John Ban­ville: Die See

John Banville: Die See

John Ban­ville: Die See

Der Kunst­hi­sto­ri­ker Max kommt nach ei­nem hal­ben Jahr­hun­dert an die Stät­te sei­nes (schön­sten) Kind­heits­ur­laubs – ir­gend­wo an der bri­ti­schen See – zu­rück. Er quar­tiert sich in die ent­spre­chen­de Pen­si­on ein und es ent­wickelt sich mit der Zeit ein zau­ber­berg­ähn­li­cher Mi­kro­kos­mos: ein lan­ge my­ste­ri­ös blei­ben­der ehe­ma­li­ger Co­lo­nel, die Be­sit­ze­rin des Hau­ses, Miss Va­va­sour, die dann gar nicht die Be­sit­ze­rin ist und noch ein wei­te­res, klei­nes Ge­heim­nis hat (was na­tür­lich hier nicht ver­ra­ten wird) und Max. Sei­ne Frau An­na ist kürz­lich an Krebs ge­stor­ben, sein Be­ruf macht ihm kei­nen Spass mehr (ein Pro­jekt über den Ma­ler Pierre Bon­nard macht schon lan­ge kei­ne sub­stan­ti­el­len Fort­schrit­te mehr) und mit dem Ver­hält­nis zu sei­ner Toch­ter stimmt es auch nicht mehr (der po­ten­ti­el­le Schwie­ger­sohn ist [na­tür­lich!] nicht gut ge­nug).

John Ban­vil­les »Die See« ist bei al­ler Me­lan­cho­lie und ge­le­gent­li­chem Sen­ti­ment kein Be­richt ei­nes selbst­mit­lei­di­gen Hel­den, der in den »be­sten Jah­ren« die ob­li­ga­to­ri­sche Sinn­kri­se be­kommt. Im Ge­gen­teil. Der Grund­ton ist ele­gisch, aber fast im­mer wenn das Pa­thos droht dröh­nend zu wer­den, ruft der Er­zäh­ler sich sel­ber zur Ord­nung. Max’ Er­in­ne­run­gen, nein: die Wie­der-Ho­lun­gen, oft über­fall­ar­tig, un­ge­wollt, un­steu­er­bar (mei­stens wenn er ei­ne Er­in­ne­rung »er­zwin­gen« will, schei­tert es) – er möch­te in ih­nen schwel­gen, kann es aber nicht bzw. kaum, da er um den Lug und Trug der Evo­ka­tio­nen zu ge­nau weiss (oder sie zu­min­dest fürch­tet). Das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett der Er­in­ne­rung – Max ist zu klug, ihm zu ver­trau­en und sein er­ster Ein­druck fällt ent­spre­chend aus: In der Pen­si­on »Zu den Ze­dern« ist kaum noch et­was von der Ver­gan­gen­heit üb­rig, von je­nem Teil der Ver­gan­gen­heit, den ich hier er­lebt ha­be. Und viel spä­ter heisst es: Der Raum sah im Gro­ssen und Gan­zen noch ge­nau­so aus, wie ich oh­ne in Er­in­ne­rung hat­te, oder je­den­falls sah er so aus, als sä­he er noch ge­nau­so aus, wie ich ihn in Er­in­ne­rung hat­te, denn wenn man an ei­nen Ort aus der Ver­gan­gen­heit zu­rück­kehrt, sind die Er­in­ne­run­gen stets be­strebt, sich naht­los an die Din­ge und Ge­ge­ben­hei­ten, die dort herr­schen, an­zu­pas­sen.

