Ei­ni­ge An­mer­kun­gen zur trans­ver­sa­len Äs­the­tik

Vor­trag vom 2. No­vem­ber 2013 beim Sym­po­si­um »In­ter­kul­tu­ra­li­tät in der Li­te­ra­tur – re­gio­na­le, na­tio­na­le und kon­ti­nen­ta­le Iden­ti­tä­ten«, Städ­ti­sche Uni­ver­si­tät (Shirit­su Dai­ga­ku) Nagoya/Japan

Ich bin ein Mi­grant. Seit elf Jah­ren le­be ich in ei­nem Land fern von mei­nem Ge­burts­ort, da­vor ha­be ich in vier an­de­ren Län­dern dau­er­haft ge­wohnt, und auch die Jah­re in Wien wa­ren für mich als über­zeug­ten West­öster­rei­cher ein Aus­lands­auf­ent­halt, üb­ri­gens der un­an­ge­nehm­ste von al­len. Wo ich den Le­bens­abend ver­brin­gen wer­de, wo ich be­gra­ben sein möch­te? Kei­ne Ah­nung. Viel­leicht »zu Hau­se«, viel­leicht nicht. Mei­ne Wan­de­run­gen sind noch nicht be­en­det.

Mi­grant zu sein ist nichts Be­son­de­res, heut­zu­ta­ge eher die Re­gel als die Aus­nah­me. Ei­ne Le­bens­form, mit der vie­le Men­schen auf die ei­ne oder an­de­re Wei­se Be­kannt­schaft ge­schlossen ha­ben. In­so­fern ist auch »Mi­gran­ten­li­te­ra­tur« nichts Be­son­de­res. Man wird so­gar sa­gen kön­nen, daß die Li­te­ra­tur mit ih­rer al­ten und no­to­ri­schen Neu­gier für al­les Frem­de das, was heu­te der ge­sell­schaft­li­che Re­gel­fall ist, vor­weg­ge­nom­men hat. Im Grun­de be­ruht die Re­de von den Mi­gran­ten mit ih­rem Hin­ter­grund und ih­rer Kul­tur nur auf ei­ner be­stimm­ten Sicht­wei­se. Die Wur­zeln der Mi­gra­ti­on ge­hen weit, sehr weit zu­rück. Eben­so das Phä­no­men der Glo­ba­li­sie­rung. Wann hat sie be­gon­nen? Mit Ko­lum­bus? Mit der Han­se? Mit Odys­seus? Mit den Ar­go­nau­ten? Als ich in den sieb­zi­ger Jah­ren Ger­ma­ni­stik stu­dier­te, war Exil­li­te­ra­tur ein Mo­de­the­ma. Das Exil aber ist nur ei­ne be­son­de­re Art der Mi­gra­ti­on, wie Sev­gi Öz­da­mars Ro­man Die Brücke vom Gol­de­nen Horn sinn­fäl­lig macht.

Vor ei­ni­gen Jah­ren wur­de ich von ei­ner Li­te­ra­tur­zeit­schrift um ei­nen Bei­trag für ein Heft zum The­ma Rei­se­li­te­ra­tur ge­be­ten. Ich sag­te zu und hat­te ein un­gu­tes Ge­fühl, weil ich mich nicht als Rei­se­schrift­stel­ler be­trach­te. Mei­stens bin ich nicht auf Rei­sen, son­dern le­be wo­an­ders (als in mei­nem Her­kunfts­land) und be­we­ge mich zwi­schen ver­schie­de­nen Or­ten, weil ich dort et­was zu tun ha­be, et­was su­che, Freun­de tref­fen will, mich in ei­ne Frau ver­liebt ha­be, an ei­nem Kon­greß teil­neh­me, mit ei­nem Au­tor über ein zu über­set­zen­des Buch spre­chen will. Der Rei­sen­de im her­kömm­li­chen Sinn hat sei­ne Rück­kehr ein­ge­plant. Das ist bei mei­nem Mi­gran­ten­tum – mei­ner viel­fäl­ti­gen Wan­der­schaft – oft nicht der Fall. Manch­mal sa­ge ich, um ei­nen Ge­sprächs­part­ner zu ver­blüf­fen: Ich rei­se nicht gern. Und fü­ge, wenn die Ver­blüf­fung auf­ge­braucht ist, hin­zu: Ich hal­te mich gern an ver­schie­de­nen Or­ten auf, aber ich bin nicht so gern un­ter­wegs. Mein Ide­al wä­re die Ubi­qui­tät. Sem­per et ubi­que. Den Kör­per bea­men, nicht nur den Geist und die Bil­der (was durch die kommu­nikations­technische Ent­wick­lung sehr er­leich­tert wor­den ist). Rei­sen ist mir auf die Dau­er zu an­stren­gend.

