­brück in sei­nem Buch – gab es 2013 er­kenn­bar nicht. Wenn nicht noch et­was pas­siert, dann wird es auch 2017 kei­ne Wech­sel­stim­mung ge­ben.

    Die SPD hat jetzt schon das Kan­di­da­ten­pro­blem. Ga­bri­el ist für gro­ße Tei­le der Mit­tel­schicht, die man der CDU ab­spen­stig ma­chen müss­te, nicht un­be­dingt wähl­bar. Er hat ja, wie Sie schrei­ben, noch nie ei­ne LTW ge­won­nen. Glei­ches gilt von Stein­mei­er – ein so­li­der und gu­ter Au­ßen­mi­ni­ster, aber kein Wahl­kämp­fer. Aus den Rei­hen der MP se­he ich nur zwei: Han­ne­lo­re Kraft und Tor­sten Al­big. Krafts Po­li­tik in NRW wür­de im Wahl­kampf si­cher­lich the­ma­ti­siert wer­den. Al­big ist ein te­sto­ste­ron­ge­steu­er­ter Springsins­feld, der ver­mut­lich un­ter Druck ähn­lich cho­le­risch re­agie­ren könn­te wie es ge­le­gent­lich Stein­brück macht. Drey­er, Sel­le­ring, Wo­id­ke und Weil kann man wohl ver­ges­sen. Scholz hat in der Par­tei zu we­nig Rück­halt.

    Aber auch die Uni­on kommt in ei­ne pre­kä­re Si­tua­ti­on. Selbst wenn Mer­kel 2017 noch ein­mal an­tre­ten soll­te (wo­von ich aus­ge­he), dann stellt sich die Nach­fol­ger­fra­ge. Ich se­he da weit und breit nie­man­den, der den Bo­nus Mer­kels in ei­ne Wahl mit­neh­men könn­te. Da­her wird sie ver­mut­lich in­mit­ten der Le­gis­la­tur nach 2017 ein/e Nachfolger/in no­mi­nie­ren und diese/n zwei Jah­re ma­chen las­sen. Kohls Feh­ler von 1998 wird sie nicht ma­chen.

  7. @ die_kalte_Sophie

    »Die SPD schien mir kei­ne lin­ke Par­tei mehr zu sein.«

    Ha­ha, der war gut. Wann war sie das zu­letzt? Vor dem »Go­tha­er Pro­gramm«?

  8. Erst ein­mal vie­len Dank für die­se un­glaub­lich gu­te und ge­naue Be­spre­chung. Für mich be­deu­tet es: ich muss das Buch nicht le­sen. Stein­brück for­dert die SPD auf, zu re­flek­tie­ren, ist aber selbst nicht im Stan­de dies zu tun. Max We­ber hat es ge­nau be­schrie­ben (Po­li­tik als Be­ruf): ehe­ma­li­ge Be­am­ten tau­gen nicht zum gro­ßen Po­li­ti­ker. Stein­brück hat nicht ver­stan­den, dass das, was er for­mu­liert, sein Pro­blem ist: nein die Auf­ga­be der So­zi­al­de­mo­kra­tie ist eben nicht er­füllt, auch wenn die Sta­ti­stik dies ver­mit­teln will. Hun­dert­tau­sen­de Frau­en hän­gen in be­fri­ste­ten Ver­trä­gen und trau­en sich nicht schwan­ger zu wer­den, Hun­dert­tau­sen­de ar­bei­ten un­ter dem Min­dest­lohn und trau­en sich nicht et­was zu sa­gen, Hun­dert­tau­sen­de lei­den täg­lich un­ter un­fass­ba­ren Un­ge­rech­tig­kei­ten und se­hen, dass sie nichts tun dür­fen, weil die Po­li­tik es so will (Stich­wort Mie­ten, Ar­beit, Bil­dung, jun­ge Chan­cen...) Stein­brücks Pro­blem ist sehr ein­fach for­mu­lier­bar: er weiß nicht, was ein Li­ter Milch ko­stet. Mer­kel traue ich das lei­der zu, wie vie­le, des­we­gen darf sie wei­ter schal­ten, wal­ten und ver­wal­ten.

  9. @ be­sa­rin. Dan­ke für den An­spiel­tipp, aber das ist nicht mein Ge­schmack. Wenn’s in­ter­es­siert: ich hat­te kei­nen kin­di­schen Hang zur SPD, in die SPD wur­de ich »hin­ein ge­bo­ren«. Mein Va­ter war Ar­bei­ter, und hielt nichts von der Kir­che. Trotz ge­rin­ger Bil­dung hat er sich für Po­li­tik in­ter­es­siert. Er war ein auf­ge­reg­ter, im­grun­de aber mo­de­ra­ter Mensch, was blieb da an­de­res als die SPD?! Aus die­ser mei­ner po­li­ti­schen Kind­heit ha­be ich ei­ne der wich­tig­sten Lek­tio­nen über­haupt mit auf den Weg ge­nom­men: Po­li­tik be­deu­tet nicht pri­mär Macht und Stra­te­gie, Po­li­tik be­deu­tet Teil­ha­be per se. Po­li­tik ist ein Art und Wei­se, am ge­sell­schaft­li­chen Le­ben teil­zu­neh­men. Es ent­springt ei­nem vi­ta­len In­ter­es­se, dem die Zwän­ge der Macht nur auf­ge­tra­gen wer­den. Es gibt ein In­ter­es­se an Po­li­tik, das den Fall­stricken der Macht vor­aus­geht. »Al­le wol­len re­gie­ren«, aber nicht um der Macht will­len, son­dern weil das Re­gie­ren ei­ne Fra­ge der Zu­ge­hö­rig­keit ist. Wer nicht (mehr) an der Po­li­tik teil­nimmt, der weiß nicht, wo er hin­ge­hört. »Welt­bür­ger«, »Frei­geist«, »Pa­zi­fist«, »In­tel­lek­tu­el­ler«, etc. sind ei­ni­ge gut ge­tarn­te Be­zeich­nun­gen für die Un­fä­hig­keit, ei­ne per­sön­li­che Zu­ord­nung zu fin­den. Die Fra­ge, wo man NICHT hin­ge­hört, wen man nicht lei­den kann, ist m.A.n. ob­so­let. Die Ne­ga­ti­vi­tät ist ein Trug­bild in­ner­halb des Po­li­ti­schen.

