Mar­tin Mo­se­bach: Das Blut­bu­chen­fest

Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest

Mar­tin Mo­se­bach:
Das Blut­bu­chen­fest

»Das Blut­bu­chen­fest« von Mar­tin Mo­se­bach ist nicht nur ein Ro­man, son­dern auch fast schon ein Film. Man sieht die Bil­der schon vor sich: Den in­sze­nier­ten Ma­nie­ris­mus à la Pe­ter Greena­way. Mo­de­ra­tio­nen wie bei »Leo’s«. Und – das Lo­kal der Fi­gur Mer­zin­ger, in dem die ka­ri­kier­te Up­per­class-Cli­que des Ro­mans ein- und aus­geht: das »Ros­si­ni« von Hel­mut Dietl, zu­mal die »mör­de­ri­sche Fra­ge, wer mit wem schlief« auch hier nicht ganz un­wich­tig ist, ob­wohl es dann doch nicht sehr ver­wir­rend ist.

Mit Non­cha­lance wird der Le­ser in die­se Ge­sell­schaft ein­ge­führt: Da ist ein ge­wis­ser We­re­sch­ni­kow, den man sich viel­leicht als jün­ge­ren Leo­nid Bre­sch­new vor­stel­len kann; ein ziem­li­cher Auf­schnei­der (mit ei­nem nur ihm be­kann­ten klei­nen Ver­mö­gen in der Schweiz), des­sen Ruhm sich pri­mär dar­auf grün­det mit Kis­sin­ger oder Bou­tros-Gha­li zu te­le­pho­nie­ren und, fast noch interes­santer für den Zir­kel: er ist der of­fi­zi­el­le Le­bens­part­ner der schö­nen Ma­ru­scha, de­ren Cha­rak­te­ri­sie­rung als Edel­pro­sti­tu­ier­te un­ter­kom­plex und ein biss­chen spie­ßig wä­re. All­zu ver­ständ­lich ist doch, dass sie für ih­re Mai­so­nette-Woh­nung län­ger schon die Miet­zahlungen ein­stel­lend, auch die Er­stat­tung der Ne­ben­ko­sten als wür­de­lo­sen weil all­zu pro­fa­nen Akt auf­fasst. Be­trof­fen hier­von ist der Ex-Plei­tier Bree­gen, ein et­was hüft­stei­fer Im­mo­bi­li­en­ver­käu­fer und Py­ra­mi­den­spie­ler, der sich zu­letzt mit fünf Jah­ren sei­ne Schu­he hat selb­stän­dig bin­den kön­nen, was ihn nicht dar­an hin­dert, Ma­ruschas Lieb­ha­ber für be­stimm­te Nach­mit­ta­ge zu sein, wäh­rend­des­sen sei­ne Frau sich mit dem Ge­sche­hen, wel­ches sie mit Vi­deo­ka­me­ras um ihr Grund­stück her­um be­ob­ach­tet, ver­gnügt.

Das Per­so­nal des Ro­mans bie­tet auch et­was für den Rät­sel­freund, der schon bald die spre­chen­den Na­men ent­deckt, wie der von Frau Mar­kies (durch­mas­sier­te Rhe­to­rik von »Mar­qui­se«), ei­ner Art Ge­sell­schafts­un­ter­neh­me­rin oder dem ve­ri­ta­blen Ekel­pa­ket Rot­z­off (wahl­wei­se als Rot-zoff oder Rotz-off aus­sprech­bar). Am Ran­de gibt es ei­ne Ga­le­rie Gug­gis­heim. Wie ori­gi­nell. Das Fest, wel­ches dem Buch sei­nen Na­men gibt, fin­det in Woh­nung und Gar­ten ei­nes ge­wis­sen Dok­tor Glück statt. Ein Mann, der sei­nen (halb­wegs ehr­lich er­wor­be­nen) Ti­tel wie ei­nen Vor­na­men trägt, Na­po­le­on­bil­der sam­melt und des­sen Do­mi­zil von Krä­hen fast usur­piert zu sein scheint, die am En­de ei­ner Nacht Glücks mit ei­ner schwe­di­schen Ste­war­dess die Hum­mer­re­ste fled­dern (da­her das Co­ver). Und schließ­lich er­in­nert der Na­me des Lo­kals (und des Pa­trons) von Fer­ne an ein alt-ehr­wür­di­ges bio­gra­phi­sches Ar­chiv.