Trotz­dem ha­be ich je­ner Li­te­ra­tur­zeit­schrift ei­nen Bei­trag ge­ge­ben, ein Stück über ei­ne Rei­se nach Spa­ni­en, auf den Spu­ren ei­ner Pil­ger­rei­se, die ich in mei­ner Kind­heit zu­sam­men mit mei­ner Tan­te un­ter­nom­men hat­te. Die­ses Stück war schon da­mals als Teil ei­nes Ro­mans ge­plant, der jah­re­lang den Ar­beits­ti­tel Ana­lo­gia en­tis trug: die Ana­lo­gie des Sei­en­den, oder an­ders ge­sagt: die Ähn­lich­keit, mit­hin Ver­gleich­bar­keit von al­lem, was auf der Welt vor­kommt. Der Ro­man spielt in Ar­gen­ti­ni­en und Ja­pan, al­so in zwei ein­an­der nicht nur geo­gra­phisch, nicht nur glo­bal (wenn man an den Erd­glo­bus denkt), son­dern auch kul­tu­rell scharf ent­ge­gen­ge­setz­ten Kul­tur­be­rei­chen. Das so­wohl kör­per­li­che als auch gei­sti­ge und emo­tio­na­le Hin und Her präg­te die Struk­tur die­ses ziem­lich kom­ple­xen, für die Le­ser­schaft viel­leicht all­zu kom­ple­xen Buchs. Ei­ne Art Schau­keln von die­ser Sei­te zu je­ner, von ei­nem Ex­trem zum an­de­ren, bei dem es dar­auf an­kommt, die Span­nung zu hal­ten, ge­spannt zu blei­ben, neu­gie­rig, auf­merk­sam, aus­dau­ernd, aber auch spar­sam, öko­no­misch, haus­hal­tend, weil die En­er­gie ei­nes Men­schen (ei­ner Ro­man­fi­gur) nicht un­be­grenzt ist. Es klingt viel­leicht pa­ra­dox, aber ich tei­le das sti­li­sti­sche Ide­al des Schau­kelns mit ei­nem mei­ner gro­ßen Vor­bil­der, Mi­chel de Mon­tai­gne, der gern zu Pfer­de durch die fran­zö­si­sche Land­schaft ritt.

In jun­gen Jah­ren dach­te ich, ich könn­te mir nach und nach al­les an­eig­nen. Die Li­te­ra­tur, zu­erst die deut­sche, dann die eu­ro­päi­schen, dann die an­de­ren Li­te­ra­tu­ren; die Städ­te, die Län­der, die Spra­chen; Ge­gen­wart und Ge­schich­te. Irr­tum, man kann nicht al­les, nie­mand kann al­les (er­ken­nen, tun usw.). Als ich mit zwan­zig ei­ne Zeit in Rom ver­brach­te, ver­zweifelte ich an der Mög­lich­keit, die ge­sam­te Stadt, die mehr hat als nur sie­ben Hü­gel, durch­wan­dern, über­blicken und er­in­nern zu kön­nen. Denn so­viel be­griff ich schon da­mals und weiß ich noch heu­te, daß man ei­nen Ort be­ge­hen muß, um ihn wirk­lich zu ken­nen.