  10. Der Ort für die Ar­bei­ter in der BRD war sei­ner­zeit in der Tat die SPD. Ob das nun gut oder schlecht war, dar­über kann man lan­ge dis­ku­tie­ren. Ziel der So­zi­al­de­mo­kra­tie war es schon lan­ge nicht mehr, seit je­nem Go­tha­er Pro­gramm im Grun­de, die­se Ord­nung um­zu­sto­ßen, son­dern teil­zu­ha­ben und wie der Groß­bür­ger zu sein, der der Ar­bei­ter nie war und der er nie sein wird. Ich hal­te al­ler­dings die­se Teil­ha­be so­wie die Idee der Re­for­ma­ti­on für ei­ne Il­lu­si­on.

    Ich kann Ih­re Po­si­ti­on zwar ver­ste­hen und nach­voll­zie­hen, die sich an ei­nem be­stimm­ten Pro­ze­de­re des Po­li­ti­schen ori­en­tiert. Es ist dies je­doch nicht die mei­ne. Ih­re Be­grün­dung des Po­li­ti­schen über­zeugt mich zu­dem nicht. Wenn man das in die­ser Wei­se macht und im Dua­lis­mus drinnen/draußen als Form der Teil­nah­me und ver­bleibt, dann müß­te ich für die DDR und de­ren Sy­stem vo­tie­ren, um wie­der drin­nen zu sein. Im an­de­ren Drin­nen. (Das tue ich nicht, um es da­zu zu sa­gen.) Die BRD samt der Par­tei­en­po­li­tik ist und war mein Land nicht, und es ist ei­ne Ge­sell­schaft nicht die mei­ne, in der die An­eig­nung von Ar­beit durch an­de­re er­folgt. Wenn­gleich ich al­ler­dings Mit­glied in ei­ner Par­tei bin. Die heißt frei­lich sehr schlicht: näm­lich nur DIE PARTEI.

    Po­li­tik ist ei­ne Art, am ge­sell­schaft­li­chen Le­ben teil­zu­neh­men, in der Tat. Aber das geht eben­falls als Pro­test und Wi­der­stand, die sich in der ei­nen oder an­de­ren Form auf die Stra­ße oder sonst­wo­hin tra­gen und im Sin­ne der Ver­wei­ge­rung. Es geht auch, in dem man die Ar­beit der Theo­rie lei­stet; im Sin­ne der be­stimm­ten Ne­ga­ti­on. Ne­ga­ti­on ist ja nie ab­strakt, und in­so­fern nie drau­ßen, son­dern sie steht in ei­nem Ver­hält­nis zur Sa­che. Mir geht es auch nicht um das ach so wohl­fei­le Po­li­ti­ker-Bas­hing: „Al­les nur Kar­rie­ri­sten, macht­geil und kor­rupt“. Das hal­te ich in die­ser Pau­scha­li­sie­rung für falsch. So­wohl Wolf­gang Bos­bach als auch Jür­gen Trit­tin mei­nen es ver­mut­lich ernst und ma­chen die­se Ar­beit aus Über­zeu­gung. In­so­fern geht es mir bei den Ab­nei­gun­gen nicht um per­sön­li­che Prä­fe­ren­zen, son­dern um sach­li­che.

    Na­tür­lich gibt es kein „drau­ßen“. Al­ler­dings füh­le ich mich nicht ge­hal­ten, die­sen Staat, die­ses Sy­stem zu ver­tei­di­gen. Wo­zu? Das ma­chen ja an­de­re be­reits. Ich wei­ge­re mich al­ler­dings und in der Tat mich zu­ord­nen zu las­sen. Da lie­ge ich dann, um es an zwei Na­men fest­zu­ma­chen, sehr na­he an Jac­ques Der­ri­da und Fou­cault. Es ist ja ge­ra­de die­ser Iden­ti­täts­zwang, A oder B sa­gen zu müs­sen, der Den­ken zu­rich­tet und es in nur die ei­ne Di­men­si­on lenkt. Als Pa­zi­fist und als Welt­bür­ger ver­ste­he ich mich nicht. Letz­te­res ist für mich eher ei­ne tou­ri­sti­sche oder äs­the­ti­sche Ka­te­go­rie.

  11. @die_kalte_Sophie

    »Po­li­tik be­deu­tet nicht pri­mär Macht und Stra­te­gie, Po­li­tik be­deu­tet Teil­ha­be per se. Po­li­tik ist ein Art und Wei­se, am ge­sell­schaft­li­chen Le­ben teil­zu­neh­men. Es ent­springt ei­nem vi­ta­len In­ter­es­se, dem die Zwän­ge der Macht nur auf­ge­tra­gen wer­den. Es gibt ein In­ter­es­se an Po­li­tik, das den Fall­stricken der Macht vor­aus­geht. »Al­le wol­len re­gie­ren«, aber nicht um der Macht will­len, son­dern weil das Re­gie­ren ei­ne Fra­ge der Zu­ge­hö­rig­keit ist.«

    Schön for­mu­liert und zu­tref­fend (wie ich mei­ne).

