Eu­phe­mis­men in der Po­li­tik – (I.) Pro­be­ab­stim­mung

Die Pro­be­ab­stim­mung ist in kei­nem Re­gel- oder gar Ge­set­zes­werk vor­ge­se­hen. Sie ist ein Brauch der po­li­ti­schen Par­tei­en. Vor gro­ssen und als wich­tig de­kla­rier­ten Ge­set­zes­vor­ha­ben wird in den / der Fraktion(en) vor der ei­gent­li­chen Ab­stim­mung im Par­la­ment ei­ne in­ter­ne Ab­stim­mung durch­ge­führt (not­falls meh­re­re; es wird so lan­ge »ge­probt«; bis das Er­geb­nis stimmt!). Die­ses Ver­fah­ren nennt man Pro­be­ab­stim­mung. Der frei ge­wähl­te, de ju­re nur sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wort­li­che Ab­ge­ord­ne­te wird auf Ein­heits­li­nie ge­trimmt.


Statt die Frak­ti­ons­ab­ge­ord­ne­ten mit Sach­ar­gu­men­ten zu über­zeu­gen, wird die dis­zi­pli­na­ri­sche Keu­le ge­schwun­gen. Ei­nem brei­te­ren Pu­bli­kum ist die Pro­be­ab­stim­mung seit den mehr­ma­li­gen Ver­su­chen von Frau Si­mo­nis be­kannt, 2005 Mi­ni­ster­prä­si­den­tin von Schles­wig-Hol­stein zu wer­den. Min­de­stens ein Ab­ge­ord­ne­ter scher­te sich nicht um Pro­be­ab­stim­mun­gen, son­dern stimm­te bei der rich­ti­gen Wahl an­ders ab.

Bis heu­te ist nicht be­kannt, wer der »Ab­trün­ni­ge« war. Das hat die ge­sam­te po­li­ti­sche »Eli­te« nicht da­von ab­ge­hal­ten, ihn zu be­schimp­fen und als Feig­ling zu de­kla­rie­ren. Mir war nie klar, war­um er ein Schuft sein soll. Pro­be­ab­stim­mun­gen ha­ben kei­ner­lei Le­gi­ti­ma­ti­on in un­se­rem par­la­men­ta­ri­schen Sy­stem. Sie sind in Wirk­lich­keit wi­der das Grund­ge­setz (sie­he oben).

Pro­be­ab­stim­mun­gen sind eng ver­knüpft mit dem Irr­glau­ben an ein im­pe­ra­ti­ves Man­dat. Da­bei wird sel­ten Über­zeu­gungs­ar­beit ge­lei­stet – meist wer­den die ent­schei­den­den In­hal­te ei­nes Ge­setz­ent­wur­fes in den obe­ren Gre­mi­en zwi­schen den Par­tei­en aus­ge­han­delt. Selbst die Fach­po­li­ti­ker der Frak­tio­nen wer­den oft über­gan­gen (sie­he ak­tu­ell die Kau­sa Ge­sund­heits­re­form und das Aus­boo­ten von Leu­ten wie Lau­ter­bach und Wo­darg in der SPD-Frak­ti­on). Die wirk­li­chen Ent­schei­dun­gen wer­den in der Spit­ze ge­trof­fen. Der fra­gen­de, gar in­ve­sti­ga­ti­ve Ab­ge­ord­ne­te stört da nur.

Pro­be­ab­stim­mun­gen sind Aus­wüch­se un­se­res (per­so­na­li­sier­ten) Ver­hält­nis­wahl­rechts. Sie zei­gen dem Ab­ge­ord­ne­ten un­mit­tel­bar, dass er auf die gün­sti­ge Plat­zie­rung sei­nes Li­sten­plat­zes an­ge­wie­sen ist. Franz Mün­te­fe­ring, hat­te es zu sei­ner Zeit als Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der deut­lich und in al­ler Öf­fent­lich­keit aus­ge­drückt: Wer nicht ent­spre­chend der SPD-Li­nie ab­stimmt, wird Pro­ble­me bei den Li­sten­plät­zen bzw. bei der No­mi­nie­rung bei der näch­sten Wahl be­kom­men. Man nennt so et­was Er­pres­sung.

Pro­be­ab­stim­mun­gen zei­gen, wel­che Funk­ti­on der ein­zel­ne Ab­ge­ord­ne­te wirk­lich hat. Je­de »Pro­be­ab­stim­mung« in ei­ner Frak­ti­on oder sonst wo in ei­nem po­li­ti­schen Gre­mi­um ist in Wirk­lich­keit die Ver­höh­nung des sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wort­li­chen Ab­ge­ord­ne­ten und so­mit ei­ne Be­schä­di­gung der par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie.

Da­bei klingt es so harm­los.