Al­so, man kann sich nicht al­les an­eig­nen, es gibt da im­mer noch, im­mer wie­der, im­mer mehr Gren­zen. Wer hat ge­sagt, daß die Gren­zen aus der Welt ver­schwin­den? Al­ler­dings kann man sich ei­ne gro­ße Viel­falt er­wer­ben. Man kann hier und dort an­knüp­fen, Verbin­dungs­linien zie­hen, Ver­knüp­fun­gen mit Or­ten er­rei­chen, an die man zu­erst viel­leicht gar nicht ge­dacht hat­te. Nicht von ei­nem Punkt auf der Land­kar­te zum an­de­ren, son­dern von ei­ner In­ten­si­tät zur näch­sten. Nur wo sol­che In­ten­si­tä­ten ent­ste­hen, das heißt er­fah­ren wer­den, spinnt sich das Netz wei­ter. Ein Netz, an dem je­der selbst ar­bei­ten muß. Es ist nicht vor­ge­ge­ben, man fin­det es nicht im In­ter­net, nicht im Fern­se­hen. Ein Be­kann­ter von mir ar­bei­tet als Rei­se­lei­ter, er hat fast al­le Län­der und die wich­tig­sten Städ­te der Er­de min­de­stens ein­mal be­sucht. Trotz­dem ha­be ich im Ge­spräch mit ihm den Ein­druck, daß er nichts von den Or­ten weiß, die er auf sei­ner Li­ste an­füh­ren kann. Manch­mal gibt er ei­ne Pro­gno­se po­li­ti­scher oder so­zia­ler Na­tur ab, zum Bei­spiel über Ku­ba, My­an­mar oder Ägyp­ten. Die Pro­gno­sen ha­ben sich al­le­samt als falsch er­wie­sen. Rei­se­lei­ter sind Ver­tre­ter ei­ner ab­strak­ten Glo­ba­li­sie­rung, bei der ein Sche­ma, in der Re­gel in den al­ten Zen­tren des We­stens aus­ge­heckt, über den Erd­ball ge­wor­fen wird. Ein Sche­ma in­tel­lek­tu­el­ler, me­dia­ler oder öko­no­mi­scher Na­tur, wo­bei der letzt­ge­nann­te Fak­tor, ganz im Sin­ne von Karl Marx, wohl der ent­schei­den­de ist. Die­se Art der Glo­ba­li­sie­rung ist nicht mei­ne Sa­che. Die Rei­se­schrift­stel­le­rei mag ih­re Be­rech­ti­gung ha­ben, aber ein Au­tor, der die­sen Na­men ver­dient, ist das Ge­gen­teil ei­nes Rei­se­lei­ters. Sei­ne Ver­bin­dun­gen sind kon­kret. Von hier nach dort, wo­bei vie­les, was da­zwi­schen liegt, au­ßer Acht blei­ben wird. Mut zur Lücke. Die Qua­li­tät ei­nes Net­zes er­weist sich in der Er­ha­ben­heit sei­ner Lücken. Der Verknüpfungs­künstler (vul­go net­wor­ker) kann sich da­bei von Lau­nen, vom Zu­fall, von der Lie­be, aber auch, war­um nicht, von ei­ner Me­tho­de oder Sy­ste­ma­tik lei­ten las­sen. Vorausge­setzt, die Sy­ste­ma­tik ver­zich­tet auf je­den to­ta­li­sie­ren­den An­spruch.