  12. @bersarin
    Wie der Groß­bür­ger? Ich wür­de in­so­fern zu­stim­men und sa­gen dass ein Teil der klas­si­schen Ar­bei­ter­schaft tat­säch­lich zu ei­ni­gem Wohl­stand ge­kom­men ist und viel­leicht ge­ra­de da­durch bür­ger­li­cher ge­wor­den ist (et­wa durch den Be­sitz von Haus, Au­to und/oder Grund). Im Sin­ne des ma­te­ri­el­len Ver­spre­chens das ja auch in der So­zi­al­de­mo­kra­tie steckt, wur­de da durch­aus et­was er­füllt (mitt­ler­wei­le kippt das wie­der); die An­hän­ger­schaft wur­de da­durch aber he­te­ro­ge­ner, sie ist teil­wei­se weg­ge­bro­chen, mög­li­cher Wei­se auch auf Grund an­de­rer Fak­to­ren und zu­gleich hat sich die So­zi­al­de­mo­kra­tie (zu ih­ren ei­ge­nen Un­gun­sten) ge­wan­delt (Blair, Schrö­der, u.a.).

    Viel­leicht muss man noch über die Teil­ha­be hin­aus ge­hen und for­mu­lie­ren, dass Po­li­tik letzt­lich auch von ei­nem In­ter­es­se am an­de­ren, an der Ge­sell­schaft, der Ge­mein­schaft, be­deu­tet (wenn auch nicht zwin­gend im Sinn von Ge­rech­tig­keit). So wür­de ich die Zu­ge­hö­rig­keit le­sen wol­len und dort fin­den die »Ver­wei­ge­rer« und die »Teil­ha­ber« mög­li­cher Wei­se zu­sam­men. Das wä­re dann in der Tat kein Drau­ßen.

    Den Iden­ti­täts­zwang »fürch­te« ich auch, weil er sich letzt­lich ge­gen je­de Form von Kri­tik wen­det.

    [War­um es kei­ne ab­strak­te Ne­ga­ti­on ge­ben soll, ist mir al­ler­dings un­ver­ständ­lich.]

  13. @ Me­tep­si­lo­n­e­ma
    Mit der Ori­en­tie­rung am Groß­bür­ger (bzw. Bour­geois) mein­te ich ins­be­son­de­re, daß sich Ar­bei­ter an ei­nem be­stimm­ten so­zia­len und kul­tu­rel­len Ha­bi­tus ori­en­tier­ten, der im Grun­de nicht der ih­re ist. Nicht al­le frei­lich, denn es gab eben­so ei­nen Pro­le­ten­kult, ei­ne pro­le­ta­ri­sche Kul­tur, die der des Bür­gers et­was ent­ge­gen­set­zen woll­te. Die­se Par­ti­zi­pa­ti­on zeig­te sich aber ins­be­son­de­re im Be­reich des Kul­tu­rel­len. Stich­wort hier­zu ist das Bil­dungs­ide­al und die Le­se­kul­tur. Vom Heu­te her könn­te man mit leicht zy­ni­schem Un­ter­ton for­mu­lie­ren, daß die ge­wünsch­te In­te­gra­ti­on des Ar­bei­ters samt sei­ner Uto­pien und Träu­me voll­stän­dig glück­te und die wi­der­stän­di­gen Po­ten­tia­le ab­grub. Als ei­ne der we­ni­gen po­li­ti­schen Kräf­te des 19. (und dann des 20.) Jh­ds hat je­ne SPD des Go­tha­er Pro­gramms ihr Ziel er­reicht.

    Na­tür­lich kann man ei­ne Sa­che ne­gie­ren, oh­ne an de­ren Stel­le et­was Po­si­ti­ves set­zen zu kön­nen oder zu wol­len. Das mein­te ich je­doch nicht. Be­stimmt ist die Ne­ga­ti­on je­doch in­so­fern, als sie im­mer auf ein Et­was be­zo­gen ist. Man kann das dann in Ab­wand­lung ei­nes Spi­no­za-Sat­zes schrei­ben: Om­nis ne­ga­tio est de­ter­mi­na­tio.

    Der Be­griff der Ge­mein­schaft ist si­cher­lich in­ter­es­sant, ins­be­son­de­re dann, wenn man aus sol­cher Ge­mein­schaft den Zwang zur Iden­ti­tät fern­hiel­te und dar­in gleich­sam ein Nicht-Iden­ti­sches, nicht Gleich­ma­chen­des als wir­kend sieht. Doch bleibt das ei­ne uto­pi­sche oder kon­tra­fak­ti­sche An­nah­me. Zu­mal je­de ge­gen­wär­ti­ge Ge­mein­schaft, wenn man sie im Sin­ne des Po­li­ti­schen nimmt, an ei­ner ab­so­lu­ten Viel­falt zer­bre­chen müß­te. Ge­mein­schaft oh­ne Freun­d/­Feind-Un­ter­schei­dun­gen wä­re ein Ide­al. Ist aber an­ge­sichts rea­ler Ant­ago­nis­men schwie­rig zu rea­li­sie­ren. Kei­ne Ge­mein­schaft kann und wird ih­re ei­ge­nen Fein­de dul­den. Zen­tra­ler im Hin­blick auf Ge­sell­schaft samt de­ren Ana­ly­se bleibt für mich je­doch der Be­griff des Wi­der­spruchs. Dies kann man ins­be­son­de­re am Aspekt der Frei­heit sicht­bar ma­chen. Eben­so am An­lie­gen der Ar­bei­ter samt de­ren In­te­gra­ti­on.

