Der Wald und die Bäu­me (VI)

Fu­nes, der Da­ten­spei­cher

Ei­ne Er­zäh­lung von Jor­ge Lu­is Bor­ges heißt Fu­nes el me­mo­rio­so; der Ti­tel läßt sich Wort für Wort nicht gut ins Deut­sche über­tra­gen. Statt sich mit dem Epi­the­ton des Ori­gi­nal­ti­tels her­um­zu­pla­gen, ha­ben die deut­schen Über­set­zer ein Wör­ter­paar als Ti­tel ge­wählt, das im vor­letz­ten Satz der Er­zäh­lung vor­kommt: Das un­er­bitt­li­che Ge­dächt­nis. Das er­staun­li­che, lei­stungs­star­ke, gren­zen­lo­se Ge­dächt­nis des Ire­neo Fu­nes ist für sei­nen Be­sit­zer schmerz­haft, es stellt ei­nen Fluch dar, der ihn hin­dert, ein nor­ma­les Le­ben zu füh­ren. Zu­ge­zo­gen hat er sich die­ses Ge­dächt­nis bei ei­nem Sturz vom Pferd, und es ist fast ein Glück, daß er seit­dem ge­lähmt ist. In die­sem Aspekt der Er­zäh­lung steckt ei­ne sym­bo­li­sche Aus­sa­ge, die mit Nietz­sches Ab­hand­lung gut ver­ein­bar ist: Ein hy­per­tro­phes Ge­dächt­nis lähmt den Kör­per; wer sich dau­ernd er­in­nert, kann nicht han­deln. Die Be­schrei­bun­gen, die uns Bor­ges gibt, sind über­zeu­gend, auch wenn es in der Wirk­lich­keit nie ei­nen Mann wie Fu­nes ge­ge­ben hat, noch ge­ben wird. Den­noch stellt sich die Fra­ge, ob das, was in Fu­nes’ Kopf ab­läuft, mensch­li­che Er­in­ne­run­gen sind. Ein per­fektes, un­be­grenzt lei­stungs­fä­hi­ges Ge­dächt­nis mag man un­mensch­lich oder übermensch­lich nen­nen, es gleich aber eher ei­ner Ma­schi­ne, in der die Da­ten stets so blei­ben, wie sie im Mo­ment ih­rer Auf­nah­me sind. Fu­nes, so könn­te man im 21. Jahr­hun­dert sa­gen, ist nichts an­de­res als ein Computer­speicher. Sei­ne Er­in­ne­run­gen sind lücken­los, und sie än­dern sich nicht, der Da­ten­hau­fen ver­mehrt sich bloß Tag für Tag und selbst in den Näch­ten, denn Fu­nes kann nicht rich­tig schla­fen (er er­in­nert sich an sämt­li­che Träu­me). Fu­nes selbst sagt, er füh­le sich wie ein Ab­fall­korb. Sei­ne Er­in­ne­run­gen sind Müll, zu nichts zu ge­brauchen, al­so sinn­los. Das­sel­be gilt für die Da­ten­un­men­gen im In­ter­net, wenn der Nut­zer die auf­ge­ru­fe­ne Se­rie der Da­ten, wie es die di­gi­ta­le Kul­tur na­he­legt, bloß kon­su­miert oder igno­riert. Fu­nes er­in­nert sich »nicht nur an je­des Blatt je­den Bau­mes in je­dem Wald, son­dern auch an je­des ein­zel­ne Mal, da er es ge­se­hen oder sich vor­ge­stellt hat­te.« Bor­ges’ Er­zäh­ler be­merkt zu dem Fall, der ihn fas­zi­niert und er­schüt­tert, der ge­dächt­nis­star­ke Fu­nes kön­ne ei­gent­lich nicht den­ken. Den­ken hei­ße, Un­ter­schie­de ver­ges­sen, verallge­meinern, ab­stra­hie­ren. Wird (oder macht sich) der Ein­zel­ne zur Gei­sel ei­nes un­er­bitt­li­chen Ge­dächt­nis­ses, ver­liert er die­se Fähig­keit: so könn­te die Leh­re die­ser ganz und gar nicht di­dak­ti­schen Er­zäh­lung lau­ten.

© Leo­pold Fe­der­mair

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  1. Den­ken be­deu­tet Un­ter­schie­de zu­erst nach ih­rer Re­le­vanz zu be­fra­gen, da­nach kann man ent­schei­den ob man sie über­geht oder nicht (tut man das nicht, legt man sich Vor- oder Pseu­dour­tei­le zu­recht).

    Com­pu­ter­sy­ste­me sind selbst­ver­ständ­lich feh­ler­an­fäl­lig, wes­we­gen Da­ten mehr­fach und re­gel­mä­ßig ge­si­chert wer­den, on­line, wie off­line (es gibt al­so auch ein di­gi­ta­les Ver­ges­sen und ich mei­ne – zu­falls­be­dingt – auch eben­sol­che Ver­än­de­run­gen).

    Die Un­ter­schie­de zu ei­ner klas­si­schen Bi­blio­thek lie­gen dann nur mehr in der Ord­nung, ei­ner ge­wis­sen Be­schrän­kung und den Zu­griffs­mög­lich­kei­ten (was sich mitt­ler­wei­le al­ler­dings än­dert): Ei­ne Na­tio­nal­bi­blio­thek et­wa häuft un­ter­schieds­los al­le Druckerzeug­nis­se ei­nes Lan­des an. Wie man die­sem Hau­fen dann be­geg­net: kon­su­mie­rend, den­kend, kre­ierend, liegt im in­di­vi­du­el­len Be­reich.