Die mi­gran­ti­sche Au­torin Ol­ga Mar­ty­n­o­va (oder ih­re Er­zäh­le­rin) ver­gleicht im Ro­man Mö­ri­kes Schlüs­sel­bein die U‑Bahn zwei­er ver­schie­de­ner Städ­te. »Die nüch­ter­ne New Yor­ker Sub­way äh­nel­te mit­nich­ten Fjo­dors Vor­stel­lung von ei­ner U‑Bahn. In Pe­ters­burg kannst du zwei oder drei oder gar vier Sei­ten in ei­nem Buch le­sen, bis dich die Roll­trep­pe nach un­ten zu den un­ter­ir­di­schen Kron­leuch­tern und Mo­sa­ik­wän­den ge­bracht hat. Hier machst du ein paar Schrit­te ei­ne ge­wöhn­li­che Trep­pe run­ter und bist be­reits in der un­spektakulären Un­ter­welt (so un­ter­schei­det sich wohl die rus­sisch-or­tho­do­xe Pracht­höl­le von dem de­zen­ten Pro­te­stan­ten­or­kus).« Beim Le­sen die­ser Sät­ze ha­be ich den Ver­gleich wei­ter­ge­spon­nen: Al­so gleicht die Pe­ters­bur­ger U‑Bahn eher der von Me­xi­ko-Stadt mit ih­ren un­end­lich lan­gen Ab­stän­den zwi­schen den Hal­te­stel­len, wo man wäh­rend ei­ner Fahrt gan­ze Ro­ma­ne aus­le­sen kann. Was na­tür­lich den Nach­teil hat, daß die näch­ste U‑Bahn­station, wenn man sie oben auf der Er­de sucht, oft sehr weit ent­fernt ist. Ganz im Gegen­satz zu Pa­ris, wo es fast an je­der Haus­ecke ei­nen U‑­Bahn-Ab­gang gibt, kur­ze Beschleu­nigungen, vie­le Brems­pha­sen, Strecken mit schar­fen Kur­ven und Aus­blicken auf Boots­häfen. Sol­che Ver­glei­che sind zu­fäl­lig, na­tür­lich von Bio­gra­phien be­stimmt (in de­nen der Zu­fall ei­ne gro­ße Rol­le spielt), es lie­ßen sich vie­le an­de­re Ver­glei­che hin­zu­fü­gen, auch Kon­trast­bil­der an­stel­le von Ähn­lich­kei­ten. In Bue­nos Ai­res ist mir ei­nes Ta­ges im ur­alten U‑­Bahn-Sy­stem der Stadt auf­ge­fal­len, daß die neue­ren Zü­ge aus Ja­pan stam­men und – wenn man sich all das Schmud­de­li­ge und Ka­put­te weg­dach­te – de­nen von Na­go­ya glei­chen. Nach­zu­le­sen ist der schrift­ge­wor­de­ne Ver­gleich in mei­nem be­reits er­wähn­ten Ro­man Er­in­ne­rung an das, was wir nicht wa­ren. Das Me­ta­pho­ri­sche, die Fest­stel­lung von Ähn­lich­kei­ten und der Aus­tausch von Po­si­tio­nen (Wör­tern, Din­gen), ist Teil der all­täg­li­chen Wahr­neh­mung des Au­tors und sei­ner Fi­gu­ren ge­wor­den. Das nen­ne ich poe­ti­sches, trans­ver­sa­l­äs­the­ti­sches Le­ben: in ei­nem fort am gro­ßen Zu­sam­men­hang we­ben (oh­ne Be­dürf­nis und Not­wen­dig­keit, zu to­ta­li­sie­ren). Mar­ty­n­o­va deu­tet so­gar ei­ne theo­re­ti­sche Un­ter­füt­te­rung an, die in die Rich­tung von Max We­bers Pro­te­stan­ti­scher Ethik weist.

An und für sich tun wir das al­le, wir ver­glei­chen pau­sen­los, ganz gleich, ob wir mehr oder we­ni­ger emp­fäng­lich sind für Poe­sie und Trans­ver­sa­li­tät. Wir ver­glei­chen, um zu ver­stehen. Wir sor­tie­ren Ähn­lich­kei­ten und Un­ter­schie­de. Die­ses Ver­hal­ten ist der Grund­gestus un­se­res Den­kens – und erst in zwei­ter Li­nie ein Auf­schwung zu den zwei­ten und drit­ten Ebe­nen des Me­ta­pho­ri­schen. Oder an­ders ge­sagt: Un­ser Den­ken ist selbst meta­phorisch; oh­ne den Ge­brauch von Me­ta­phern könn­ten wir über­haupt nicht den­ken und spre­chen. Ana­lo­gia en­tis ist un­se­re con­di­tio hu­ma­na. Durch die Bil­dung von Me­ta­phern ver­schie­ben und er­wei­tern wir den Sinn.