    Der Po­li­tik­be­griff hängt si­cher­lich stark an dem des Prag­ma­ti­schen. Den­noch bleibt ei­ne em­pha­tisch ver­stan­de­ne Wei­se von Po­li­tik mehr als nur die Kunst des Mög­li­chen. (Ich bin kein Re­vo­lu­ti­ons­theo­re­ti­ker, aber es wä­ren in ei­nem wei­ter ge­faß­ten Po­li­tik­be­griff auch die­se Kon­zep­te mit­zu­den­ken. Die Ab­schaf­fung ei­ner be­stimm­ten Po­li­tik, und zwar nicht bloß durch Wah­len. Denn Par­tei­en, die sich in der Par­tei­en­de­mo­kra­tie be­we­gen wer­den im­mer die Ten­denz be­sit­zen sich ein­an­der an­zu­nä­hern, die Un­ter­schie­de wer­den ein­ge­schlif­fen, um am Spiel teil­neh­men zu dür­fen. Be­stes Bei­spiel da­für ist DIE LINKE. In­so­fern be­steht die Ge­fahr, daß sich im Wech­sel der Par­tei­en in der Po­li­tik nichts We­sent­li­ches än­dert, aus­ge­nom­men viel­leicht ein paar Stell­schrau­ben hier und ein paar da. Wenn­gleich: das was die SPD und die Grü­nen ab Re­gie­rungs­an­tritt 1998 lei­ste­ten, hät­te sich kei­ne kon­ser­va­ti­ve Re­gie­rung je ge­traut. Hier fin­den wir ei­nen mas­si­ven Ein­schnitt in Po­li­tik. Ver­gleich­bar mit dem Wech­sel 1969)

    Was die So­zi­al­de­mo­kra­tie der 50er, 60er Jah­re be­trifft, wür­de ich nicht nur das ma­te­ri­el­le Ver­spre­chen nen­nen, son­dern eben­falls das des mög­li­chen so­zia­len Auf­stiegs und daß Kin­der aus Ar­bei­ter- und An­ge­stell­ten­haus­hal­ten Gym­na­si­en und Uni­ver­si­tä­ten be­su­chen konn­ten. Dies hat­te En­de der 60er, An­fang der 70er Jah­re in der BRD ei­nen mas­si­ven Schub aus­ge­löst.

  14. Ja, »Po­li­tik ist Teil­ha­be« und Macht ist bö­se. Sor­ry, aber das klingt mir ein biss­chen zu sehr nach Poe­sie­al­bum und ver­muff­ter so­zia­li­sti­scher und/oder so­zi­al­de­mo­kra­ti­scher Knei­pe. Ich wünsch­te, ich könn­te dem Clown Son­ne­born mit sei­ner lä­cher­li­chen PARTEI et­was ab­ge­win­nen. Aber am En­de ist er nur der Pa­ra­sit, der auf Ko­sten ei­nes weit­ge­hend funk­tio­nie­ren­den po­li­ti­schen Ge­mein­we­sens sei­ne Späss­chen ma­chen darf. Soll er ma­chen – aber mit Po­li­tik hat da so­viel zu tun als wol­le man ein Gum­mi­boot mit ei­nem Oze­an­damp­fer ver­glei­chen.

    Teil­ha­be muss ab ei­ner ge­wis­sen Grö­sse der Ago­ra struk­tu­riert und in­sti­tu­tio­na­li­siert wer­den. Macht be­deu­tet in ei­ner De­mo­kra­tie Hier­ar­chie und Ein­fluss – aber auf Zeit. Und ich bin auch nicht da­mit ein­ver­stan­den, dass es Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te oder Funk­ti­ons­trä­ger in po­li­ti­schen Par­tei­en gibt, die seit 20, 30 oder 40 Jah­ren auf ih­ren Stüh­len sit­zen – mal da mal dort. Aber die Leu­te wer­den nun mal ge­wählt.

    Die idea­li­sti­schen Vor­stel­lun­gen von Teil­ha­be an po­li­ti­schen Wil­lens­pro­zes­sen schei­tert zu oft schon bei der klein­sten Ab­stim­mung auf Stadt- oder Kreis­ebe­ne an der Be­tei­li­gung. Ich konn­te das in den 1990er Jah­ren in Düs­sel­dorf fest­stel­len, als die Vor­ha­ben rei­hen­wei­se dar­an schei­ter­ten. Es ist eben in­ter­es­san­ter, den Nah­ost­kon­flikt bei ei­nem Bier zu lö­sen statt das Für und Wi­der der In­nen­stadt­ge­stal­tung mit zu be­stim­men.

    Die deut­sche So­zi­al­de­mo­kra­tie war noch in den 1950er Jah­ren das, was man heu­te so­zia­li­stisch nen­nen wür­de. Mit dem Go­des­ber­ger Pro­gramm von 1959 kam die An­nä­he­rung an das, was man da­mals (wie heu­te) das po­li­ti­sche Estab­lish­ment nennt. Zehn Jah­re spä­ter war Brandt Kanz­ler. Man le­se im Brief­wech­sel Grass/Brandt, wie alar­mi­stisch Grass vor al­lem die Gro­ße Ko­ali­ti­on von 1966 pro­gno­sti­zier­te und den »Ver­rat« der SPD wit­ter­te, mit der Uni­on in ei­ne Ko­ali­ti­on zu ge­hen. Die­se Art des po­li­ti­schen Ri­go­ris­mus wi­der­sprach fun­da­men­tal der Le­bens­er­fah­rung ei­nes WIl­ly Brandt, der am ei­ge­nen Leib er­le­ben konn­te, wie da­durch die Wei­ma­rer Re­pu­blik mit de­mon­tiert wur­de.

    Nur ein­mal hat in Deutsch­land de­zi­diert die So­zi­al­de­mo­kra­tie bun­des­weit Wah­len ge­won­nen: 1972. Al­les an­de­re wa­ren Ver­hin­de­rungs­wah­len (1976 [Kohl – da­mals half noch die jour­na­li­sti­sche Maß­nah­me, Kohl als Depp dar­zu­stel­len], 1980 [Strauß], 1998 [Kohl – 16 Jah­re wa­ren wirk­lich zu­viel], 2002 [Stoi­ber]) oder nur Glück (1969 [in­dem die 4,3% NPD-Stim­men we­gen der 5%-Hürde un­ter den Tisch fie­len – wel­ches Glück!]). Ver­höhnt wur­den So­zi­al­de­mo­kra­ten üb­ri­gens von al­len Sei­ten – so­wohl von den Rech­ten in der Wei­ma­rer Re­pu­blik (im Ver­ein mit den Kom­mu­ni­sten) als auch in der an­geb­lich zu ver­tei­di­gen­den DDR.