Ver­klam­mert wird die mun­te­re Ban­de, de­ren Prot­ago­ni­sten »in ei­ner Welt le­ben, wo es nichts Wich­ti­ge­res gab, als beim Dre­hen des Kop­fes ein ko­mi­sches Ge­fühl zu ha­ben«, durch Iva­na, die re­so­lu­te wie ge­wis­sen­haf­te bos­ni­sche Putz­frau, die zu Be­ginn bei al­len in Lohn und Brot und zum Teil Ver­trau­ens­stel­lung steht. Iva­na ist so­wohl mit ih­ren in die­sem Um­feld zu­wei­len ar­cha­isch an­mu­ten­den mo­ra­li­schen Vor­stel­lun­gen als auch mit ih­rer prag­ma­ti­schen Pflicht­er­fül­lung, ih­rer »Tat­wut«, das ex­ak­te Ge­gen­teil zu die­ser Welt der Ober­fläch­lich­kei­ten und In­tri­gen. Sie rei­nigt un­er­schrocken den hy­bri­den Kos­mos die­ser Seins-Nicht­se. Zum ei­nen re­al als de­ren Putz­frau. Zum an­de­ren als al­le­go­ri­sche Ma­ria mit ih­rem un­ge­fähr in der Mit­te des Bu­ches neu­ge­bo­re­nen Sohn (und ih­rem Jo­sef-ähn­li­chen Ehe­mann Sti­po). Mo­se­bach ließ es sich schließ­lich nicht neh­men, den Säug­ling in ei­nem un­glück­li­chen Un­fall ums Le­ben kom­men zu las­sen, was die Sitt­lich­keit Iva­nas (und de­ren Fa­mi­lie) noch ver­stärkt; Ex­ege­ten mö­gen dies ge­nau­er aus­ar­bei­ten.

Durch Iva­na er­fährt der Le­ser al­ler­dings auch noch pi­kan­te Ge­schich­ten, was sich als ziem­li­cher Kon­struk­ti­ons­feh­ler des Ro­mans zeigt. Denn der ei­gent­li­che Er­zäh­ler ist ein pro­mo­vier­ter aber stel­lungs­lo­ser Kunst­hi­sto­ri­ker, der trotz Gna­de der spä­ten Pro­mo­ti­on (mit 35½) durch Zu­fall und We­re­sch­ni­kow in die Sze­ne ein­dringt und sich dort als »Neo­phyt« fühlt. Pro­ble­ma­tisch ist nicht, dass die­ser Er­zäh­ler in süf­fi­san­tem, unterhalt­samem Duk­tus plau­dert, ge­konnt ba­lan­cie­rend zwi­schen Ver­ach­tung, Verball­hornung und nüch­ter­nem Be­richt, wo­bei Mo­se­bach nur ge­le­gent­lich auf dem vir­tu­el­len Schwe­be­bal­ken in die Dif­fa­mie­rung sei­ner Fi­gu­ren ab­stürzt und dann aus der pro­vin­zi­el­len Vor-Frank­fur­ter hau­te vo­lée ein neu­reich-put­zi­ges Durch­ein­an­der­tal wird. Hei­kel ist, dass die­ser Kunst­hi­sto­ri­ker auch noch zum all­wis­sen­den Er­zäh­ler wird, der zum Bei­spiel auf den di­ver­sen Putz­stel­len Iva­nas an­we­send zu sein scheint. Bei je­dem an­de­ren wür­de man dies min­de­stens be­mer­ken und an­strei­chen – bei Mo­se­bach ver­zeiht man (vul­go: die Li­te­ra­tur­kri­tik) dies und tat­säch­lich ver­ge­hen die er­sten zwei­hun­dert Sei­ten wie im Flu­ge.

Ir­gend­wann, so in der Mit­te des Bu­ches fragt sich der Le­ser, wie es wei­ter­ge­hen soll: Die »Hel­den« sind vor­ge­stellt und man über­nimmt schon un­merk­lich (und zu­meist un­er­reicht) den zu­wei­len spöt­ti­schen Un­ter­ton des Er­zäh­lers in sei­nem ei­ge­nen Duk­tus. Aber kann das lau­ni­ge Er­zäh­len von grell ein­ge­färb­ter Lan­ge­wei­le auch noch auf den näch­sten 240 Sei­ten kurz­wei­lig blei­ben? Gut, da bro­deln die ju­go­sla­wi­schen Se­zes­si­ons­krie­ge und We­re­sch­ni­kow plant ei­ne Art Frie­dens­kon­gress mit dem sper­ri­gen wie an­spruchs­vol­len Ti­tel »Die Wur­zeln und Fun­da­men­te der mensch­li­chen Wür­de in den Kul­tu­ren des Bal­kan« und möch­te bei die­ser Ge­le­gen­heit ei­ne Aus­stel­lung ei­nes bos­nisch-kroa­ti­schen Künst­lers mit dem Na­men Me­stro­vic (die ju­go­sla­wi­schen Ak­zent­zei­chen wer­den vom »Sopha«-schreibenden Mo­se­bach im Ge­gen­satz zu den fran­zö­si­schen sou­ve­rän igno­riert) ar­ran­gie­ren. Hier­für wird die In­ter­ven­ti­on des er­zäh­len­den Kunst­hi­sto­ri­kers be­nö­tigt, der den aus­er­ko­re­nen Mei­ster im­mer­hin als ei­nen Kön­ner der Ma­le­rei des Knies er­kennt – an­son­sten bleibt er trotz in­ten­si­ven Ka­ta­logstu­di­ums rat­los und ent­deckt statt­des­sen ei­nen un­be­kann­ten Cour­bet (der dann, recht zü­gig, als ve­ri­ta­ble Fäl­schung ent­larvt wird).