Ol­ga Mar­ty­n­o­va und vie­le an­de­re Au­toren, die im me­dia­len und uni­ver­si­tä­ren Dis­kurs der Mi­gran­ten­li­te­ra­tur zu­ge­rech­net wer­den, sind exo­phon. Selt­sa­mes Wort, »exo­phon«, des­sen Be­deu­tung sich ver­mut­lich dar­auf be­zieht, daß sich ein Spre­cher oder Schrei­ber au­ßer­halb sei­ner an­ge­stamm­ten Spra­che be­wegt, al­so in ei­ner Fremd­spra­che. Auf Au­toren be­zo­gen be­deu­tet es meist, daß er (oder sie) sich in sei­nen (ih­ren) Wer­ken nicht oder nicht nur der so­ge­nann­ten Mut­ter­spra­che, son­dern ei­ner an­de­ren Spra­che be­dient. Manch­mal fra­ge ich mich bei die­sem The­ma al­ler­dings, wie es um zwei­spra­chi­ge Men­schen be­stellt ist. Ein sol­cher Mensch müß­te, um ein exo­pho­ner Au­tor zu wer­den, in ei­ner drit­ten Spra­che schrei­ben. Der Be­griff »Exo­pho­nie« macht oh­ne die An­nah­me ei­ner per­sön­li­chen Ur­sprache kei­nen rech­ten Sinn. Ent­spricht die­se An­nah­me der von uns er­fah­re­nen Rea­li­tät? Ich den­ke, im we­sent­li­chen schon. Nur kann es auch hier nicht scha­den, die Aus­nah­men, Gren­zen und Über­gän­ge mit­zu­be­den­ken.

Ich bin kein exo­pho­ner Au­tor. Zwar ha­be ich vie­le Jah­re in fremd­spra­chi­gen Um­ge­bun­gen ver­bracht, aber nur sehr we­nig, ein paar klei­ne Es­says, in an­de­ren Spra­chen ge­schrie­ben. In Ja­pan ha­be ich kei­ne Chan­ce, schrei­bend in die Spra­che »mei­nes Lan­des« – denn der­zeit ist es mein Land – zu wech­seln. Trotz­dem kom­men in mei­nen Bü­chern seit ei­ni­gen Jah­ren auch ja­pa­ni­sche Sät­ze vor, und ich bin so­gar si­cher, daß manch ei­ne un­ge­wöhn­li­che deut­sche For­mu­lie­rung durch ei­nen ja­pa­ni­schen Hin­ter­grund­satz be­dingt ist – ein Phä­no­men, nach dem bei exo­pho­ner Li­te­ra­tur gern ge­sucht wird. Aber ich bin kein exo­pho­ner, son­dern ein po­ly­pho­ner, plu­ri­lin­gua­ler Schrei­ber. Es ge­fällt mir – und ich hof­fe, ich ge­fal­le mir nicht zu sehr dar­in -, auf meh­re­re Spra­chen zu­rück­zu­grei­fen, die ich ei­ni­ger­ma­ßen be­herr­sche, zu­mal ich seit Jahr­zehn­ten auch als li­te­ra­ri­scher Über­set­zer tä­tig bin und die Über­set­zun­gen auf mein ei­ge­nes Schrei­ben nicht ganz oh­ne Ein­fluß sind. Als plu­ri­lin­gua­ler Au­tor ha­be ich ei­nen be­rühm­ten Vor­läu­fer: Ja­mes Joy­ce. Joy­ce ha­be ich mit sech­zehn zu le­sen be­gon­nen, da­mals be­sorg­te ich mir den un­les­ba­ren, nein, les­ba­ren, aber kaum ver­ständ­li­chen Fin­ne­gans Wa­ke in der von An­tho­ny Bur­gess her­aus­ge­ge­be­nen und ge­kürz­ten Fas­sung. Joy­ce war nicht nur ge­lehrt und sprach­be­gabt, er war auch ein Mi­grant, leb­te in Tri­est, wo er Eng­lisch un­ter­rich­te­te, und in Pa­ris, ent­fal­te­te aber in sei­nem Haupt­werk, dem Ulysses, mit iri­schem (?) Starr­sinn Ge­schich­ten, die in Dub­lin, dem Ort sei­ner Her­kunft, spie­len. (Ne­ben­bei be­merkt: Ei­ne deutsch­spra­chi­gen Literatur­jury wür­de ihm heut­zu­ta­ge zu­flü­stern, er sol­le doch lie­ber über sei­ne Migrations­erfahrungen schrei­ben.)