6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Wenn ich den Schritt nicht schon vor ei­ni­ger Zeit ge­tan hät­te (ver­mut­lich ir­gend­wann wäh­rend Schrö­ders er­ster Amts­zeit), wä­re er mir nach die­sem In­ter­view heu­te Mor­gen im Deutsch­land­funk be­stimmt be­son­ders leicht ge­fal­len. Vor al­lem passt es, glau­be ich, ganz gut zum The­ma dei­nes Bei­trags. Der SPD-Po­li­ti­ker Olaf Scholz er­klärt dar­in, wie das ei­gent­lich so ist mit dem Ge­wis­sen des Ab­ge­ord­ne­ten, der Frak­ti­on und so wei­ter. Ich schwan­ke bei mei­nem Ur­teil noch zwi­schen »er­bärm­lich« und »ganz or­dent­li­che Sa­ti­re«.

  2. bringt – glau­be ich – nichts. Es gab vor vie­len Jah­ren mal ein Fern­seh­spiel, dass in ei­ner Wahl­nacht spiel­te. Es gab die üb­li­chen Trand­mel­dun­gen, Hoch­rech­nun­gen und Po­li­ti­ker­sprech­bla­sen. Plötz­lich gab ein Re­dak­teur be­kannt: Die Wahl­be­tei­li­gung liegt nur bei ca. 5%. Das Er­geb­nis in die­sem fik­ti­ven Spiel: Die Po­li­ti­ker nah­men das an – sie fühl­ten sich trotz­dem le­gi­ti­miert. Und es ent­stand ein gro­sser Streit hier­über (lei­der weiss ich nicht mehr, wie es aus­ging. Ich emo­fand das da­mals als lä­cher­li­ches Sze­na­rio)

    Ich nei­ge im Mo­ment da­zu, ei­ne Par­tei zu wäh­len, die gar kei­ne Chan­ce hat, über die 5%-Hürde zu kom­men. Die eta­blier­ten Par­tei­en kom­men für mich nicht in­fra­ge. Rechts na­tür­lich auch nicht. Ich ten­die­re im Mo­ment zur ÖDP – na­ja, der Gruhl ist ja schon lan­ge tot. Aber was Wäh­len muss der Mensch. FIn­de ich.

    Das In­ter­view mit Scholz zeigt (Dank für den Link), wie ver­kom­men die­se Art von Po­li­ti­ker sind. Scholz wä­re si­cher­lich ein wl­li­ger Exe­ku­tor ei­ner Dik­ta­tur ge­wor­den, wenn er an­ders­wo oder zu an­de­rer Zeit po­li­tisch tä­tig ge­we­sen wä­re. Ein Wi­der­ling.

  3. Nicht­wäh­len hat den un­be­stei­t­ba­ren Nach­teil, dass Stim­men von Fun­da­men­ta­li­sten (hier jetzt nicht Bur­ka­fe­ti­schi­sten, eher NPD etc.) in ih­rer Wir­kung er­höht wer­den. Bei ei­ner Wahl­be­tei­li­gung von 25% reicht ein ab­so­lu­ter Stimm­an­teil von 1,25% um in ein Par­la­ment zu kom­men. So hät­ten wir bald die Bier­trin­ker­par­tei in Frak­ti­ons­stär­ke. Da­her ist Gre­gors Stra­te­gie ein­deu­tig die bes­se­re Wahl.

    Bis­her bin auch ich brav zur Wahl ge­gan­gen und ha­be das klei­ne­re Übel ge­wählt, weiss aber mo­men­tan auch nicht wei­ter. An­ge­wi­dert ha­be ich auch das Scholz-In­ter­view ge­hört. Dis­gu­sting.

  4. (@Peter & Gre­gor), Nicht­wäh­len bringt nichts. Ich woll­te es auch nicht zum Prin­zip er­he­ben; in den letz­ten Jah­ren konn­te ich es nur ein­fach nicht über mich brin­gen, ein Kreuz bei den eta­blier­ten Par­tei­en zu ma­chen, auch nict merh bei den Grü­nen. Was die »Klei­nen« an­geht – weiß im Mo­ment nicht, da­für bin ich po­li­tisch zu we­nig in­for­miert und in­ter­es­siert.

  5. Hal­lo,
    mei­ne Fra­ge : Darf ein Frak­ti­ons­ab­ge­ord­ne­ter sich dem Frak­ti­ons­zwang ent­zie­hen bei ei­ner für ihn als Fach­sach­be­ar­bei­ter nicht nach­voll­zieh­ba­ren Sach­ent­schei­dung?

    Im Rat­haus wird ei­ne Bau­maß­nah­men­re­ge­lung öf­fent­lich aus­ge­legt de­ren Dar­stel­lung für den Bür­ger nicht ver­ständ­lich ist, ja ei­gent­lich gar nicht ver­ständ­lich sein soll.
    In Kennt­nis der kor­rek­ten Dar­stel­lung legt nun der Frak­ti­ons­ab­ge­ord­ne­te als Pri­vat­per­son da­ge­gen Ein­spruch ein, nach­dem er aber in der Frak­ti­on über­stimmt wor­den ist.

    Hat er mit Kon­se­quen­zen zu rech­nen?

  6. dass er sehr wohl in­ner­frak­tio­nell und in­ner­par­tei­lich Kon­se­quen­zen er­tra­gen muss (ver­mut­lich auf eher in­for­mel­ler Ebe­ne: Li­sten­platz­auf­stel­lung, usw). Die­ses Ver­hal­ten gilt als il­loy­al.