    Auch Stein­brück möch­te, dass »Kin­der aus Ar­bei­ter- und An­ge­stell­ten­haus­hal­ten Gym­na­si­en und Uni­ver­si­tä­ten be­su­chen« kön­nen. Das kann die Po­li­tik si­cher­lich er­mög­li­chen. Aber eben nur zum Teil. Denn es gibt ja auch noch et­was wie El­tern, die oft ge­nug ih­ren Kin­dern die­se Mög­lich­kei­ten über­haupt nicht na­he brin­gen. Merk­wür­dig, wie die Ein­flüs­se aus der Fa­mi­lie kaum noch be­rück­sich­tigt wer­den. In ei­nem Haus­halt, in dem Bü­cher ge­le­sen wer­den und nicht nur die »Bild« ist die Wahr­schein­lich­keit, dass sich hier Ab­itur und Uni-Ab­schlüs­se ein­stel­len, ein­fach hö­her. Das kann man mit Geld nicht be­zah­len. Und da kann auch die Po­li­tik we­nig ma­chen, wenn Pa­pa par­tout die SZ nicht le­sen möch­te.

  15. Zwei An­mer­kun­gen noch zu den al­le­samt fas­zi­nie­ren­den Kom­men­ta­ren.
    Zu #7: Die Ur­form des Wi­der­stands ist durch­aus ei­ne Form des Po­li­ti­schen. Das woll­te ich un­be­dingt an­er­ken­nen. Man muss sich ei­ner be­stimm­ten (west­li­chen) Ge­sell­schaft nicht zu­ord­nen, ge­nau im Sin­ne der »Ver­tei­di­gung«, wie auch die Vor­le­sung von Fou­cault lau­tet. Da­mit ist so­gar ei­ne exi­sten­zi­el­le Al­ter­na­ti­ve vor­ge­zeich­net, die für den We­sten grund­le­gend ist. Die In­si­der und die Out­si­der des Po­li­ti­schen. Links und Rechts ist si­cher mehr als »un­ter­schied­li­che Mei­nun­gen«, das spü­ren wir al­le.
    Zu #13: Da muss ich fast po­le­mi­sie­ren. Ein biss­chen »bö­se« ist die Macht schon, denn wenn man die Idea­le mit den Re­al­for­men ver­gleicht, und zwar bis ins De­tail der Bür­ger­mei­ster und Kreis­rä­te, dann merkt man, dass et­was nicht stimmt. Nietz­sche wür­de sa­gen: »Von der De­mo­kra­tie wird im­mer noch zu gut ge­spro­chen...«. Na­tür­lich wis­sen al­le, dass der All­tag den Idea­len nicht ge­wach­sen ist, aber er­le­ben wir nicht im Mo­ment ei­ne rie­si­ge idea­li­sti­sche Ver­dun­ke­lung, ge­ra­de weil sich der Öf­fent­li­che Dis­kurs nicht an der Rea­li­tät ori­en­tie­ren muss?! Dass die De­mo­kra­tie kei­ne Jung­frau mehr ist, und or­dent­lich Schmin­ke braucht, –ge­schenkt! Aber im Zeit­al­ter der Me­di­en, wird da die De­mo­kra­tie nicht end­gül­tig zur Lü­ge?!
    Will as­gen: die Struk­tu­ren las­sen sich nicht be­rei­ni­gen im mo­ra­li­schen Sin­ne, aber in­zwi­schen ha­ben wir zwei »re­la­tiv un­ab­hän­gi­ge« Mal­fak­to­ren, die Po­li­tik (als Klas­se), und die Me­di­en (als Funk­ti­on). Die Jung­frau wur­de zwei­mal ge­schän­det.

  16. Nein, die So­zi­al­de­mo­kra­tie war vor 1959 mit­nich­ten so­zia­li­stisch. Ge­nau­so­gut könn­te man dann die CDU we­gen ih­res Ah­le­ner Pro­gramms für so­zia­li­stisch set­zen.

    Den­noch ist es im gan­zen ei­ne für die SPD er­freu­li­che Bi­lanz. Mehr kann man für und vor al­lem von die­ser Par­tei nicht er­war­ten. (Don Al­phon­so brach­te auf sei­nem Blog „Re­bel­len oh­ne Markt“ am 15. April ei­ne herr­li­che Po­le­mik zur ge­gen­wär­ti­gen SPD. Lei­der aus der Po­si­ti­on des ent­täusch­ten So­zi­al­de­mo­kra­ten) Und wie ge­sagt: Die Um­ver­tei­lung von Geld bzw. von Wer­ten in der BRD: das hät­te vor 15 Jah­ren kei­ne an­de­re kon­ser­va­ti­ve Par­tei so ge­ni­al, frech und un­ver­hoh­len durch­zie­hen kön­nen wie die SPD. Tei­le der Ge­werk­schaf­ten wä­ren Sturm ge­lau­fen, wag­ten dies CDU und FDP. Das gan­ze ka­schiert man dann noch, um ir­gend­wie „links“ zu wir­ken, mit dem Kampf ge­gen Rechts­ra­di­ka­le als „Auf­stand der An­stän­di­gen“, zieht das als mo­ra­li­sche Pro­pa­gan­da auf und ab geht da­nach die Um­ver­tei­lungs­lu­zie von „Ge­nos­se der Bos­se“. Macht- und me­di­en­po­li­tisch ein Mei­ster­stück: so­wohl die­ser „Auf­stand der An­stän­di­gen“ wie auch die vor­ge­täusch­te und ge­lo­ge­ne Ab­sa­ge an den Golf­krieg. Die­ses Kal­kül der Macht kann man dann maschmann­mä­ßig noch ver­tie­fen hin zur pri­va­ten Ren­ten­vor­sor­ge. Die­sel­ben SPD-Po­li­ti­ker, die uns er­zähl­ten, die Ren­ten sei­en nicht mehr si­cher und es müs­se nun auch pri­vat vor­ge­sorgt wer­den, sind die, wel­che in ge­nau den Un­ter­neh­men sa­ßen, die pri­vat­spar­mä­ßi­ge Ren­ten­ver­si­che­run­gen uns an­bo­ten. Selt­sam? Nein! (Ich ver­gaß bis­her den klei­nen Bru­der GRÜNE zu nen­nen. Was ich hier ger­ne nach­ho­le.)