Beim Schrei­ben, aber auch beim Spre­chen, kom­men mir nicht sel­ten Aus­drücke aus an­de­ren Spra­chen in den Sinn. Man­che Sach­ver­hal­te las­sen sich bes­ser auf spa­nisch oder ja­pa­nisch aus­drücken als auf deutsch. Ein Ok­to­pus heißt im Ge­spräch mit mei­ner Toch­ter nicht »Ok­to­pus«, son­dern ta­ko, und wenn et­was furcht­erre­gend ist, sa­gen wir ko­wai: »Der ta­ko da ist ko­wai!« Will ich den Zu­ruf gan­bat­te ku­da­sai! in ei­ne an­de­re Spra­che brin­gen, fällt mir auf An­hieb nichts Deut­sches oder Eng­li­sches, son­dern das ita­lie­ni­sche for­za, su! ein. In mei­nen Bü­chern fü­ge ich fast im­mer ei­ne deut­sche Über­set­zung hin­zu, wenn ich ei­nen fremd­spra­chi­gen Aus­druck ge­brau­che. Und zwar auf ei­ne Wei­se, daß die Wie­der­ho­lung un­merk­lich in den Text­fluß ein­geht, so daß ein Le­ser in vie­len Fäl­len nicht mer­ken wird, was vor sich geht. Es wi­der­strebt mir, mei­ne Ge­schich­te mit An­mer­kun­gen, Er­klä­run­gen, Glos­sen zu ver­se­hen. War­um ich dann über­haupt das Fremd­spra­chi­ge in mei­nen Tex­ten über­set­ze? Wahr­schein­lich spielt der vom kom­mer­zi­el­len Li­te­ra­tur­be­trieb aus­ge­hen­de Ver­ständ­lich­keits­druck ei­ne Rol­le. Hin­zu kommt aber, daß die­ses über­setzerische Hin-und-Her selbst ein schöp­fe­ri­sches Po­ten­ti­al ent­fal­tet und Teil des Spiels wird, das ich als Au­tor mit dem Le­ser spie­le. Joy­ce hat sich in sei­nen bei­den gro­ßen Ro­man­wer­ken nicht selbst über­setzt. Die­se Un­ter­las­sung, wenn es ei­ne ist, trägt zum änig­ma­ti­schen Cha­rak­ter sei­ner Tex­te bei. Joy­ce ist ein Son­der­fall, ein be­rühm­ter, weit­hin an­er­kann­ter Son­der­ling der Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Sei­ne Änig­ma­tik hat zahl­lo­se Ex­ege­ten und In­ter­pre­ten auf den Plan ge­ru­fen, die bis heu­te an Ulysses und Fin­ne­gans Wa­ke her­um­tüf­teln. Als ge­wöhn­li­cher Au­tor, der um ein biß­chen An­er­ken­nung zu kämp­fen hat (als Ar­bei­ter im Wein­berg der Li­te­ra­tur, wie ich mich gern se­he), kann man mit der Kon­sti­tu­ie­rung ei­ner sol­chen Fan­ge­mein­de nicht rech­nen. Den un­er­läß­li­chen Teil der Ex­ege­tik muß man selbst über­neh­men.

Ich bin kein gro­ßer Schrift­stel­ler, son­dern ein klei­ner. Wer gu­ten Wil­lens ist, kann mich so in ei­ne Rei­he mit Kaf­ka und den an­de­ren stel­len; je­ne Rei­he, die De­leu­ze und Guat­ta­ri im Au­ge hat­ten, als sie ihr Buch Für ei­ne klei­ne Li­te­ra­tur schrie­ben, das un­ter an­de­rem als trans­ver­sa­les Ma­ni­fest zu ver­ste­hen ist. »Un grand écri­vain écrit tou­jours dans une es­pè­ce de lan­gue étran­gè­re«, schrieb Mar­cel Proust, und jetzt wer­den Sie si­cher er­war­ten, daß ich die­sen Satz über­set­ze. Die Fremd­spra­che, die der gro­ße Au­tor, aber eben­so und viel­leicht noch mehr, weil er aus sei­nen Nö­ten ei­ne Tu­gend ma­chen muß, der klei­ne Au­tor ent­wickelt, in­dem er sei­ne Wer­ke schreibt, ist fremd und be­fremd­lich im Ver­hält­nis zur Norm­sprache, zur ge­wöhn­li­chen Spra­che, zu den Wör­tern und Sät­zen, die man im All­tag ge­braucht, oh­ne nach­zu­den­ken, oh­ne an ih­nen zu ar­bei­ten. Trotz­dem ver­birgt sich in der Spra­che, die­sem über­in­di­vi­du­el­len We­sen, be­reits ei­ne Fül­le an Kunst, an Schöp­fer­tum, Krea­ti­vi­tät, und der Au­tor, auch und ge­ra­de der exo­pho­ne Au­tor, der die ge­wöhn­li­che Spra­che als Fremd­spra­che hört, soll­te ihr ei­ne ge­stei­ger­te Auf­merk­sam­keit entgegen­bringen. Dann aber, wenn er sei­ne Ge­dich­te, Er­zäh­lun­gen, Dia­lo­ge schreibt, ba­stelt er an sei­ner ei­ge­nen Spra­che, und die­se ver­hält sich zum Deut­schen oder Ja­pa­ni­schen oder Spa­ni­schen des all­täg­li­chen Um­gangs wie ei­ne Fremd­spra­che – so je­den­falls mein­te Proust.