Nicht zur die Din­ge pas­sen sich den Er­in­ne­run­gen (schein­bar) an (es kommt al­so letzt­lich nicht auf Ge­nau­ig­keit an, son­dern auf die Er­zäh­lung) – auch die Per­so­nen. Max schloss sich in die­sem Ur­laub in der Kind­heit der Fa­mi­lie Grace an, stei­ger­te da­mit auch sei­nen so­zia­len Sta­tus (man wohn­te in die­ser Pen­si­on, die da­mals ei­ni­gen Lu­xus bot, statt in ei­nem ein­fa­chen Fe­ri­en­haus wie die ei­ge­nen El­tern) – aber, und das war das Ent­schei­den­de, Max’ In­ter­es­se an der las­zi­ven Mrs. Grace (wun­der­bar, wie Ban­ville die neu­gie­ri­gen Blicke des Max auf Mrs. Grace er­zählt, oh­ne ins schlüpf­ri­ge zu ver­fal­len oder das Kind als voy­eu­ri­stisch zu de­nun­zie­ren), der Mut­ter der bei­den Kin­der Chloe (ei­ner früh­rei­fen Gö­re) und dem stum­men Myl­es; die­ses er­ste Auf­flam­men se­xu­el­len In­ter­es­ses an ei­ner Frau, wel­ches sich dann im Lau­fe des Som­mers auf die Toch­ter Chloe über­ging. Ein Ge­nuss, die­se Sze­ne, als die Schwär­me­rei Mrs. Grace ge­gen­über in fast ei­nem Mo­ment, von ei­ner Se­kun­de auf die an­de­re, ver­lo­ren ging. Von nun an sind Max, Chloe, Myl­es und das Kin­der­mäd­chen Ro­se (ein selt­sa­mes Quar­tett) un­zer­trenn­lich, ei­nen Som­mer lang – und wie das Ban­ville dann er­zählt, wie er ge­le­gent­lich dann doch sei­nem al­tern­den Max frei­en Lauf lässt, das ist schon sehr schön und dicht und manch­mal so­gar episch – ge­ra­de weil Ban­ville be­wusst la­ko­nisch er­zäh­len will, ge­ra­ten die Stel­len, an de­nen es nicht »ge­lingt«, so kunst­voll und ein­dring­lich.

So bleibt das En­de die­ser Som­mer­fri­sche für den Le­ser sehr lan­ge un­er­ahn­bar, weil Max sich auch in ei­ner ge­wis­sen Chro­no­lo­gie »er­in­nert«; kein all­wis­sen­der Er­zäh­ler schürt ei­ne künst­li­che Span­nung (wie bei­spiels­wei­se in Ker­stin Gunns auch mei­ster­li­cher No­vel­le »Re­gen­ta­ge«, die vom En­de aus re­tro­spek­tiv er­zählt) – und na­tür­lich wird hier auch da­von nichts ver­ra­ten.

Stän­dig wird in dem Buch zwi­schen den Er­in­ne­run­gen die­ses Som­mers und dem Le­ben mit An­na chan­giert. Max phan­ta­siert hier ins­be­son­de­re den An­fang ih­rer Be­zie­hung, die schnel­le Ehe­schlie­ssung (und die Kom­pli­ka­tio­nen) und das Lei­den An­nas an und wäh­rend der Krebs­er­kran­kung. Aber auch hier bleibt der Re­fle­xi­ons­pro­zess ein we­sent­li­ches Merk­mal der Poe­tik Ban­vil­les: ...am En­de keh­ren die Ge­stal­ten aus der fer­nen Ver­gan­gen­heit noch ein­mal zu­rück und ver­lan­gen ih­re Schul­dig­keit. Und plötz­lich weiss Max, dass er nichts mehr weiss, und die­se Stel­le des frucht­ba­ren Selbst­ver­lie­rens, die­ses Zer­trüm­mern der nur schein­ba­ren (Selbst-)Gewissheit, sei hier ex­em­pla­risch für den Ton und die Me­tho­de Ban­vil­les zi­tiert:

Ich dach­te an An­na. Ich zwin­ge mich, an sie zu den­ken, das sind so Ex­er­zi­ti­en, die ich ma­che. Sie ist in mich hin­ein­ge­sto­ßen wie ein Mes­ser, und den­noch fan­ge ich schon an, sie zu ver­ges­sen. Schon fängt ihr Bild in mei­nem Kopf all­mäh­lich zu ver­schlei­ßen an, die Farb­pig­men­te wer­den im­mer blas­ser, und die Ver­gol­dung blät­tert ab. Ob ei­nes schö­nen Ta­ges die gan­ze Lein­wand leer sein wird? Lang­sam be­grei­fe ich, wie we­nig ich An­na ge­kannt ha­be, ich mei­ne, wie ober­fläch­lich mein Wis­sen von ihr war, wie un­ge­nau. Nicht, dass ich mir des­we­gen Vor­wür­fe ma­che. Viel­leicht soll­te ich es tun. War ich zu trä­ge, zu un­auf­merk­sam, zu sehr mit mir selbst be­schäf­tigt? Ja, al­les zu­sam­men, und trotz­dem kann ich kei­ne Schuld dar­in se­hen, in die­sem Ver­ges­sen, die­sem Nicht­wis­sen. Ich glau­be eher, mei­ne Er­war­tun­gen im Hin­blick auf das Ken­nen sind zu hoch ge­we­sen. Wie kann ich mir nur ein­bil­den, ei­nen an­de­ren wirk­lich zu ken­nen, so we­nig, wie ich von mir sel­ber weiß?

Aber Mo­ment mal, nein, das ist es nicht. Ich bin nicht ehr­lich – das ist ja ganz was Neu­es, sagst du, ja­ja. Die Wahr­heit ist, es war nicht un­ser Be­dürf­nis, ein­an­der zu ken­nen. Im Ge­gen­teil, es war un­ser Be­dürf­nis, ein­an­der nicht zu ken­nen. Ha­be ich schon ir­gend­wo ge­sagt – kei­ne Zeit jetzt, zu­rück­zu­blät­tern und nach­zu­schau­en, zu sehr be­schäf­ti­gen mich plötz­lich die Stra­pa­zen die­ser Über­le­gung -, dass das, was ich bei An­na von An­fang an ge­fun­den ha­be, die Mög­lich­keit war, mei­ne Phan­ta­sie­vor­stel­lun­gen von mir sel­ber zu ver­wirk­li­chen? Als ich das sag­te, war mir gar nicht so rich­tig klar, was ich da­mit mei­ne, doch nun, wo ich ein we­nig ge­nau­er dar­über nach­den­ke, ver­ste­he ich es auf ein­mal. Oder doch nicht. Ich will ver­su­chen, es her­vor­zu­kit­zeln, Zeit ha­be ich mehr als ge­nug, denn die­se Sonn­tag­aben­de sind end­los.

Es gibt Bü­cher, die sehr kunst­voll und schön ge­schrie­ben sind, aber nicht be­son­ders lan­ge nach­hal­len. Man nimmt sie spä­ter ger­ne wie­der zur Hand und liest dann ei­ni­ge Ka­pi­tel noch­mals. Und es gibt Bü­cher, da ge­nügt ein Bild oder ein Ge­räusch und man er­in­nert sich so­fort ih­rer; man hü­tet sie wie ei­nen Schatz, weil man weiss, man wird sie ir­gend­wann noch ein­mal brau­chen, sie dann noch ein­mal le­sen, noch mehr Nu­an­cen fest­stel­len als beim er­sten Mal – man wird die­ses Buch im­mer wie­der ein biss­chen neu le­sen und sich dem Sog er­neut wil­lig hin­ge­ben. »Die See« ge­hört für mich zwei­fel­los zur zwei­ten Ka­te­go­rie.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Der Aus­schnitt stimmig,hinreißend nicht nur *schön*.Es gibt kein Wort
    für die­se Zei­len, es wür­de sie zerstören.Gratuliere ‚Voll­tref­fer beim Zi­tie­ren.

  2. Sen­si­ble Re­zen­si­on! Macht Lust zum Le­sen – ich fin­de hoch­ge­ju­bel­te Bü­cher sonst im­mer et­was ver­däch­tig.