    Nein, Macht ist nicht per se bö­se. Im Ge­gen­teil. Oh­ne Macht und de­ren Aus­übung kei­ne Po­li­tik und vor al­lem: kei­ne Um­wäl­zung. Wer je­doch mit ei­nem funk­tio­na­len Macht­be­griff ar­gu­men­tiert, muß es sich dann ge­fal­len las­sen, daß auch die Ge­gen­sei­te die­sen Be­griff in glei­cher Wei­se ge­braucht. Gut se­hen wir das ge­gen­wär­tig an den Dis­kur­sen um die Ukrai­ne und um Ruß­land. Im Sin­ne ei­nes funk­tio­nie­ren­den Macht­be­grif­fes war die Be­set­zung oder Heim­ho­lung der Krim voll­stän­dig le­gi­tim. Macht sticht Völ­ker­recht. Glei­ches kann man üb­ri­gens vom Bau der Mau­er zwi­schen BRD und DDR sa­gen. Es wur­de da viel la­men­tiert, weil Men­schen zu To­de ka­men. Macht­po­li­tisch und öko­no­misch war der Bau not­wen­dig.

    Sehr viel in­ter­es­san­ter als die Macht­kon­stel­la­tio­nen in der Po­li­tik schei­nen mir je­doch die der Wirt­schaft zu sein und wie sich Ar­beit und Ka­pi­tal aus­prä­gen. Der Macht­be­griff hängt in­so­fern an dem der Öko­no­mie. Än­dern wird man dies al­les nur schwer. In­so­fern ist auch DIE PARTEI nur harm­lo­ses Öl im Ge­trie­be. Aber ana­ly­sie­ren kann man die­se Din­ge und auf den Be­griff brin­gen. Am Knei­pen­tisch beim Bier wer­den frei­lich die­se Fra­gen in der Tat nicht ge­löst. In­ter­es­sant bleibt aber den­noch, wes­halb das hüb­sche Poe­sie­al­bum samt ver­rauch­ter So­zi­ka­schem­me so sehr de­nun­ziert wer­den. Wer­fen dann al­ler­dings Men­schen das Poe­sie­al­bum weg und wen­den and­re Me­tho­den an, sind das Kla­gen und vor al­lem die Em­pö­rung auf ein­mal groß.

    Der Bil­dungs­un­wil­li­ge wird auch un­ter an­de­ren öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­sen nicht plötz­lich an die Uni­ver­si­tät stre­ben oder ge­halt­vol­le Zei­tun­gen le­sen. (Wel­che ei­gent­lich?). Muß er auch nicht. Ein Stu­di­um ist kein Selbst­zweck. Wor­um es geht, ist die Gleich­heit von Chan­cen: daß je­der die Mög­lich­keit hat, wenn er oder sie wol­len. Die­se Mög­lich­kei­ten muß man not­falls er­zwin­gen. (Macht­be­griff eben). Not­falls auch ge­gen die In­ter­es­sen und Vor­be­hal­te der Be­trof­fe­nen.

  17. Ich hal­te es für ei­nes der größ­ten Mär­chen. dass es in Deutsch­land ei­ne un­ter­ent­wickel­te Chan­cen­gleich­heit gibt (Stein­brück plap­pert das auch ganz lieb nach in sei­nem Buch). Die­se mei­ne An­sicht be­kom­me ich im­mer wie­der von Leu­ten be­stä­tigt, die hier als Mi­gran­ten oder Aus­sied­ler an­ge­kom­men sind (zum Teil mit null Sprach­kennt­nis­sen), de­ren Kin­der je­doch Ab­itur ha­ben und ent­we­der stu­die­ren oder gu­te Be­ru­fe aus­üben. Der Staat kann hier we­ni­ger er­zwin­gen, als man denkt.

  18. Da muss ich zu­stim­men. Die »Chan­cen­gleich­heit« ist ein nor­ma­ti­ver Be­griff, bei dem es we­nig Sinn macht, das Ge­gen­teil her­aus­zu­keh­ren. Die sta­ti­sti­sche Wahr­schein­lich­keit, dass ein Ar­bei­ter­kind pro­mo­viert ist zwar äu­ßerst ge­ring, aber das heißt nicht, dass es we­sent­li­che struk­tu­rel­le Hin­der­nis­se gibt. Die Grün­de sind im Mi­kro-So­zi­al­ge­fü­ge ver­an­kert. Der Staat kann da nix ma­chen, au­ßer er setzt auf »Un­gleich­heit«, und för­dert die Be­nach­tei­lig­ten ein­sei­tig.
    @ be­sa­rin Die in­di­vi­du­el­le Ent­fal­tung ist ja nur »zur Hälf­te« an die be­ruf­li­che Kar­rie­re ge­kop­pelt. Du ar­gu­men­tierst ei­gen­tüm­lich hilf­los. Uni­ver­si­tät, ja, –aber bit­te nur als Chan­ce. Geist schär­fen bis zur ana­ly­ti­schen Mei­ster­schaft, ja, –aber wel­che Zei­tun­gen kann man dann noch le­sen... Hat al­les sei­ne Schat­ten­sei­ten, nicht wahr?! Das ist die Be­schrei­bung der Tücke exi­sten­zi­el­ler Plä­ne, und kein Struk­tur­pro­blem.