Mit Sev­gi Öz­da­mar und Ol­ga Mar­ty­n­o­va, de­ren Wer­ke ich recht gut kenn, ha­be ich, wie man so sagt, un­ter vier Au­gen ge­spro­chen. Na­tür­lich kön­nen sie sehr gut Deutsch, aber nicht per­fekt. Im spon­ta­nen Ge­spräch ma­chen sie Feh­ler, die ein Mut­ter­sprach­ler nicht ma­chen wür­de. Oder sie drücken sich ab und zu auf ei­ne Wei­se aus, die ein biß­chen selt­sam ist, a litt­le odd, wie die Bri­ten sa­gen. Zwei­fel­los ist ihr Deutsch viel bes­ser als das ei­nes durch­schnitt­li­chen deut­schen Spre­chers mit sei­nem be­schränk­ten Wort­schatz und ein­fallslosen Sprach­ge­brauch. Daß es sie et­was ko­stet, ein kor­rek­tes Deutsch zu spre­chen – que les cue­sta hab­lar –, ist ein An­sporn, sich in die­ser Spra­che schrift­lich aus­zu­drücken und sie durch Ver­frem­dun­gen (wie Brecht sa­gen wür­de) zu be­rei­chern. Die ge­stei­ger­te Auf­merk­sam­keit der Spra­che ge­gen­über ist für sie schon des­halb not­wen­dig, weil sie die Fremd­spra­che zu­nächst von au­ßen se­hen und viel­leicht nie voll­kom­men ver­in­ner­li­chen. Das ist ei­ne gro­ße Chan­ce, und viel­leicht liegt hier der we­sent­li­che Grund, war­um uns, die deut­sche Sprach­ge­mein­schaft, in den letz­ten Jah­ren so vie­le aus an­de­ren Sprach- und Kul­tur­zo­nen zu­ge­wan­der­te Au­toren mit zahl­rei­chen Wer­ken be­schenkt und in die in­no­va­ti­ons­mü­de Li­te­ra­tur­sze­ne ei­nen neu­en Schwung ge­bracht ha­ben. Der »autoch­thone« Au­tor deut­scher Mut­ter­zun­ge hat da­mit zu schaf­fen, sich von lebens­weltlichen, aber auch li­te­ra­ri­schen und li­te­ra­tur­be­trieb­li­chen Au­to­ma­tis­men zu be­frei­en, de­nen die exo­pho­nen Au­toren gar nicht erst an­heim­ge­fal­len sind.

Ich kann es nicht gut er­klä­ren, aber viel­leicht ver­hält es sich ein we­nig so wie im Fuß­ball, wo die sta­ti­sti­sche Wahr­schein­lich­keit, daß ei­ner ein gu­ter Kicker wird, bei ei­nem Jun­gen mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund grö­ßer ist als bei ei­nem selbst­zu­frie­den auf­wach­sen­den deut­schen Kna­ben. Trotz­dem gibt es im­mer noch, wird man mit Recht ein­wen­den, ne­ben den Özils, Ca­caus und Khe­di­ras die Göt­zes, Drax­lers und Mül­lers. Viel­leicht ist der deut­sche Fuß­ball nicht mehr ganz so deutsch wie zu Zei­ten des Wun­ders von Bern. Und ge­nau des­halb, im neu­en Kon­text des 21. Jahr­hun­derts, er­folg­reich.

© Leo­pold Fe­der­mair