Aber die­ser Strang reicht nicht. Et­was Stoff muss her, zu­mal der Per­so­nal­kos­mos so­wohl quan­ti­ta­tiv als auch qua­li­ta­tiv eher über­sicht­lich er­scheint. Zu­nächst gibt es die pla­to­nisch an­ge­leg­te Lie­bes­ge­schich­te des Er­zäh­lers mit Win­nie, die, wie all die üb­ri­gen Prot­ago­ni­sten, dem gän­gi­gen Schön­heits­ide­al trotz­ten und mit hell­wei­ßer, ma­xi­mal el­fen­bein­far­be­ner Haut auf­war­ten. Die­se Frau mit ei­ner lan­gen, fas­zi­nie­rend-schreck­li­chen Nar­be zwi­schen ih­ren (fast selbst­re­dend) klei­nen Brü­sten, wird zu ei­ner Art Schnee­witt­chen. Win­nies Ma­kel ist je­doch, dass sie ei­ne schein­bar töd­li­che, sie je­der­zeit da­hin­raf­fen­de Krank­heit in ih­rem por­zel­lanz­ar­ten Kör­per birgt (da­her die Nar­be). Spä­ter stellt sich auch noch her­aus, dass sie – zum Ent­set­zen des bra­ven Er­zäh­lers – ei­ner Amour fou mit dem ab­sto­ßen­den Rot­z­off frönt, der üb­ri­gens in ei­ner um­wer­fen­den Sze­ne ei­ne schein­bar ge­pfleg­te Kon­ver­sa­ti­on mit den Krä­hen aus Dok­tor Glücks park­ähn­li­chem Gar­ten, die­ser »En­kla­ve lu­xu­riö­ser Ab­ge­schie­den­heit«, wie wei­land der hei­li­ge Fran­zis­kus führt.

Der ge­plan­te Bal­kan­kon­gress führt den Er­zäh­ler zu Stu­di­en­rei­sen nach Bos­ni­en und am En­de in die Fa­mi­lie Iva­nas, die über ei­ni­ge ver­schlun­ge­ne We­ge mit dem Künst­ler Me­stro­vic ver­wandt zu sein scheint (die­se Spur er­weist sich dann je­doch als frucht­los). Be­sucht wird die Hoch­zeit von Iva­nas jüng­stem Bru­der. Aus­gie­big wird die Familien­geschichte er­zählt (man trieb nicht nur Acker­bau, son­dern fer­tig­te bis in die 70er Jah­re hin­ein Lehm­zie­gel) und die ak­tu­ell sich ab­zeich­nen­de, ir­gend­wie be­droh­li­che La­ge evo­ziert. Schließ­lich be­fin­det man sich, was man nicht wis­sen konn­te, un­mit­tel­bar vor Aus­bruch des Bos­ni­en­krie­ges. Hier zeigt sich die zwei­te Schwä­che die­ses Bu­ches: Es ist schier un­mög­lich, die ver­kom­me­ne Frank­fur­ter Misch­po­ke im glei­chen schel­men­ro­man­haf­ten Ton­fall (ir­gend­wo zwi­schen Rad­datz-Ta­ge­bü­chern und Hein­rich Spoerl; der An­de­re, das ganz gro­ße Vor­bild, ist nur ab und an sil­hou­et­ten­haft er­ahn­bar und wird nie­mals er­reicht) wie das Schick­sal von Iva­nas Fa­mi­lie (nebst Un­fall von Iva­nas Sohn) zu schil­dern. Zum gro­ßen Fi­na­le hin wird das mehr oder we­ni­ger lang­wei­le Trei­ben auf dem Fest mit Iva­nas An­ru­fen bei ih­rer Fa­mi­lie, die sich un­mit­tel­ba­ren Be­dro­hun­gen von Mus­li­men ge­gen­über­sieht und sich kur­zer­hand ent­schließt, zu flie­hen, kon­tra­stiert.