  19. @Gregor Keu­sch­nig
    Chan­cen­gleich­heit ist ein zu kom­ple­xer Be­griff als daß man ihn in drei Sät­zen ab­han­deln kann. Na­tür­lich gibt es in der BRD seit den 50er, 60er Jah­ren Fort­schrit­te. Mit Rah­men­be­din­gun­gen mein­te ich nicht, daß al­les staat­lich ali­men­tiert oder er­zwun­gen wird. Chan­cen­gleich­heit hat eben­so mit mo­ne­tä­ren Aspek­ten zu tun. Ob­jek­tiv und für al­le gleich kann es in die­ser Ge­sell­schaft nicht lau­fen, wenn der ei­ne mit 1.000.000 EUR und der an­de­re mit Hart­zi­gen 4 ins Ren­nen steigt und wenn bei den Hart­zern dann al­le Mo­na­te lang auch noch die Un­ter­ho­sen­schrank­schnüff­ler-Staats­büt­tel auf der Mat­te ste­hen. Das muß mir dann mal je­mand sehr ge­nau und haar­klein er­klä­ren, wo da die Gleich­heit von Chan­cen lie­gen soll. Ich bin da ganz er­geb­nis­of­fen.

    Bis zu ei­nem be­stimm­ten Grad gibt es für vie­le, die wol­len (nicht für al­le) die Mög­lich­kei­ten Ab­itur zu ma­chen und ei­ne Uni­ver­si­tät zu be­su­chen. Den­noch liegt in den Sta­ti­sti­ken der An­teil von mi­gran­tisch ge­präg­ten Kin­dern aus­ge­spro­chen ge­ring. Das sagt zu­nächst ein­mal noch nichts aus, weil das rein quan­ti­fi­zie­ren­de Sta­ti­sti­ken sind. Denn ge­nau­so kann es sein, daß die In­sti­tu­tio­nen Mög­lich­kei­ten be­reit­stel­len, die je­doch nicht ge­nutzt wer­den.

    Ab ei­ner be­stimm­ten Stu­fe je­doch ist Schluß mit den Mög­lich­kei­ten. Wer sich mal in den in­ne­ren Krei­sen von Ma­na­gern, Ju­ri­sten, Me­di­en­men­schen der obe­ren Eta­gen be­wegt hat, der wird schnell mer­ken, ob er dort et­was zu su­chen hat oder nicht. Das Stich­wort ist hier: Stall­ge­ruch. Den be­kommt man nicht im Mär­ki­schen Vier­tel oder in Neu­kölln. In­so­fern blei­ben all die­se Bil­dungs­pro­ble­me Schein­pro­ble­me.

    @ die_kalte_Sophie
    Bei je­dem ge­sell­schaft­li­chen Be­griff, ins­be­son­de­re bei den nor­ma­ti­ven, läßt sich das Ge­gen­teil her­aus­keh­ren. Zu­mal Chan­cen­gleich­heit gar nicht denk­bar wä­re, gä­be es nicht eben­falls ei­ne Chan­cen­un­gleich­heit. Nichts ist be­grif­fen, des­sen Wahr­heit oder Un­wahr­heit nicht be­grif­fen ist.

    Na­tür­lich ist in­di­vi­du­el­le Ent­fal­tung nicht pri­mär an die be­ruf­li­che Kar­rie­re ge­kop­pelt. Das ha­be ich nir­gends be­haup­tet. Bil­dung ist ei­ne An­ge­le­gen­heit, die ich denn doch um­fas­sen­der kon­zi­piert wis­sen möch­te, und zu­gleich ist Bil­dung eben auch nicht bloß, wie Her­bert Schnä­del­bach im­mer zu sa­gen pfleg­te, Höl­der­lin und Block­flö­te.

    So ist es: Es hat al­les sei­ne Schat­ten­sei­ten. Zu­mal wenn man zu de­nen ge­hört, die nicht vor­be­halt­los al­les das, was man ih­nen vor­setzt, af­fir­mie­ren. Wie ge­schrie­ben: ich se­he mich nicht ge­hal­ten, die­ses Sy­stem zu ver­tei­di­gen. Wer vor lau­ter in­di­vi­du­el­len Plä­nen die Struk­tu­ren aus den Au­gen ver­liert, mag das tun. Das kann bei ver­schie­de­nen Men­schen ganz ver­schie­de­ne Grün­de ha­ben. Auch die­se Grün­de und die In­ter­es­se­la­gen las­sen sich be­nen­nen.

  20. Nie­mand muss das Sy­stem ver­tei­di­gen... Kann sich je­der aus­su­chen. Sag’ ich ja: die exi­sten­zi­el­len Al­ter­na­ti­ven lie­gen schon vor. Mir fällt es bis heu­te schwer, Klug­heit vor Po­le­mik wal­ten zu las­sen. Ich werd’ noch wei­ter üben.

  21. @bersarin, # 12
    Nicht ihr Ha­bi­tus: Kann, ja soll man das so for­mu­lie­ren? Ich ha­be für mei­nen Teil Scheu da­vor das ir­gend­je­man­dem zu- oder ab­zu­spre­chen (das ge­hört durch­aus zu den Pro­ble­men über die ge­ra­de dis­ku­tiert wird).

    Wenn ich et­wa an Lieb­knecht den­ke, hat man da­mals (Go­tha­er Pro­gramm) an­de­ren Din­gen (zu­nächst) den Vor­zug ge­ben wol­len; mir scheint es der Ver­such ei­ner Sy­stem­än­de­rung zu sein, oh­ne das Sy­stem durch ei­ne Re­vo­lu­ti­on zer­stö­ren zu wol­len (den Ver­such fän­de ich nicht il­le­gi­tim, weil er auf Ge­walt ver­zich­tet und Re­vo­lu­tio­nen fast im­mer von skru­pel­lo­sen, ge­schick­ten Dem­ago­gen in­stru­men­ta­li­siert wer­den).

