Klin­gel­beu­te

Der Klin­gel­beu­tel war ein läng­li­cher Beu­tel aus ro­tem Samt, mit ei­nem gol­de­nen Glöck­chen an sei­nem un­te­ren En­de, das sich wie ei­ne Wurst zu­sam­men­zog. Er hing vom En­de ei­ner lan­gen höl­zer­nen Stan­ge und schau­kel­te ein we­nig, wenn er sich durch die Kirchen­bankreihen bis zur in der Mit­te sit­zen­den, dort zu­sam­me­ge­kau­er­ten Per­son (das war ich) vor­an­ta­ste­te, wo­bei es ein we­nig hüpf­te und das Glöck­chen klin­gel­te, wenn ich oder ein an­de­rer der Auf­for­de­rung nicht nach­kam, sei es, weil ich die Mün­ze für ei­nen an­de­ren Zweck be­hal­ten woll­te, sei es, weil er die Geld­bör­se ver­ges­sen hat­te, sei es, weil er sich wei­ger­te oder an die­sem Sonn­tag kei­ne Lust hat­te, der Kir­che den Obu­lus zu ent­rich­ten (so nann­te, so er­klär­te es in der Schu­le der Pfar­rer). Rot und Gold, die Far­ben des Kö­nigs, sein Reich ist von die­ser Welt.

Der Mann, der den Klin­gel­beu­tel am an­de­ren En­de der manch­mal ins End­lo­se wach­sen­den Stan­ge hielt, hat­te ei­nen weit über sei­ne ro­ten Backen hin­aus ge­zwir­bel­ten wei­ßen Schnauz­bart, und er schau­te ver­schmitzt, wenn er am Werk war, oder miß­mu­tig, wenn er auf ein Zö­gern, ei­nen Wi­der­stand stieß. Hat­te er ei­ne Sei­te be­ar­bei­tet, kam er von der an­de­ren, und ich fürch­te­te, sein Ge­sicht wür­de zor­nig, weil er mei­ne Ge­ste ver­ges­sen hat­te und ei­ne zwei­te Mün­ze er­war­te­te (aber die Mut­ter hat­te mir nur ei­ne ge­ge­ben). Er war ein Pfer­de­knecht, die­ses Wort hat­te ich mehr­mals ge­hört, auf ei­nem ab­ge­le­ge­nen Gut und war vor­zei­ten ein Kut­scher ge­we­sen, hat­te so­gar – aber nein, das war sein Urgroß­vater ge­we­sen, der hat­te die Kö­ni­gin durchs Tal kut­schiert, als die hin­te­re Ach­se brach, doch die Kö­ni­gin blieb durch Got­tes Gna­de un­ver­letzt, wes­halb sie die Ka­pel­le am Weg­rand er­rich­ten ließ, die als ein­zi­ges Bau­werk im gan­zen Ort vom Zahn der Zeit ver­schont ge­blie­ben ist mit ih­ren wei­ßen Wän­den und dem blau­en, luf­tig be­wölk­ten Him­mel über dem Kopf der Mut­ter Got­tes.

Der Kut­scher trug schwe­re Reit­stie­fel, die ein krat­zen­des Ge­räusch auf den Stein­flie­sen mach­ten, wenn er mit sei­ner Beu­te ab­zog. Es wa­ren ähn­li­che Stie­fel wie je­ne, die ich vom Dach­bo­den her­un­ter­ge­tra­gen hat­te, als ich äl­ter wur­de und ei­nen Sinn für Frei­heit aus­brü­te­te, nicht mehr in die Kir­che ging und al­te Sa­chen lieb­te, vor al­lem am ei­ge­nen Kör­per, aber die Stie­fel wa­ren dann doch zu schwer, ich be­weg­te mich wie ei­ne vom Pferd ge­stie­ge­ne Sta­tue, nur zwei­mal trug ich sie auf dem Schul­weg. Als ich klein war und Angst hat­te vor dem lang­sam her­an­rücken­den Beu­tel, hör­te ich an neb­li­gen Sonn­ta­gen, be­vor der Schnee kam, wie das Pferd drau­ßen scharr­te und schnaub­te, und ich sah, ob­wohl es nie­mand se­hen konn­te, wie sich der Knecht auf das Pferd schwang und sei­ne Schen­kel in die schwarz glän­zen­den Flan­ken drück­te und mit der Beu­te da­von­spreng­te, bis Tier und Mensch eins wur­den und die dunk­le Sil­hou­et­te im Ne­bel ver­schwand: auf Nimmer­wiedersehen.

© Leo­pold Fe­der­mair

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  1. Das ist wirk­lich sehr schön ge­schrie­ben. Die Spra­che webt mit der Ge­schich­te und ent­schwin­det am En­de im Ne­bel der ei­ge­nen Vor­stel­lung.