Über die schein­bar ab­sicht­li­chen Feh­ler Mo­se­bachs ist in an­de­ren Kri­ti­ken be­reits ei­ni­ges ge­sagt wor­den. Dass die Prot­ago­ni­sten in dem Jahr der Hand­lung (1991/92) schein­bar pro­blem­los mit Mo­bil­te­le­fo­nen und Lap­tops agie­ren, wur­de da­bei – eben­falls et­was über­ra­schend – als Lap­pa­lie bzw. künst­le­ri­sche Frei­heit ab­ge­tan. Dies sind durch­aus nicht die ein­zi­gen In­kor­rekt­hei­ten. So fin­det ein Son­nen­auf­gang um 10 Uhr mor­gens statt und Zi­danes Kopf­stoß ge­gen Mat­ta­raz­zi wird eben­falls pa­ra­phra­siert. Da fragt man sich war­um Iva­na nicht ein­fach ir­gend­wann flie­gen kann oder ei­ne der im Lau­fe des Ro­mans ster­ben­den Fi­gu­ren wie­der in der Tü­re steht.

Ich ha­be die­sen Ro­man den­noch ger­ne ge­le­sen. Man ver­gnügt sich auf ei­nem ge­wis­sen Ni­veau, in dem man sich im Stil­len über die Fi­gu­ren er­hebt und der treu­en Iva­na al­les Glück der Er­de wünscht. Mo­se­bach ist ein zau­ber­haf­ter Apho­ri­sti­ker und kann Sze­nen mit wort­ge­wal­ti­ger Gran­dez­za kom­men­tie­ren. Ei­ni­ge da­von schreibt man sich in sein per­sönliches Poe­sie­al­bum mit dem Wis­sen: so­was wer­de ich nie kön­nen. Et­wa, wenn zwei Leu­te in Mer­zin­gers Re­stau­rant in ei­ner Zei­tung blät­tern und trocken be­merkt wird, dass nur »sel­ten… ein Ar­ti­kel die Gna­de ih­res In­ter­es­ses« fand. Oder wenn ei­ne Kat­ze ei­nen Tel­ler mit Milch auf­leckt und sich plötz­lich das Mu­ster des Tel­lers zeigt. Wun­der­bar, wie im­mer wie­der das Olfak­to­ri­sche in die Ab­läu­fe ein­greift und Per­so­nen mit ih­ren in­di­vi­du­el­len Duft­wol­ken ir­gend­wie prä­gnan­ter cha­rak­te­ri­siert wer­den als mit den zu­wei­len et­was bil­dungs­hu­be­risch her­an­ge­brach­ten phy­sio­gno­mi­schen Par­al­le­len mit rö­mi­schen, grie­chi­schen oder son­sti­gen an­ti­ken Fi­gu­ren. So wird Iva­na bei­spiels­wei­se ein­mal »mar­sisch« und et­was spä­ter »pro­vin­zi­al-rö­misch« be­schrie­ben wird, wo­bei ich zu­ge­be, dass sich mir der Un­ter­schied nicht er­schließt (was aber Mar­tin Mo­se­bach nicht an­ge­la­stet wer­den darf).

Aber die ab Mit­te des Bu­ches ste­tig zu­neh­men­den Sze­nen­wech­sel zwi­schen der pro­vin­zi­el­len De­ka­denz die­ser Fi­gu­ren und dem Über­le­bens­kampf von Iva­nas Fa­mi­lie im ju­go­sla­wi­schen Bür­ger­krieg sind gran­di­os miss­lun­gen. Das ist et­wa so, als gin­ge man im Frack in die Würst­chen­bu­de. Die Spra­che Mo­se­bachs ist kein Pas­se­par­tout für al­le Le­bens- bzw. Hand­lungs­la­gen. »Als Scho­pen­hau­er und Kraus sich über die Sprach­ver­schlu­de­rung er­reg­ten, da hat­ten sie ein Pu­bli­kum, das ver­stand, was sie sag­ten«, heißt ei­ner die­ser wun­der­ba­ren Mo­se­bach-Apho­ris­men. Man könn­te ihn in Be­zug auf die­ses Buch ab­wan­deln: Als die Kri­ti­ker über die Li­te­ra­tur­ver­schlu­de­rung von Herrn Mo­se­bach hin­weg­sa­hen, da hat­ten sie ein Pu­bli­kum im Au­ge, das ver­ges­sen hat­te, was Li­te­ra­tur ist. Man er­freut sich ja auch an den rhe­to­ri­schen Or­na­men­ten und be­gibt sich viel­leicht an die Ent­zif­fe­rung der zahl­rei­chen (zum Teil auch bi­blisch deut­ba­ren) Al­le­go­rien. Aber wie ein der­art ver­un­glück­tes Buch auf die Short­list ei­nes Buch­prei­ses kommt – das ent­zieht sich voll­stän­dig mei­nem Ver­ständ­nis.