    Ge­mein­schaft ist ein Be­griff der et­was Ge­mein­sa­mes, Ge­teil­tes meint, er schließt ein und aus zur sel­ben Zeit; das setzt ei­nen prin­zi­pi­el­len Rah­men, der dann kon­kret und prak­tisch zu for­mu­lie­ren wä­re, hin­sicht­lich des Fein­des wie des Nicht­iden­ti­schen. Fein­de, die ja ei­ne kla­re Iden­ti­tät be­sit­zen, kann man to­le­rie­ren, wenn sie we­der mäch­tig wer­den, noch eben­sol­che Mit­tel be­sit­zen (au­ßer man möch­te die ei­ge­ne Exi­stenz auf’s Spiel set­zen); mit dem Nicht­iden­ti­schen ist es an­ders: Es löst zwar teil­wei­se feind­se­li­ge Re­ak­tio­nen aus, ist das aber ei­gent­lich nicht (es ist das an­de­re, un­de­fi­nier­ba­re das eben­so exi­stie­ren möch­te, das ist auch ei­ne Fra­ge von »ge­sell­schaft­li­cher Acht­sam­keit«, wo­bei bei­de viel­leicht so­gar ver­schmel­zen kön­nen).

    Die Ana­ly­se der Ge­sell­schaft hängt m.E. we­ni­ger am Wi­der­spruch, im Um­gang mit ihm zeigt sich eher de­ren Be­find­lich­keit oder Tat­säch­lich­keit.

    Par­tei­en nä­hern sich ein­an­der dann an, wenn es für das Er­rei­chen von Mehr­hei­ten not­wen­dig er­scheint (oder ist; die CDU ist da ein gu­tes Bei­spiel). Ich wür­de un­se­ren de­mo­kra­ti­schen Rah­men nicht auf­ge­ben wol­len, je­den­falls nicht oh­ne die Al­ter­na­ti­ve zu ken­nen, weil er (doch und trotz al­lem) ei­ne Er­run­gen­schaft dar­stellt (ich bin kein gro­ßer Freund von Par­tei­en, kann ih­nen aber ei­ne ge­wis­se Not­wen­dig­keit nicht ab­spre­chen).

    [Die ma­te­ri­el­len Er­run­gen­schaf­ten schie­nen mir be­son­ders prä­gend für be­stimm­te Selbst­ver­ständ­nis­se, des­we­gen ha­be ich sie her­aus­ge­grif­fen.]

    zu # 15 noch: Bil­dung kann man nicht er­zwin­gen, die muss man ein Stück weit wol­len (die An­wen­dung von Macht als Mit­tel der Durch­set­zung wird im­mer kri­ti­scher de­sto mehr sie in ei­ner Hand lo­ka­li­siert ist).

    Des Wei­te­ren muss man zwi­schen Bil­dung und Aus­bil­dung dif­fe­ren­zie­ren (ich be­haup­te, dass man kei­ne Uni­ver­si­tät be­su­chen muss, um ge­bil­det zu sein und dass es vie­le Ab­sol­ven­ten von Uni­ver­si­tä­ten nicht sind; man darf nicht ver­ges­sen, dass Uni­ver­si­tä­ten viel­fach auch Aus­bil­dung ver­mit­teln und es zu­dem stark dar­auf an­kommt was man stu­diert und wie man das tut; das al­les soll na­tür­lich nicht hei­ßen, dass je­man­dem die Chan­ce ver­wei­gert wer­den soll). — Bil­dung ist im Üb­ri­gen ein un­ab­schließ­ba­rer Pro­zess.

    Je hö­her man auf der Kar­rie­re­lei­ter klet­tert, de­sto ge­üb­ter muss man die dort üb­li­chen Macht‑, In­tri­gen- und In­for­ma­ti­ons­spie­le spie­len kön­nen und wol­len, auch das spielt ei­ne Rol­le (und ist of­fen­sicht­lich [oder auch nicht] ge­sell­schaft­lich ge­wollt).

    @Gregor, # 13
    Zu Teil­ha­be und Macht: Letz­te­re kor­rum­piert, des­we­gen muss man be­stimm­te Vor­keh­run­gen im po­li­ti­schen Sy­stem ein­bau­en (brau­che ich Dir nicht zu sa­gen); Macht ist nowtwen­dig um Ver­än­de­run­gen her­bei­zu­füh­ren, als Selbst­zweck da­nach zu stre­ben, hal­te ich sie für ei­ne Ver­ir­rung. Wer po­li­tisch denkt, denkt über die Ge­sell­schaft nach in der er lebt, die Ent­wick­lun­gen, die Ver­än­de­run­gen und Pro­ble­me, man stellt das In­di­vi­du­um (und sich selbst) in Be­zug zu ihr, das ist ei­ne Art gei­sti­ge In­te­gra­ti­on, ich wür­de das nicht klein­re­den wol­len (sich aus dem All­tag qua­si prak­tisch auf­zu­raf­fen und zu ei­ner lo­ka­len Ab­stim­mung zu ge­hen ist et­was an­de­res, hängt aber auch von der Be­deu­tung der An­ge­le­gen­heit ab und von den Emo­tio­nen die da­mit ver­knüpft sind; man­che An­ge­le­gen­hei­ten sind – wenn über­haupt – nur be­zirks­re­le­vant; aber ich ge­ste­he, dass mich in­ter­na­tio­na­le oder na­tio­na­le An­ge­le­gen­hei­ten mehr in­ter­es­sie­ren als lo­ka­le).

  22. Das Ge­spräch ist in­ter­es­sant, aber Klap­p­roth ver­tut zu­viel Zeit mit dem Ka­val­le­rie-Zi­tat und Stein­brück kneift, als Klap­p­roth so tut, als fehl­te den Grie­chen nichts als Ka­pi­tal – und als kön­ne man den Grie­chen hel­fen, aber ih­re Ban­ken links lie­gen las­sen. – Wür­de Grie­chen­land – in­klu­si­ve der Ban­ken – nicht seit Jahr­zehn­ten ge­stützt – von wo wür­den die be­sorg­ten Grie­chIn­nen dann mo­men­tan Mil­li­ar­den Eu­ro ab­he­ben, um sie zu bun­kern für den Fall X?